Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay
Was ist überhaupt demokratisch? Von dieser Frage ausgehend widmet sich Jan-Werner Müller dem Populismus. Über den Pluralismus als Merkmal der Demokratie gelangt er zu der These, dass Populismus per se antipluralistisch und „der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist“. Es ist folglich auch nicht wesentlich, wer die Wählerschichten der Populisten sind und welche Gemeinsamkeiten unter ihnen ausfindig zu machen wären. Für Müller definiert sich der Populist nicht über seine Anhängerschaft, sondern über drei Herrschaftstechniken, die er anwendet: Inbesitznahme des Staates, Klientelismus und Diskreditierung jeglicher Opposition.
Nach all den Debatten und Definitionsversuchen, die sich seit einigen Jahren in kaum mehr überschaubarer Zahl des Themas Populismus annehmen, formuliert Jan-Werner Müller in seinem Essay endlich die zentrale Herausforderung, nämlich „darüber nachzudenken, was wir von der Demokratie eigentlich erwarten, was wir mit ihr erreichen wollen und von welchen Fiktionen sich aufgeklärte Demokraten besser verabschieden sollten“ (134). Indem sich der Autor dem Populismus von der Demokratietheorie her nähert, weicht er den Verkürzungen, die Anti-Establishmentattitüde oder die Rebellion der unteren Mittelschicht gegen ihre Vernachlässigung durch die linken Parteien als Wesensmerkmal des Populismus zu betonen, aus. Stattdessen fragt er, was überhaupt demokratisch sei. Über den Pluralismus als Charakteristikum der Demokratie gelangt Müller zu der These, „dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist“ (14). Denn Populisten seien zwangsläufig antipluralistisch; sie behaupteten einen moralischen Alleinvertretungsanspruch gegenüber dem Volk, das wiederum durch eindeutige Zugehörigkeit und klare Grenzen („echte Deutsche“, „unser Abendland“ etc.) gekennzeichnet sei.
Es ist folglich für Müller auch nicht wesentlich, wer die Wählerschichten der Populisten sind und welche gemeinsamen Merkmale unter ihnen ausfindig zu machen wären. Für ihn definiert sich der Populist nicht über seine Anhängerschaft, sondern über drei Herrschaftstechniken, die er anwendet: Inbesitznahme des Staates, Klientelismus und Diskreditierung jeglicher Opposition. Anhand rezenter Beispiele aus verschiedenen europäischen sowie südamerikanischen Staaten erläutert der Autor die Vorgehensweise der Populisten, etwa im Umgang mit Verfassungsgerichten oder beim steten Ruf nach mehr direkter Demokratie. So ist laut Müller die Forderung nach Referenden kein Bekenntnis zu Demokratie und tatsächlicher politischer Partizipation aufgeklärter Bürgerinnen und Bürger, sondern bloß der Wunsch, vom Volk ein „imperatives Mandat“ zu erhalten. Es geht demnach nicht darum, „einen offenen Diskussionsprozess unter den Wählern“ auszulösen, sondern die Bürger sollen „bitte schön bestätigen, was die Populisten immer bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben“ (45). Den formellen demokratischen Anschein zu wahren, ist als Herrschaftstechnik sehr wichtig, selbst wenn die Demokratie schon längst nicht mehr frei oder fair ist. In diesem Sinne erfolgt auch etwa die Einschränkung der parlamentarischen Demokratie in der Türkei nicht per Staatsstreich, sondern soll durch eine Volksabstimmung (angesetzt für den 16. April 2017) legitimiert werden.
Da Müller bereits umfassend zur Staats- und Demokratietheorie geforscht hat und in seiner Analyse die Gedanken sowohl Hans Kelsens auch als Carl Schmitts zur Anwendung bringen kann, stehen Pluralismus, Minderheitenschutz und Parlamentarismus im Mittelpunkt seiner Demokratielehre, die er hier um eine „kritische Theorie des Populismus“ (13) erweitert. Populisten achten keine dieser drei Grundlagen einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Sie kennen nur ein bereits vorstaatlich, über Nation und Ethnie definiertes Volk, das einen gemeinsamen Willen habe, was damit ein Parlament als Austragungsort verschiedener Meinungen obsolet macht. Ein solch monolithisch gedachtes Volk kennt per definitionem keine Minderheiten; entweder gehört man zum Volk oder nicht. Populismus zeigt sich somit als Backlash gegen eine liberal-universalistische Gesellschaftspolitik, die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich die demokratischen Grundpfeiler von Gleichheit und Freiheit auf immer mehr Gesellschaftsgruppen ausgedehnt hat, wie es sich etwa in der Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik, in der Bildungsexpansion etc. zeigt.
Umso bedauerlicher ist, dass Müller gerade diesen politikwissenschaftlichen Analysestrang nicht weiter ausführt. Zwar weist er auf gemeinsame Charakteristika der Politiktechnik policy without politics und Populismus hin, indem er beiden eine „antipolitische Haltung“ (115) diagnostiziert, erkennt darin aber offenbar nicht den Hauptgrund für den stetig wachsenden Erfolg populistischer Parteien. Es wäre lohnend zu untersuchen gewesen, inwiefern zum Beispiel der oftmals auf höchstgerichtlichem Wege erzielte gesellschaftspolitische Fortschritt nun von Populisten als kulturelles Kapital bekämpft wird. Wir konnten immerhin beobachten, wie kontroverse Themen wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder das Adoptionsrecht für Homosexuelle nicht auf parlamentarisch-politischem Wege erkämpft, sondern bei Verfassungsgerichten erstritten wurden – sogenannter progress without politics – und wie nun eben jene Verfassungsgerichte von Populisten angegriffen und demontiert werden.
Wenig Aufmerksamkeit erhält in Müllers Essay auch der nur scheinbare Widerspruch der internationalen Vernetzung von ja stets aufs Nationale pochenden Populisten. Ein Blick auf gemeinsame Treffen von Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache, Frauke Petry etc. wäre ebenso interessant gewesen wie eine Auseinandersetzung mit der Bewegung der Identitären, die durchaus einen europäischen – im Sinne von abendländisch – Volksbegriff kennt.
Jan-Werner Müller schließt seinen Essay mit der Frage, wie mit Populisten umzugehen sei. Klar ist, dass andere Parteien und politische Akteure selbst nicht antipluralistisch auf Populisten antworten sollten; der Errichtung eines cordon sanitaire sei daher mit Skepsis zu begegnen, denn: „Wer Populisten mundtot machen will, bestätigt allzu leicht ihre These, ein Machtkartell der etablierten Eliten lasse keine Kritik zu“ (96). Stattdessen empfiehlt der Autor: erst einmal diskutieren, Fakten zurechtrücken und jene Probleme ansprechen, die Populisten oftmals zu Recht, wenn auch verkürzt, aufzeigen. Man müsste dahin kommen, die allgegenwärtige „democracy of rejection“ (Ivan Krastev) mit guter Politik zu erfüllen. Solange dies nicht geschieht, wird die „Haiderisierung“ der Politik (Michael Laczynski) voranschreiten.
Repräsentation und Parlamentarismus