Wer tritt eigentlich zur Europawahl 2024 an?
Passend zur Europawahl analysiert Daniel Hellmann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Parlamentarismusforschung, das soziodemografische Profil der Kandidat*innen, die in diesem Jahr in das europäische Parlament einziehen wollen. Auf Basis aktueller Daten argumentiert er, dass so manches Klischee über das Europäische Parlament - Stichwort: "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa" - nicht zu halten sei. Stattdessen zeige die Empirie, dass die Plätze im Europäischen Parlament besonders umkämpft und das Feld der Bewerber*innen jünger sei als beispielsweise bei der Bundestagswahl 2021.
Am 9. Juni finden in Deutschland zum zehnten Mal die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt.[1] Europaweit sind etwa 400 Millionen Menschen zwischen dem 6. und 9. Juni zur Wahl aufgerufen, um die 720 Abgeordneten zu wählen. Diese Wahlen können nur gelingen, weil sich europaweit Menschen um die Mandate zum Europäischen Parlament bewerben und den Wähler*innen so eine Auswahl ermöglichen. Mit Hilfe der Daten des CandiData-Projektes des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) können wir einen Blick auf die Kandidat*innen werfen und schauen, wer eigentlich zur Europawahl antritt. Das CandiData-Projekt versammelt Daten zu allen Bewerber*innen bei Wahlen zum Europäischen Parlament, dem Deutschen Bundestag und den Landtagen. Bislang umfasst der CandiData-Datensatz 42 Wahlen, die seit 2013 in Deutschland stattgefunden haben mit mehr als 32.000 Kandidat*innen. Auf Basis dieser Daten wird im Folgenden mit Mythen rund um die Bewerber*innen zur Europawahl aufgeräumt und aufgezeigt, wer sie – soziodemografisch gesehen – sind.
Viel Andrang auf die Plätze in Brüssel
Allein in Deutschland bewerben sich 1.413 Kandidat*innen um die 96 deutschen Sitze im Europäischen Parlament. Auf einen Sitz kommen also rund 14,7 Personen – mehr als bei jeder anderen Wahl in der Bundesrepublik. Die Sitze im EP sind also besonders umkämpft. Dies liegt zwar sicherlich auch daran, dass es keine Sperrklausel gibt, so dass kleine Parteien einen stärkeren Anreiz als bei anderen Wahlen haben, sich zu beteiligen. Aber auch ein Blick auf die Längsschnitt-Daten zeigt, dass sich im Europäischen Parlament schon immer besonders viele Kandidat*innen auf Mandate beworben haben.
Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa?
Bis heute hält sich der Mythos, dass ungeliebte, aber alters-verdiente Politiker*innen am Ende ihrer Karriere von ihren Parteien ins Europäische Parlament „abgeschoben“ werden. Die Zahlen legen aber eher das Gegenteil nahe: Bei keiner Parlamentswahl in Deutschland treten so viele junge Kandidat*innen an. Die durchschnittliche EP-Kandidat*in ist in diesem Jahr 43,5 Jahre alt. Zum Vergleich: Bewerber*innen für die Bundestagswahl 2021 waren mit 45,7 Jahren im Schnitt knapp zwei Jahre älter. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass dieses Jahr bei der Europawahl erstmalig Sechzehnjährige wählen dürfen, wobei allerdings das passive Wahlalter nach wie vor bei 18 Jahren liegt. In jedem Fall spricht die Europawahl im Schnitt nicht nur die sprichwörtlichen Opas, sondern auch viele jüngere Bewerber*innen an.[2]
Aus aller Welt
Eine Besonderheit bei Wahlen zum Europäischen Parlament ist, dass auch Personen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, sowohl aktiv als auch passiv wahlberechtigt sind, sofern sie in einem anderen EU-Mitgliedsland wahlberechtigt wären. Insgesamt treten 2024 acht Nicht-Deutsche aus Italien, Österreich, Spanien, Griechenland und Portugal in Deutschland an. Auch ein Wohnsitz in Deutschland ist nicht zwingend erforderlich. Ein Kandidat wohnt gar in Südafrika.
Innerhalb Deutschlands verteilen sich die Kandidat*innen über das gesamte Bundesgebiet. In Anbetracht dessen, dass alle Parteien bis auf CDU und CSU mit je einer bundesweiten Liste zur EP-Wahl antreten, ist dies keinesfalls selbstverständlich. Besondere Schwerpunkte sind die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie weitere große Städte wie München, Köln und Frankfurt. Da die Kandidat*innendichte in etwa der Bevölkerungsdichte entspricht, kommen aus einigen Regionen keine Kandidat*innen. Insbesondere die ostdeutschen Bundesländer weisen stellenweise weiße Flecken auf der Kandidaten-Landkarte auf.
Viele neue Gesichter
Die untenstehende Abbildung zeigt, bei welchen Wahlen die deutschen Kandidat*innen für das Europäische Parlament vorher bereits angetreten waren. Je größer der Zustrom zur Europawahl 2024 (rechter vertikaler Balken), desto mehr Kandidat*innen standen bereits bei dieser Wahl auf dem Stimmzettel. Die beiden größten Knoten sind die letzte EP-Wahl 2019 und die Bundestagswahl 2021. Neben denjenigen, die erneut für eine Europawahl kandidieren (unter ihnen auch einige amtierende Abgeordnete), wollen also auch Bewerber*innen, die vormals auf Bundes- und auch auf Landesebene angetreten sind, ins Europäische Parlament einziehen.
Knapp über die Hälfte (50,7 Prozent) stellen sich aber das erste Mal dem Votum der Wähler*innen. Auch wenn dies nach relativ vielen Neulingen klingt: Bei zurückliegenden Wahlen hatten sich sogar noch mehr Neu-Kandidat*innen beworben. Im Mittel beträgt der Neulingsanteil etwa 65 Prozent. Auffällig ist, dass er sich bei dieser Europawahl mehr noch als bei allen anderen Wahlen stark zwischen den Parteien unterscheidet. Während die AfD nur sieben von 35 (16,7 Prozent) Bewerber*innen erstmalig ins Rennen schickt, sind es bei der CSU 53 von 66 (80,3 Prozent). Dass die CSU besonders viele und die AfD besonders wenige neue Kandidat*innen nominiert, war bereits bei der Europawahl 2019 der Fall, wobei die Unterschiede damals deutlich geringer ausgefallen sind. Auch für Grüne und Linke lässt sich ein vergleichsweise niedriger Neulingsanteil attestieren.
Eine Wahl mit Auswahl
Europawahlen sind längst nicht mehr die Domäne alter Männer, die nach einem langen politischen Leben ihren Ruhestand in Brüssel genießen wollen. Viele junge Menschen kandidieren für das Europäische Parlament – für über die Hälfte ist es das erste Mal überhaupt, dass sie sich um ein politisches Mandat bewerben. Schon allein die Breite des Bewerberfeldes und der Andrang auf die Mandate zeigen, wie wichtig den Kandidat*innen Europa und die Europawahl sind. Sie ermöglichen den Wähler*innen am 9. Juni eine echte Auswahl.
Anmerkungen:
Repräsentation und Parlamentarismus