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Rezension / 26.09.2023

Isabela Mares: Protecting the ballot. How First-Wave Democracies ended electoral corruptions

Princeton, Princeton University Press 2022

Isabela Mares untersucht, wie es Frankreich, Deutschland, Belgien und Großbritannien zwischen 1850 und 1918 gelang, Wahlreformen einzuführen, die Wahlfälschungen reduzierten. Anhand parlamentarischer Debatten und namentlicher Abstimmungen zeigt sie, dass es neben einer demokratischen Grundüberzeugung vor allem wahltaktische Überlegungen sowie Ressourcen- und Machtfragen waren, die Abgeordnete dazu bewogen, Wahlrechtsreformen zu unterstützen. Damit wirft das Buch auch ein Licht auf die Möglichkeiten und Hindernisse, Wahlunregelmäßigkeiten in jungen Demokratien einzudämmen.

Warum sollten Politiker*innen, die durch Stimmenkauf, Wahlbetrug und andere unlautere Wahlpraktiken an die Macht gekommen sind, genau diese Praktiken verbannen? Man nimmt es in modernen, etablierten Demokratien heutzutage als gegeben hin, dass Wahlen nicht gekauft und Stimmzettel korrekt ausgezählt werden. Aber auch in Deutschland und anderen westlichen Demokratien mussten diese Regeln erst erdacht und später von Politikern auch umgesetzt werden. Isabela Mares[1], die bereits in früheren Werken wie „From open secrets to secret voting“ die Entwicklung moderner Wahlpraktiken untersucht hat, zeigt in „Protecting the Ballot“[2], wie es während der ersten Demokratisierungswelle in den Jahren 1850–1918 gelang, Wahlkorruption einzudämmen. Anhand der Entwicklungen in Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien zeigt sie auf, welche Formen von korrupter Wahlpraxis existiert haben (und zumeist auch weitverbreitet waren) und wie diese eingegrenzt und schrittweise beseitigt wurden.

Dabei schaut Mares sehr genau auf den einzelnen Abgeordneten und seine Rolle in den konkreten Reformprozessen. Ihre Leitfragen sind dabei: Wer unterstützte eine Reform, wer lehnte sie ab und was könnten mögliche Gründe dafür gewesen sein? Zunächst könnte man annehmen, dass es Politiker gab, die eine Reformagenda anstrebten und daher langsam Maßnahmen zur Begrenzung von Korruption durchsetzten. Mares zeigt eindrücklich, dass diese Annahme nur ein kleiner Teil einer deutlich umfassenderen Erklärung ist. Generell führte eine politische Anti-Korruptionsagenda zwar dazu, dass der einzelne Abgeordnete der Verschärfung des Wahlreglements zugeneigt war. Aber: Wer mit Verve für die Einhaltung des Wahlgeheimnisses eintrat ¬ – etwa durch die Einführung von Stimmzettelumschlägen und Wahlkabinen –, konnte sich zugleich vehement gegen Reformen zur Unterbindung von Ergebnisfälschungen aussprechen. Ein gewichtiger Faktor in diesem Kontext ist, ob und in welcher Form ein Abgeordneter über einen Ressourcenvorsprung verfügte. So hatten beispielsweise die französischen Monarchisten die finanziellen Mittel, um Stimmen zu kaufen, konnten aber nicht auf staatliche Ressourcen wie etwa eine Kandidaturempfehlung (wie in Frankreich die candidature officielle) durch die Regierung zurückgreifen. Weiter führt Mares aus, dass die Parlamentarier dabei auch Abwägungsentscheidungen zwischen den Kosten und dem Nutzen bestimmter Praktiken treffen mussten. So sei es in Großbritannien im Zuge der Ausweitung des Wahlrechts selbst für finanziell gut ausgestattete Personen schlichtweg zu teuer geworden, im nennenswerten Umfang Stimmen zu kaufen. In Frankreich und Deutschland war darüber hinaus zu beobachten, dass die Erosion der herrschenden Mehrheiten – im Deutschen Reich die sogenannten Kartellparteien – den Weg für Reformen ebnete. Mit dem Zerbrechen dieser Koalition war es nicht mehr selbstverständlich, dass sich konservative und liberal-konservative Kandidaten im zweiten Wahlgang in ihren jeweiligen Wahlkreisen gegenseitig unterstützten, wenn sich einer der Kandidaten im ersten Wahlgang unlauterer Praktiken bedient hatte. Mares zeigt damit in hervorragender Weise, wie vielfältig die Abwägungen des einzelnen Abgeordneten waren, wenn er vor der Frage stand, ob er die Wahlrechtsreform befürworten oder ablehnen sollte.

Mares unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Wahlbetrug, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt (vor oder während des Wahltags) dieser stattfindet und ob für die Art des Betrugs öffentliche oder private Mittel erforderlich sind. Auf Basis dieser Unterscheidung klassifiziert sie die folgenden vier Typen elektoralen Betrugs: Stimmenkauf, staatliche Interventionen (etwa Repressionen oder Wahlgeschenke), Eingriffe in das Wahlgeheimnis und zuletzt Ergebnisfälschung, die zugleich das Buch strukturieren (Kapitel 3-6). Stets wird anhand berichteter und belegter Fälle aufgezeigt, welche Irregularitäten existierten, wie sie in der Praxis aussahen, welche Reformansätze es in den jeweiligen Ländern gab und welche Mehrheiten sie unterstützt beziehungsweise behindert haben. Dabei werden nicht immer alle vier Länder behandelt, teils mangels entsprechender Daten, teils mangels Reformen. Insbesondere Deutschland und Frankreich stehen jedoch im Fokus der Analyse.

Zuletzt ist Mares‘ Ausblick im letzten Kapitel hervorzuheben. Sie macht eindrucksvoll deutlich, welche Konsequenzen aus ihren historischen Untersuchungen für heutige Demokratien im Transitionsprozess zu ziehen sind. Diese Schlussfolgerungen sind durchaus kontrovers, laden daher aber umso mehr zur Diskussion ein. So folgert Mares am Beispiel des Stimmenkaufs im Deutschen Reich, dass eine zu harsche Bestrafung eines bestimmten Wahlvergehens leicht durch alternative Formen substituiert werden kann. Statt selbst Stimmen zu kaufen, bedienten sich die Abgeordnete privater oder staatlicher intermediärer Akteure, um Druck auf die Wähler auszuüben. Dem müsse durch eine gleichmäßige, nicht zu rigide Bestrafung mehrerer substituierbarer Wahlvergehen begegnet werden. Außerdem sollten Koalitionen für Reformen auch mit Mitgliedern von Parteien geschmiedet werden, die von Wahlmanipulationen eigentlich profitieren. Ob man diesen Thesen von Isabela Mares zustimmt oder nicht, lässt sich anhand von „Protecting the ballot“ vortrefflich diskutieren.


Anmerkungen:

[1] https://isabelamares.com/ (zuletzt geprüft: 18.8.2023)

[2] Mares, Isabela (2015): From Open Secrets to Secret Voting: Democratic Electoral Reforms and Voter Autonomy. Cambridge, Cambridge University Press.

 

CC-BY-NC-SA
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