Hannes Bahrmann: Venezuela. Die gescheiterte Revolution
Über zwei Millionen Menschen sind bereits aus Venezuela geflohen – aus politischen Gründen, aber auch, weil sie hungerten oder medizinisch nicht mehr versorgt wurden. Es ist die ernüchternde Bilanz eines Regimes, das auf der Basis des Erdöl-Reichtums einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufbauen wollte. Tatsächlich aber ließ „eine Gruppe aus ehemaligen Militärs, Guerrilleros und linken Politikern eines der reichsten Länder in zwei Jahrzehnten verarmen“ und ruinierte es schließlich. Hannes Bahrmann zeichnet den Weg in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Abgrund nach.
111.272 Menschen sind allein 2017 aus Venezuela geflohen1 – aus politischen Gründen, aber auch, weil sie hungerten oder medizinisch nicht mehr versorgt wurden. Es ist die ernüchternde Bilanz eines Regimes, das auf der Basis des Erdöl-Reichtums einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (17) aufbauen wollte. Tatsächlich aber ließ „eine Gruppe aus ehemaligen Militärs, Guerrilleros und linken Politikern“, wie Hannes Bahrmann nachzeichnet, „eines der reichsten Länder in zwei Jahrzehnten verarmen“ (228) und ruinierte es schließlich. Seine Analyse zeigt nicht nur die Entscheidungen, die in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Abgrund geführt haben, sondern ist auch als (wiederholte) Warnung davor zu lesen, in wie wenigen Schritten demokratische Kontrollinstanzen entmachtet werden können.
Arme Binnenmigranten als Wählerpotenzial
Mit einem Rückblick auf die Geschichte des Landes erläutert Bahrmann zunächst den historischen Kontext und zwei Faktoren, die Hugo Chávez, von 1998 bis zu seinem Tod 2013 revolutionärer Präsident Venezuelas, für sich zu nutzen verstand: Für die politische Kultur des Landes spielt demnach die Erinnerung an Símon Bolivar immer noch eine zentrale Rolle. Der „Kult um den Befreier wurde zum gesellschaftlichen Kit, der Venezuela bis heute zusammenhält“ (31). Chávez, der sich laut Bahrmann zudem der Esoterik zugewandt hatte (79), hielt regelmäßig Zwiegespräch mit seinem großen Vorbild. Ganz diesseitig aber profitierte er von einer großen Verschiebung in der Bevölkerung im Laufe des 20. Jahrhunderts: Durch die zunehmende Fokussierung der einheimischen Wirtschaft auf die Erdölindustrie entwickelten sich die Erwerbsmöglichkeiten der Landbevölkerung zurück, es kam zu einer starken Binnenwanderung, womit eine große verarmte Stadtbevölkerung entstand. Ihr versprach Chávez als Präsidentschaftskandidat, die Gewinne aus der bereits 1975 verstaatlichten Erdölindustrie zu ihrer sozialen Besserstellung aufzuwenden. Ansonsten war sein erstmals 1995 vorgestelltes politisches Programm „unkonkret und inhaltsleer […]: Ein neuer Staat, eine neue Demokratie, gegen Korruption – den Rest sollte eine Verfassunggebende Versammlung, die Constituyente, herausarbeiten.“ (83)
„Machtfaktor Kuba“ und der Versuch, linke Politik zu bezahlen
Zum politischen Kontext gehört, wie Bahrmann in einem eigenen Kapitel und dann als roten Faden zeigt, der sich durch die gesamten Regierungszeiten von Hugo Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro zieht, die Einmischung Kubas in die inneren Angelegenheiten des Landes – sollte doch der alte Traum vom Revolutionsexport einmal erfolgreich in die Realität umgesetzt werden. Fidel Castro und Chávez hätten sich als Vater und Sohn bezeichnet, Maduro, dessen offizielle Biografie große Lücken aufweise, sei lange auf der Karibikinsel ausgebildet worden. Kuba hat aber beiden Präsidenten nicht nur aus ideologischen Gründen beratend zur Seite gestanden, sondern auch aus klarem Eigennutz, wie Bahrmann zeigt: Durch die engen Verbindungen gelang es (vorerst), den eigenen Bankrott abzuwenden – Venezuela begann unter Chávez, Erdöl an Kuba zu liefern, und akzeptierte als Gegenleistung die Entsendung von Ärzten oder die Lieferung von Zucker, während Kuba große Mengen des Öls zur Devisenbeschaffung auf dem Weltmarkt weiterverkaufte. Dieses Vorgehen wurde dann mit der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA)2 auf weitere Länder ausgeweitet, wie der Autor erläutert. Chávez habe aber nicht nur Öl zu Vorzugspreisen an Länder Lateinamerikas geliefert, sondern auch die argentinischen Staatsschulden bezahlt und die Rückkehr Daniel Ortegas an die Macht in Nicaragua finanziert. Nicaragua habe für geliefertes Öl nur zur Hälfte sofort zahlen müssen, die andere Hälfte sei – organisatorisch notdürftig verschleiert – Ortega mit einer Stundung von 25 Jahren überlassen worden. Auf diese Weise hat Nicaragua nach Angaben Bahrmanns Schulden in Höhe von inzwischen vier Milliarden Dollar aufgehäuft (151), fraglich sei, wer sie letztlich zurückzahlen müsse. Insgesamt seien bis 2017 bei ALBA-Mitgliedern Verbindlichkeiten von zwanzig Milliarden Dollar aufgelaufen. Venezuela selbst aber könne seine Lieferverträge nicht mehr erfüllen. „Die Ursachen sind ausbleibende Erschließungsinvestitionen, Misswirtschaft, Korruption und vernachlässigte Instandsetzungen.“ (155) Es importiere deshalb jetzt selbst Öl, so wie Kuba mittlerweile Zucker einkaufe.
Machterhalt durch Wahlmanipulation
Chávez habe die arme Stadtbevölkerung für sich und damit seine ersten Präsidentschaftswahlen 1998 mit dem Versprechen sozialer Wohltaten gewinnen können. Und dann: „Fast wie aus dem Handbuch militärischer Strategie und Taktik entnommen, nutzte Chávez den Sieg und stieß sofort weiter vor. Während sich die Opposition noch mit den neuen Machtverhältnissen auseinandersetzte, befand er sich schon auf dem Vormarsch: Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, Abstimmung über die neue Verfassung, Bestätigung des Präsidenten, des veränderten Parlaments und der kommunalen Vertretungen in erneuten Wahlen – und das alles binnen eines Jahres“ (86-87). Bei dieser Manipulation von Verfassung und Parlament blieb es nicht; um seine Macht zu verstetigen, betrogen Chávez und seine Gefolgsleute bei den folgenden Wahlen auf moderne Art und Weise: Bahrmann fasst verlässliche Aussagen und Beobachtungen darüber zusammen, wie neu angeschaffte Wahlcomputer über einen Rückkanal (vom Rechenzentrum zurück auf das einzelne Gerät) zur Verfälschung der Ergebnisse genutzt wurden.
Außerdem wurden mithilfe Kubas, dem man die Ausstellung neuer venezolanischer Ausweise und damit sämtliche personenbezogenen Daten übertragen hatte, die Register der Wahlkreise manipuliert und Wähler hinzuerfunden. „Auffällig war ferner, dass insbesondere die Zahl der über 100-Jährigen signifikant zugenommen hatte“ (107), der älteste Wähler sei 175 gewesen, für zahlreiche Personen sei das Geburtsdatum mit 00.00.0000 angegeben gewesen, viele Ausweisnummern seien doppelt ausgewiesen worden, auffällig viele Personen hätten gleichlautende Namen und Geburtsdaten besessen. „Dies alles wurde erst Jahre später bekannt.“ (108) Bei den Parlamentswahlen 2015 reichte dieser Betrug aber nicht einmal mehr aus, um dem Regime die Macht zu sichern: Maduro regierte erst mit Dekreten am Parlament vorbei und löste es 2017 schließlich auf. Außerdem zwang die Regierung nach den Gouverneurswahlen die fünf oppositionellen Sieger, sich vom Parallelparlament, der Verfassungsgebenden Versammlung, vereidigen zu lassen – einer weigerte sich, die Opposition ist seitdem, wie Bahrmann schreibt, gespalten. Maduro habe anschließend einen neuen Geheimdienst aufgebaut und bewaffnete Milizen eingesetzt, die nebenbei auch Schutzgeld erpressten.
Leben im Chaos
Das einstige Versprechen Chávez‘, die Armut im Land durch einen gerechteren Einsatz der Erlöse aus dem Verkauf des Erdöls zu lindern, hat sich nach zwei Jahrzehnten ins Gegenteil verkehrt: Seit seinem Amtsantritt haben zwei Millionen Menschen das Land verlassen (216), Korruption und Vetternwirtschaft haben sich ausgeweitet, die Kindersterblichkeit ist um 30 Prozent gestiegen (215). „Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, fast doppelt so viele wie vor dem Amtsantritt von Chávez“ (19) – verfestigt durch ein Mehrfachsystem der Umtauschkurse (197) und gefangen in einer überschuldeten Wirtschaft, in der tausende funktionierende Unternehmen verstaatlicht und sozialistischen Sechs-Jahres-Plänen unterworfen wurden (206).
Als mögliche Erklärung für diese Zustände zitiert Bahrmann den einstigen Obersten Militär und Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel. Dieser warf Chávez vor, „die Macht dadurch auszubauen, indem er die Mehrheit der verelendeten Venezolaner in Armut belasse und sie von den sozialen Wohltaten der Regierung abhängig mache. […] Dies sei der permanente soziale Ausnahmezustand zum Erhalt der Macht“. Das sei „exakt die Zustandsbeschreibung des heutigen Venezuelas“ (212).
1https://www.laenderdaten.info/Amerika/Venezuela/fluechtlinge.php
2https://amerika21.de/fakten/alba/karte
Repräsentation und Parlamentarismus
Kurzanalysen
Moisés Naím / Francisco Toro
Venezuela’s Suicide. Lessons From a Failed State
Foreign Affairs, November/Dezember 2018
Victor M. Mijares / Nastassja Rojas Silva
Venezuelan Migration Crisis Puts the Region's Democratic Governability at Risk
GIGA Focus Latin America, 06/2018
Víctor M. Mijares
Der Chavismus als resilienter Autoritarismus
GIGA Focus Latin America, 02/2017
Maria Puerta Riera
Venezuela. The Decline of a Democracy
Development, Dezember 2017, Volume 60, Issue 3–-4, pp 174–-179
Laura Jung
A Constituent Assembly Only in Name? Part I on Venezuela’s Constituent Assembly
Verfassungsblog: On Matters Constitutional, 23. November 2017
Hanna Buck
A Constituent Assembly Only in Name? Part II on Venezuela’s Constituent Assembly
Verfassungsblog: On Matters Constitutional, 23. November 2017
Maria Haimerl
A Constituent Assembly Only in Name? Part III on Venezuela’s Constituent Assembly
Verfassungsblog: On Matters Constitutional, 23. November 2017
Literatur
Hannes Bahrmann
Nicaragua. Die privatisierte Revolution
Berlin, Ch. Links Verlag 2017
Hannes Bahrmann
Abschied vom Mythos. Sechs Jahrzehnte kubanische Revolution – Eine kritische Bilanz
Berlin, Ch. Links Verlag 2016
Ezequiel Luis Bistoletti
The Power Struggles over the Post-neoliberal Social Security System Reforms in Venezuela and Ecuador
Cham, Springer Nature Switzerland 2019
Asa Cusack
Venezuela, ALBA, and the Limits of Postneoliberal Regionalism in Latin America and the Caribbean
New York, Palgrave Macmillan US 2019
Carlos Alberto Molina Graterol
La Abolición Jurídica de la Democracia Participativa en Venezuela. Un caso de arbitrariedad legislativa para el desconocimiento de la Constitución
Riga, PUBLICIA 2018
Maristella Svampa
Epochenwechsel in Lateinamerika. Linkspopulismus, Rohstoffausbeutung und soziale Bewegungen
Aus dem Spanischen vom lisa-colectivo malíntzin
Münster, Unrast Verlag Dezember 2018
Stefan Peters
Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela. Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution von Hugo Chávez
Stuttgart, Schmetterling Verlag 2018
Ritchie Savage
Populist Discourse in Venezuela and the United States. American Unexceptionalism and Political Identity Formation
Cham, Springer International Publishing / Palgrave Pivot 2018
Analyse
Linkspopulismus: Oxymoron oder Alternative? Ein Blick über den politiktheoretischen Tellerrand. Fallbeispiel: Argentinien
Seit einiger Zeit beziehen sich Teile der hiesigen Linken explizit positiv auf die Tradition eines linken Populismus, wobei ihnen der sogenannte progressive Zyklus Lateinamerikas als positiver Referenzpunkt dient. Sie ernten dafür heftige Kritik von allen Seiten. Tobias Boos lichtet das begriffliche Dickicht und zeigt am Beispiel des argentinischen Kirchnerismus, dass dort hinter dem linkspopulistischen Label vor allem eine wirtschaftlich in Teilen erfolgreiche Reformpolitik stand. Die demokratischen Institutionen wurden entgegen der Befürchtungen von Kritiker*innen des Linkspopulismus nicht angetastet.
weiterlesen
zum Thema