Martin Morlok / Thomas Poguntke / Ewgenij Sokolov: Parteienstaat - Parteiendemokratie
Mit diesem Tagungsband wird aus politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive eine Vielzahl an Themen der Parteienforschung beleuchtet. Neben generellen Einschätzungen zur Rolle der Partei im politischen Gesamtgefüge und der Möglichkeit, mit einer Ausweitung direktdemokratischer Elemente Partei und Volk wieder stärker zu verkoppeln, geht es um konkrete Einzelfragen. Dazu zählen beispielsweise die Trennung von Partei und Fraktion, die Bedeutung des freien Mandats und die Rolle der Urwahl für die innerparteiliche Demokratie. Auch wird auf die politische Praxis der Piratenpartei zurückgeblickt.
Weder Regierungen noch Parlamente und schon gar nicht Parteien befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens, so Norbert Lammert in seiner Festrede zum Anlass des 25-jährigen Bestehens des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) im Jahr 2016 (155). Und dennoch, so führt er weiter aus, sind sie nach wie vor als Interessenvermittler zwischen Gesellschaft und Politik nicht zu ersetzen. Anlässlich dieses Jubiläums und des Themenkomplexes der Bedeutung der Partei in der modernen Demokratie ist der Tagungsband „Parteienstaat – Parteiendemokratie“ auf Grundlage der Beiträge von acht Politik- und Rechtswissenschaftler*innen auf eben jenem Symposium entstanden.
Mit der Rolle der Parteien im politischen Gesamtgefüge beschäftigen sich Hans Herbert von Arnim und Werner J. Patzelt. Von Arnim betrachtet die negativ behafteten Begriffe Parteienstaat und Parteiendemokratie und die Frage, welche Elemente den Parteienstaat, also die Herrschaft der Parteien, möglich machen und stärken. Das Verhältniswahlrecht, die Parteienfinanzierung, die föderale Grundordnung sowie das Prinzip der Ämterpatronage bestärken seinen Ausführungen zufolge das „Regime“ (12) der Parteien. Von Arnims Prognose und gleichzeitig Bestandsaufnahme lautet: Das ursprünglich wettbewerblich organisierte Parteiensystem geht in ein sogenanntes Kartellparteiensystem über. Sehr holzschnittartig werden dann Auswege skizziert. Die Einführung der relativen Mehrheitswahl, einer Präsidialdemokratie sowie die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene sind selbst dem Autor zu weitgehend und überzeugen in ihrer Erklärungskraft kaum. Von Arnim kommt zu dem Schluss, dass nur mehr Elemente der direkten Demokratie die vom Volk entkoppelten Parteien wieder zwingen würden, den Kontakt zur Bevölkerung zu suchen.
Die Lösungen, die Werner J. Patzelt anbringt, um die mangelnde Vernetzung zwischen Parteien und Bürgern zu überwinden, sind in etwa dieselben, die auch von Arnim vorschlägt: Vorwahlen und direktdemokratische Elemente – bei Patzelt konkret als gesetzesaufhebende Referenden. Seine Problemanalyse ist gleichwohl zunächst eine andere. Für ihn haben Parteien in Deutschland einen schlechten Ruf, wohingegen vermeintlich überparteiliche Institutionen ein beträchtliches Ansehen genießen. Patzelt erkennt darin eine Tendenz zum obrigkeitshörigen Staatsverständnis, in dessen Konzept Parteien eher ein leidiges Übel denn eine Bereicherung der Demokratie darstellen. Zugleich sinkt die Zahl der Parteimitglieder sowie die Identifikation der Wähler mit den Parteien beständig. „Letztlich schreiten die Parteien immer mehr wie hochbeinige Insekten über unsere Gesellschaft hinweg“ (29), umschreibt Patzelt diesen Umstand. Jenseits dieser generellen Befunde identifiziert er eine Repräsentationslücke bei den Themen Migration und Euro-Rettung, die zuletzt durch die AfD besetzt wurde. Dabei ist nach Patzelt die Nutzung derartiger Repräsentationslücken durch neue Parteien zumindest dem Zustand der Nicht-Repräsentation bestimmter Teile der Bevölkerung und deren Entfremdung von der Demokratie vorzuziehen.
Sophie Schönberger und Hans Hugo Klein untersuchen mit jeweils sehr spezifischen Fragestellungen, was die Partei denn sei. Schönberger betrachtet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, juristisch klar zwischen Fraktion und Partei zu trennen. Hier bietet ihre juristische Betrachtungsweise für die Politikwissenschaft neue Einblicke, da eine Trennung aus rechtswissenschaftlicher Perspektive leichter auszumachen ist, als dies politikwissenschaftlich ohne Weiteres möglich wäre. Dazu analysiert sie zwei Konfliktzonen, in denen die Vermischung von Fraktion und Partei problematisch wird: Geld und Aufmerksamkeit. Wird durch finanzielle Mittel der Parlamentsfraktionen die Querfinanzierung der Parteien betrieben oder werden Fraktionswerbemittel für Parteizwecke verwendet, liegt eine Übertretung der abgetrennten Sphären Parlament und Fraktion auf der Hand. Indes fehlt es aber an Kontrollinstanzen. Schönbergers Fazit: Die Trennung zwischen Parlament und Fraktion ist möglich, aber in Fällen, in denen diese Trennung praktisch überschritten wird, nur sehr schwer sanktionier- und damit auch durchsetzbar.
Während Schönberger damit das Konfliktfeld zwischen Partei und Fraktion bearbeitet, beschäftigt sich Hans Hugo Klein mit der Möglichkeit des freien Mandats. Dieses schützt den einzelnen Abgeordneten davor, rechtlichen Bindungen bei der Ausübung seines Mandats zu unterliegen. Gleichzeitig konstatiert Klein richtigerweise, dass es dennoch faktische, tatsächliche Bindungen gibt, die arbeitsteilige Parlamentsarbeit erst ermöglichen. In Anbetracht der dennoch überwiegenden Feststellung, dass Fraktionen oftmals einheitlich abstimmen, stellt Klein die hochgradig spannende Frage, was verloren ginge, gäbe es das freie Mandat nicht. Seine Antwort ist dahingehend klar: Ohne das freie Mandat ginge ein gutes Stück innerfraktioneller und innerparteilicher Demokratie verloren sowie ein Teil der Fähigkeit des Deutschen Bundestages als Ganzem, sich auch außerhalb von Wahlen der Bevölkerung gegenüber responsiv zu verhalten.
Inwiefern Parteien die ihnen übertragenen Funktionen ausführen und vor allem inwiefern dies juristisch überprüfbar ist, untersucht Julian Krüper. Er unterscheidet zwischen der Wahlvorbereitungs-, Transmissions- und Integrationsfunktion. Wenig überraschend muss er aufgrund der Dynamik des politischen Prozesses feststellen, dass eine juristische Prüfung der Funktionserfüllung durch Parteien aufgrund der Vagheit ihrer Aufgaben nicht möglich ist.
Einen ungewöhnlichen Blick auf die innerparteiliche Demokratie wirft Sebastian Roßner im Hinblick auf Parteiausschlussverfahren. Parteiausschlüsse sind in diesem Zusammenhang ein lohnenswerter Aspekt, da sich dort die Macht der Parteiführung gegenüber einem einzelnen Mitglied äußert. Gleichzeitig sichert die Ordnungsmaßnahme unter Androhung des Ausschlusses die Möglichkeit der innerparteilichen Gleichheit. Roßner stellt sich gegen den oftmals unternommenen simplifizierenden Vergleich zur staatlichen Demokratie, nicht zuletzt mit dem Verweis auf das Recht der Partei auf Tendenzreinheit, also den Anspruch, bestimmte Positionen einheitlich zu vertreten oder nicht zu vertreten. Vor diesem Hintergrund stellt Roßner ein aktuelles Urteil des Kammergerichts Berlin dar, das einen Ausschluss aufgehoben hatte. Seiner Ansicht nach verkennt das Kammergericht bei seiner Entscheidung mehrere praktische Aspekte der innerparteilichen Demokratie, unter anderem, indem es das Gleichbehandlungsgebot überinterpretiert. Darüber hinaus gelte aber für innerparteiliche Demokratie sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Dimension, die den direkten Fallvergleich erschweren.
Ebenfalls im Themenbereich der innerparteilichen Demokratie stellt Klaus Detterbeck Überlegungen zur Bedeutung des Instruments der Urwahl an. Dabei gebe es zwei Möglichkeiten, Urwahlen zu werten: Erstens als Instrument, das den immer partizipationswilligeren Mitgliedern entgegenkommt und somit schlichtweg zeitgemäß ist, oder zweitens als Instrument der Parteiführung, in nahezu cäsarischer Manier die mittleren Parteieliten im Entscheidungsprozess zu umgehen und Entscheidungen in den Mantel des Parteiwillens zu kleiden. Auf Grundlage der Daten von Pilet und Cross, die in 13 Ländern Auswahlprozesse für Parteiführungen untersuchten, kommt Detterbeck zu aufschlussreichen Befunden, die jedoch weder die eine noch die andere These letztlich belegen.
Zuletzt beschäftigt sich Oskar Niedermayer mit der schon fast in Vergessenheit geratenen Piratenpartei, die mit dem Versprechen aufgebrochen war, Politik anders zu gestalten als andere Parteien. Ein großer Teil dessen war ihr Gebot der unbedingten Basisanbindung jedweder politischen Entscheidung und Äußerung. Niedermayer macht dabei klar, dass er diesen Ansatz für ambitioniert und dabei keineswegs für neu hält. Auch die angewandten Mittel des Liquid Feedback konnten die soziale Exklusion und Separation einer partizipationswilligen Elite nicht unterbinden, die auch die Politik anderer Parteien bestimmt. Niedermayer stellt abschließend fest: „Die neuen institutionellen Arrangements konnten somit die alten empirischen Funktionsprobleme innerparteilicher Demokratie nicht beseitigen. In den neuen Schläuchen fließt immer noch der alte Wein.“ (153)
In dem Tagungsband wird eine Vielzahl an Einzel/index.php?option=com_content&view=article&id=41317 aus dem Bereich der Parteienforschung aufgegriffen und in unterschiedlich langer und aufschlussreicher Detailtiefe beleuchtet. Der interdisziplinäre Ansatz verfängt leider kaum, da die Anknüpfungspunkte zwischen der rechts- und politikwissenschaftlichen Diskussion in den schriftlichen Beiträgen selten zum Ausdruck kommen. Dennoch ist der Band aufgrund der Themenvielfalt und des Einblicks in die Forschungsfelder der jeweils anderen Disziplin durchaus lesenswert.
Repräsentation und Parlamentarismus
Aus der Forschung
Elmar Wiesendahl / Benjamin Höhne / Malte Cordes
Mitgliederparteien – Niedergang ohne Ende?
Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl) 2/2018: 304-324
Die rückläufige Entwicklung der Mitgliederzahlen politischer Parteien in Europa lässt vermuten, dass sie in Zukunft als Mitgliederorganisationen verschwinden werden. Dieser Sicht steht die Normalisierungsthese entgegen, also das Überleben der Mitgliederparteien auf niedrigem Niveau. Doch inwieweit ist mit dem Verschwinden oder der Normalisierung der Parteien in Deutschland zu rechnen? Die Autoren stellen die Ergebnisse ihrer Forschung zur zukünftigen Mitgliederentwicklung der Parteien vor. Siehe hierzu außderdem:
Benjamin Höhne: Mut zum Experiment, Süddeutsche Zeitung (Außenansicht), 8. Juli 2018
Hanno Burmester / Philipp Sälhoff / Marie Wachinger
Die Partei 2025. Impulse für zukunftsfähige politische Parteien
Das Progressive Zentrum e. V., September 2015
Mit diesem Ideenpapier werden Vorschläge für Parteireformen präsentiert. Im Mittelpunkt steht die organisatorische Ausgestaltung der Parteien. Die Studie ist aus dem Projekt „Legitimation und Selbstwirksamkeit: Zukunftsimpulse für die Parteiendemokratie“ hervorgegangen, das gemeinsam von der Heinrich-Böll-Stiftung, der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Progressiven Zentrum durchgeführt wurde.
Sammelrezension
Zwischen normativem Anspruch und politischer Realität. Die Verfahren der direkten Demokratie auf dem Prüfstand
Können Verfahren der direkten Demokratie eine höhere demokratische Dignität für sich beanspruchen als die der repräsentativen Demokratie? Aktuell erhält diese Frage jenseits der politischen Theorie ein besonderes Gewicht, weil zu ihren Befürwortern nicht nur Parteien links der Mitte zählen. Damit liegt die Vermutung nahe, dass es bei den einschlägigen Debatten nicht allein um die Begründbarkeit strittiger institutioneller Regelungen geht. Aber für jenen Bereich des Streites, der für empirisch gestützte Argumente zugänglich ist, liegen zwei neuere Publikationen vor, die die Lektüre lohnen.
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Aus der Annotierten Bibliografie
zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation
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