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Rezension / 18.01.2024

Martin Fuchs, Martin Motzkau: Digitale Wahlkämpfe. Politische Kommunikation in der Bundestagswahl 2021

Wiesbaden, VS Springer Verlag 2023

Der Sammelband behandelt die digitalen Wahlkämpfe im Bundestagswahljahr 2021. Die Beitragsautor*innen beleuchten erfolgreiche Kampagnen, Parteien und Kandidat*innen, die von digitaler Kommunikation profitierten und analysieren hierzu Plattformen, Formate, Strategien und das Kommunikationsverhalten der Parteien im Bundestagswahlkampf: Phänomene wie Twitter-Kommunikation, Data-Driven Campaigning, Nudging, Hate Speech und Memes wurden dabei (zumeist empirisch) untersucht. Den Beiträgen gelinge es so, mittels zentraler Ergebnisse Impulse für die weitere Forschung zu setzen, lobt unser Rezensent.

Fast zweieinhalb Jahre ist die jüngste Bundestagswahl im September 2021 nun her, und inzwischen sind eine Reihe von mehr oder weniger umfangreichen Werken zu besagter Wahl erschienen. Karl-Rudolf Korte etwa hat einen voluminösen Band zu unterschiedlichsten Aspekten der Wahl-, Parteien- Kommunikations- und Regierungsforschung herausgegeben, Christina Holtz-Bacha hat wie bei früheren Wahlen auch ihren Sammelband über „Die Massenmedien im Wahlkampf 2021“ herausgegeben und Uwe Jun und Oskar Niedermayer richten als Herausgeber eines einschlägigen Bandes unter dem Titel „Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021“ ihren Blick auf die Entwicklung der einzelnen Parteien wie des Parteiensystems insgesamt. Sehr gelegen kommt ein neues, von Martin Fuchs und Martin Motzkau herausgegebenes Werk, das einen gleichermaßen interessanten wie relevanten Teilbereich der vergangenen Bundestagswahl aufgreift, nämlich den digitalen Wahlkampf. Fuchs ist laut eigener Internetseite „Politikberater, Blogger, Speaker“ und durch zahlreiche Medienbeiträge als Wahlkampfexperte bekannt, Motzkau arbeitet als Redakteur für Digitales in der multimedialen Chefredaktion des Südwestrundfunks. Eingangs betonen die Herausgeber, dass sich bei all den nahezu täglichen Aufgeregtheiten des damaligen Wahlkampfes der Blick auf diesen Gegenstand mit ausreichender zeitlicher Distanz empfiehlt. Aus heutiger Sicht werden mit entsprechend großem Abstand zum Gegenstand tatsächlich die grundlegenden, systematischen Bestimmungsfaktoren des damaligen Wahlkampfs bzw. der damaligen Wahl schärfer wahrnehmbar. Entstanden ist mit dem vorliegenden Band ein facettenreiches Werk, das nahezu alle denkbaren digitalen Aspekte der Bundestagswahl von 2021 berücksichtigt.

„Wahlkämpfe sind wie Tunnel“ (1)schreiben Fuchs und Motzkau eingangs: Kandidat*innen, Wahlkämpfende, Analyst*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen würden sich dann eher auf ihre Themen, Ziele, Prozente, aktuelle Ereignisse und Dynamiken beschränken, da eben jener ‚Tunnelblick‘ ihnen dann zur Konzentration auf das Wesentliche verhelfe. Das vorliegende Buch bietet konsequenterweise einen Tunnelblick auf vielfältige relevante Gegenstände der Bundestagswahl von 2021 – einer ganz besonderen Wahl, wie die beiden Herausgeber betonen, denn es war der „dynamischste Wahlkampf aller Zeiten“ (1). Und sie ergänzen: „Mediale Hypes, politische Skandale und sich täglich verändernde Umfragewerte führten zu einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit und somit zu noch mehr Druck sich auf das täglich relevante bzw. sogar stündlich Aktuelle zu konzentrieren, bei allen Beteiligten – und das obwohl die Ausgangssituation und das Kandidat*innen-Plateau im Vorfeld nicht unbedingt Spannung und Dramatik erwarten ließen“ (1).

Deutlich werde anhand des 2021er Wahlkampfes laut Fuchs und Motzkau auch, dass konkrete (gelungene) Kampagnen einen Unterschied machen können, denn so viel Bewegung in der öffentlichen Bewertung sowie in den Meinungsumfragen wie bei der Wahl 2021 war selten gegeben: „Die Wochen bis zum 27. September 2021 zeigten auf, wie wichtig eine gute Kampagne ist und wieviel man mit einer schlechten Kampagne verlieren kann“ (1 f.). Was eine gute Kampagne ausmacht, welche Parteien und Kandidierenden von den Möglichkeiten digitaler Wahlkämpfe im Jahre 2021 stärker profitiert haben als andere, wird in den folgenden Beiträgen eindrucksvoll deutlich.

Der Band ist in drei große Teile untergliedert: Im ersten Abschnitt geht es um Parteien, Kandidat*innen und andere Akteure; im zweiten Teil stehen Plattformen, Formate und Strategien im Mittelpunkt. Im dritten und finalen Teil schließlich wird sich auf Sprache und digitale Kommunikation fokussiert. Aus Platzgründen sollen die einzelnen Beiträge nachfolgend lediglich angerissen werden, um die gleichermaßen ungewöhnliche wie erfreuliche thematische Vielfalt des Bandes vor Augen zu führen.
Im ersten Kapitel Parteien, Kandidat*innen und andere Akteure legen zunächst L. Constantin Wurthmann und Daniel C. Hagemann eine Inhaltsanalyse für die Twitter-Kommunikation der im Bundestag vertretenen Parteien vor und zeigen unter anderem, dass der Wahlkampf im Jahre 2021 doch stärker von politischen Inhalten dominiert war, als von vielen Beobachter*innen attestiert – jedenfalls auf Twitter. Bemerkenswert ist an ihrer Untersuchung das Ergebnis, dass die CSU in ihren Twitter-Beiträgen deutlich weniger auf Personen rekurriert hat als andere Parteien, dabei stellte man gemeinsam mit der CDU mit Armin Laschet einen eigenen Kanzlerkandidaten. Anschließend vergleichen Jan-Hinrik Schmidt. Philipp Kessling, Fred Nasser, Clara Linnekugel und Jasmina Moradi die Social-Media-Aktivitäten aller Bundestagskandidat*innen aus den Jahren 2017 mit 2021 und geben eine Antwort auf die Frage, wie digital der Wahlkampf 2021 auf Kandidat*innenseite wirklich war. Ob sich – und wenn ja: wie stark? – das digitale Kommunikationsverhalten deutscher Parteien sowohl in der Pandemie als auch im von Covid-19 gezeichneten Bundestagswahlkampf unterscheidet, untersuchen Matthias Degen und Max Olgemöller. Die beiden Autoren können klare Unterschiede zwischen moderaten und populistischen Parteien identifizieren. Abschließend gibt Amelie Duckwitz einen breiten Einblick in die Aktivitäten von so genannten Influencer*innen im Wahlkampf und bewertet deren Relevanz für die Meinungsbildung sowie den Wahlausgang.

Im zweiten Kapitel mit der Überschrift Plattformen, Formate und Strategien stehen Beiträge zu Technologien und Konzepten hinter den Kampagnen im Fokus. Bendix Hügelmann hat die Kommunikation in Bezug auf Jung- und Erstwähler*innen näher untersucht und dabei insbesondere den Einfluss von Social Media auf deren Wahlentscheidung in den Blick genommen. Für die Zukunft der politischen Kommunikation prognostiziert er, dass der Anteil von Social Media an der Herausbildung langfristig stabiler Deutungsmuster weiter zunehmen werde. Das Format von E-Mail-Newslettern im digitalen Kommunikationsmix der Parteien betrachten André Haller, Simon Kruschinski, Jay Günther, Sven Michelberger, Maik Uhlich und Lena Thoß genauer.
Viel wurde in den vergangenen Jahren über “Data driven Campaigning“ diskutiert. Raoul V. Kübler und Kai Manke fragen in ihrem Beitrag danach, wie Einfluss gemessen werden kann und wie daraus effizientere Kampagnen entwickelt werden können. Mit dem hochspannenden Phänomen des „Nudging“, auch und gerade mit Blick auf die Bundestagswahl von 2021, beschäftigen sich Michael Johann und Jana Dombrowski. Im Weißen Haus unter Barack Obama sowie im Büro des britischen Premierministers David Cameron sind bereits vor einigen Jahren entsprechende Stäbe eingerichtet worden, deren Mitarbeiter*innen „Nudges“ im Sinne verbesserter politischer Steuerung entwickeln sollten. Unter „Nudging“ versteht man die Instrumentalisierung kleiner Veränderungen in der Struktur einer Entscheidungssituation (sogenannter Nudges), die dazu führen, dass Individuen ihr Verhalten und ihre Entscheidungen auf vorhersehbare Art und Weise verändern. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Verhaltensökonomik und wurde vor allem durch die Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und Cass Sunstein thematisiert. Ab dem Jahr 2014 versuchte auch das Bundeskanzleramt, Verhaltensökonomen*innen für eine Arbeitsgruppe „Wirksam regieren“ zu gewinnen. Höchst interessant ist, was die beiden Autoren mit Blick auf „Nudges“ für den Wahlkampf 2021 herausgefunden haben: „Die Beispiele aus dem digitalen Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021 unterstreichen, dass die Grenzen zwischen Online- und Offline-Verhalten aber auch zwischen (politischer) Kommunikation, Persuasion, Manipulation und Nudging fließend sind… Wo genau die Grenzen zwischen Verdecktheit und Transparenz, zwischen prosozialer Intention und Manipulation liegt, bleibt letztendlich jedoch eine Herausforderung, der sich Forschung und Praxis stellen müssen“ (159). Am Ende thematisieren die Autoren auch die ethische Dimension der Verwendung von Nudges innerhalb der politischen Kommunikation. Zum Abschluss dieses zweiten Teils des Bandes blicken Philipp Kessling, Felix V. Münch und Gregor Wiedemann auf gelöschte Tweets im Bundestagswahlkampf 2021.

Der dritte und zugleich abschließende Teil des Buches ist mit Sprache und digitale Kommunikation betitelt und ist nicht zuletzt geprägt von Beiträgen von Beobachter*innen aus der Wahlkampfpraxis, beginnend mit Nicole Diekmann (ZDF), die sich mit „Hate Speech“ als Spielart der politischen Kommunikation auseinandergesetzt hat. Ihr Fokus liegt dabei auf der digital gesteuerten Kampagne gegen die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock.
Mit dem gleichen Thema, aber aus einer stärker wissenschaftlichen Perspektive heraus, setzen sich Liriam Sponholz, Anna-Maria Meuth und Mirjam Weiberg-Salzmann auseinander, die mit einer umfassenden Datenerhebung untersuchen, auf welchen Seiten und in welcher Form „Hate Speech“ im Bundestagswahlkampf 2021 auf Facebook vorkam. Das „Buzzword der politischen Kommunikation“ (Fuchs/Motzkau) lautet dieser Tage „Narrativ“. Auch im Bundestagswahlkampf war es sehr präsent. Eric Wallis wendet sich daher in seinem Beitrag dem konkreten Beispiel der Flut im Ahrtal zu, um einen Überblick über die genutzten narrativen Muster und Frames im Rahmen der Flutkatastrophe während des Wahlkampfs zu geben und die Frage zu beantworten: Wurde die Flut zu einer klimapolitischen Erzählung mit entsprechenden Wirkungen auf die Bundestagswahl?

Memes sind mittlerweile als fester Bestandteil politischer Kommunikation etabliert. Dirk von Gehlen (Süddeutsche Zeitung) sieht in ihnen spätestens seit dem vergangenen Bundestagswahlkampf ein bestimmendes Muster politischer Kommunikation auch für Wahlkämpfe. Durch den Einsatz verändert sich ihm zufolge auch die Debattenkultur. Zum gleichen Thema hat von Gehlen vor einiger Zeit im Wagenbach-Verlag bereits eine kleine Publikation vorgelegt. Gesetzliche Regelungen für den digitalen Wahlkampf bilden in Deutschland bislang eine Leerstelle, aber die Herausforderung eines fairen Wahlkampfs ist mittlerweile für die Parteien zu einer großen Herausforderung geworden. So hatten im Wahlkampf 2021 gleich mehrere große deutsche Parteien Selbstverpflichtungen für eine faire digitale Kommunikation postuliert. Wie und warum es zu den Selbstverpflichtungen gekommen ist, welche Inhalte sie berücksichtigten und die Frage, ob sie ihre ursprünglichen Ziele erreichen konnten, thematisiert Julian Jaursch im finalen Beitrag des vorliegenden Bandes.

Die Einleitung des Bandes ist leider sehr knapp ausgefallen, hier hätten die wichtigsten Bestimmungsfaktoren von digitalen Wahlkämpfen im Allgemeinen sowie die Besonderheiten der Bundestagswahl 2021 im Speziellen vertieft werden können. Diese werden jedoch eingangs nur angerissen, hätten aber Anknüpfungsmöglichkeiten an viele der im weiteren Verlauf der Lektüre präsentierten Beiträge bieten können. Außerdem macht sich das Fehlen eines richtigen Fazits bemerkbar, das die zentralen Bestimmungsfaktoren der einzelnen Untersuchungen miteinander hätte verbinden können. Dem Buch kommt aber zugute, dass die einzelnen Beiträge nicht nur empirische Befunde aus dem vergangenen Bundestagswahlkampf präsentieren und so manche der in der Einleitung erwähnten „weißen Flecken“ (2) an Forschungslücken füllen können, sondern auch die möglichen Konturen zukünftiger Forschungs/index.php?option=com_content&view=article&id=41317 rund um digitale Wahlkämpfe umreißen. Damit weisen die einzelnen hier versammelten Beiträge mit ihren jeweils zentralen Ergebnissen deutlich über den vorliegenden Sammelband hinaus. Der Band profitiert zudem in inhaltlicher Sicht von der breiten Autoren*innenauswahl: neben Politikwissenschaftlern*innen finden sich eine ganze Reihe von Journalisten*innen, die einen stärker praktischen, oft: stärker pragmatischen, Blick auf ihr Thema haben.

Mit diesem Band sowie den eingangs erwähnten Büchern zur Bundestagswahl 2021 können die meisten aus Sicht der Wahlkampfforschung relevanten und interessanten Themen als breit und ausführlich untersucht gelten. Und wer zentrale Befunde aus diesen Büchern selbst anhand eines neuen Fallbeispiels in der Praxis untersuchen möchte, der oder dem sei gesagt, dass die nächste Bundestagswahl spätestens im September 2025 bevorsteht.

 

CC-BY-NC-SA
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