Wie offen ist die Zukunft der Zivilgesellschaft? Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen für individuelles Handeln
Die Zivilgesellschaft ist in Deutschland insgesamt gesehen gegenwärtig gut aufgestellt. Dies dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, schreibt Eckhard Priller, dass es in einigen Bereichen des freiwilligen Engagements Engpässe und Einschränkungen gibt, die durch fortschreitende Prozesse wie demografischer Wandel, Landflucht oder Digitalisierung weiter zunehmen werden. Er zeigt in seinem Vortrag die Grenzen der Zivilgesellschaft für Wachstum und Wandel auf und betont die Notwendigkeit, sich mit Visionen und aktiven Zukunftsplanungen rechtzeitig auf die neuen Anforderungen einzustellen.
1Bislang werden Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement in Deutschland zumeist unter Gesichtspunkten von Bedeutungszunahme und Wachstum betrachtet. Die Perspektive des in letzter Zeit festgestellten Shrinking Space wird eher für die internationale Perspektive gesehen, das heißt für andere Länder im Kontext von Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich mit der Thematik der Menschenrechte beschäftigen. Eine solche Sicht ist durchaus überall dort erforderlich, wo der Staat die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen eigenmächtig und in unzulässiger Weise einschränkt oder beeinträchtigt. Solche Entwicklungen sind stets aufzudecken und zurückzuweisen. Doch allein auf sich verengende Räume und Beschränkungen durch staatliche Macht und Willkür aufmerksam zu machen, sind der Thematik Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement nicht angemessen. Die einseitige Argumentation stellt sogar eine Gefahr dar, da der Eindruck einer vom Staat abhängigen Zivilgesellschaft erweckt wird sowie deren Eigenständigkeit und Selbstwert dabei nicht genügend Berücksichtigung finden. Zudem reicht eine nur rückwirkende und bis in die Gegenwart zutreffende Wachstumsdiagnose, wie sie von Jürgen Kocka in seinem Beitrag „Zwischen Kapitalismus und Politisierung. Zivilgesellschaft im Aufwind?“ dargestellt wird, nicht mehr aus. Zwar lassen sich Bedeutungszunahme und Wachstum der Zivilgesellschaft für die Vergangenheit und Gegenwart anhand verschiedener Faktoren belegen, doch es bleibt unklar, wie die Entwicklung – nicht nur unter dem Aspekt der möglichen Zunahme staatlicher Einschränkungen – aussehen wird.
Die Gegenwartsanalysen beschreiben für Deutschland eine Zivilgesellschaft im Aufwind, was sich unter anderem mit folgenden Fakten belegen lässt:
- Zunahme der zivilgesellschaftlichen Organisationen – vor allem von Vereinen, Stiftungen, gemeinnützigen Genossenschaften und GmbHs,
- steigende Anzahl befragter Personen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, und auch im Bereich der Spenden für gemeinnützige Zwecke weisen die Angaben eher auf eine Steigerung hin,
- ein Bedeutungszuwachs, der sich unter anderem in der besonders initiativreichen Rolle der Zivilgesellschaft in der sogenannten Flüchtlingskrise und in anderen Krisensituationen zeigt.
Gleichzeitig stellt sich immer mehr die Frage, ob sich diese Entwicklungen fortsetzen werden oder können. Gibt es für die Zivilgesellschaft etwas, was für andere Bereiche als „Grenzen des Wachstums“ bezeichnet wird? Praktisch sieht es beispielsweise so aus, dass neben der steigenden Anzahl von Neugründungen die Anzahl jener Vereine stärker wächst, die sich aus den Vereinsregistern streichen lassen (vgl. Priemer/Krimmer/Labigne 2017, S. 8). Ein nicht geringer Anteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen klagt darüber, dass es immer schwieriger für sie wird, Engagierte zu finden und sie längerfristig zu binden (vgl. Priller et al. 2014, S. 23). Die verfügbare Zeit für ein freiwilliges Engagement wird durch einen größeren Zeitaufwand für andere Bereiche – wie zum Beispiel durch den Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit – immer geringer (vgl. Burkhardt/Priller/Zimmer 2017). Ist es angesichts dieser Beispiele nicht dringend notwendig, den Blick stärker nach vorn zu richten und die Perspektiven der Zivilgesellschaft und des zivilgesellschaftlichen Engagements nicht für die nächsten fünf, sondern zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre ins Blickfeld zu rücken?
Wohin wird es mit der Zivilgesellschaft in der Zukunft gehen? Wird sie weiterhin vor allem eine wie in der Flüchtlingssituation von 2015/2016 von aktuellen Problemlagen Getriebene sein, die mit ihren Organisationen und Engagierten dort einspringt, wo Staat und Markt versagen oder sich nicht beteiligen wollen? Wird die Zivilgesellschaft künftig eher bewusst, zielgerichtet und langfristig bestimmte Aufgaben übernehmen und Prozesse gestalten? Wird sie sich dabei auch dazu durchringen, die Übernahme bestimmter Aufgaben abzulehnen, sich überfordert oder nicht zuständig fühlen und sich der staatlichen Indienstnahme verweigern? Der Soziologe Ulrich Beck sah in seinem Werk „Risikogesellschaft“ (1986) schon vor mehr als 30 Jahren voraus, dass sich der Kapitalismus in seiner Durchsetzung zunehmend destabilisieren wird. Was bedeutet es für die Zukunft der Zivilgesellschaft, wenn sie bereits in der Gegenwart durch permanente Krisen gefordert und geprägt wird? Ist die Funktion des Ausfallbürgen und des Reparaturbetriebes der kapitalistischen Gesellschaft nicht zu wenig für eine entfaltete Zivilgesellschaft?
Stärker ein Zukunftsbewusstsein mit Visionen und Gestaltungsschritten zu entwickeln, ist nicht nur für die Zivilgesellschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft dringend erforderlich. Dies ist notwendig, um die Gegenwart bewusst zu gestalten und uns nicht von der kommenden Zeit sprichwörtlich überrollen zu lassen. In einer Betrachtung der Zukunft der Zivilgesellschaft und des zivilgesellschaftlichen Engagements müssen viele Faktoren berücksichtigt werden, um der Komplexität und den Wechselwirkungen gerecht zu werden. An dieser Stelle sollen nur einige ausgewählte Aspekte herausgegriffen und in fünf Thesen zusammengefasst werden.
These 1: Veränderungen und Entwicklungen sind in der Zivilgesellschaft und im zivilgesellschaftlichen Engagement ein ständiger Prozess des Wachstums und Wandels. Doch auch für die Zivilgesellschaft bestehen für Wachstum und Wandel Grenzen.
Die bisherigen und gegenwärtigen Entwicklungen werden vor allem als Veränderungen im Sinne eines Wachstums und Wandels gesehen. Das in letzter Zeit oft heraufbeschworene Shrinking Space hat daher nur einen Ausschnitt oder eher eine einseitige Betrachtung bestimmter Veränderungen im Blick. Nur die Zivilgesellschaft einschränkenden gesetzlichen Maßnahmen zu betonen, stellt diese in einen zu engen Kontext. Die Grenzen für die Zivilgesellschaft setzt demnach nur der Staat, indem er ihr bestimmte Räume zuweist oder eröffnet. Man folgt damit letztlich einer Logik, die Zivilgesellschaft in einer unmittelbaren und direkten Abhängigkeit zum Staat zu stellen. Ihre Eigenständigkeit als besonderer Bereich der Gesellschaft findet in dieser Perspektive zu wenig Aufmerksamkeit. Zudem wird nicht genügend berücksichtigt, dass zum Teil weitreichendere Rahmenbedingungen und nicht nur gesetzliche Einschränkungen die Gestaltung der Zivilgesellschaft und das zivilgesellschaftliche Engagement prägen und bestimmen werden.
Einige Faktoren, die das zivilgesellschaftliche Engagement künftig verstärkt prägen, sind:
- der demografische Wandel,
- die Zunahme der sozialen Ungleichheit und ein steigendes Gemeinschaftsbedürfnis,
- die Digitalisierung und künstliche Intelligenz,
- die steigenden individuellen Ansprüche an ein qualifiziertes Engagement,
- die geringer werdende Zeitverfügbarkeit und ein Bedürfnis nach mehr Flexibilität,
- die Säkularisierung und Abnahme religiöser Zugehörigkeit.
Die Zivilgesellschaft, ihre Organisationen und das zivilgesellschaftliche Engagement sind, so meine Einschätzung, unzureichend oder gar nicht auf die Zukunft vorbereitet und nicht ausreichend auf entsprechende Veränderungen eingestellt. Welche Organisation hat gegenwärtig eine Programmatik, die über den kurzfristigen, einjährigen oder mehrjährigen Planungszeitraum hinausreicht? Inwiefern haben die Organisationen im Blick, wie sie in 20 oder 30 Jahren tätig sein wollen und was sie dann leisten können, welche Rolle das Engagement noch spielen wird, welche Engagierte sie zur Erfüllung ihrer Mission benötigen und mit welchen sie rechnen können?
Ohne eine stärkere Zukunftsorientierung, ohne Visionen und entsprechende Weichenstellungen zu ihrer Umsetzung werden aber die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Aktivitäten der Engagierten oft auf die sprichwörtlichen Feuerwehreinsätze und die „Lückenbüßerfunktion“ beschränkt bleiben. Ohne eine fundierte Zukunftsgestaltung werden Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement in den bisherigen Beschränkungen verbleiben und nicht rechtzeitig auf sich abzeichnende Grenzen reagieren können.
These 2: Der demografische Wandel wird die Zivilgesellschaft und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger stark beeinflussen und verändern – das Engagement wird älter, episodenhafter und weniger zeitintensiv.
Zu den wichtigsten Ergebnissen der aktuellen demografischen Entwicklung gehört, dass sich die Altersstruktur in Deutschland stark verändert. Seit 1972 ist die Sterberate (Mortalität) höher als die Geburtenrate. Dadurch verliert die Bundesrepublik Deutschland insgesamt an Bevölkerung.
Insofern werden im Jahr 2050 gegenüber 2014 fast vier Millionen Personen mehr im Rentenalter sein. Hingegen werden fast sieben Millionen Menschen weniger im Erwerbsalter und anderthalb Millionen weniger im Ausbildungsalter sein. Diese Prozesse sind außerdem durch eine starke Hinwendung zu den Städten geprägt.
Die Folgen des demografischen Wandels treffen die Zivilgesellschaft in einem nicht unbeträchtlichen Maße, denn durch die Alterung der Gesellschaft wird es künftig einen sehr hohen Anteil älterer Engagierter geben und es fehlen Engagierte auf dem Lande. Was das bedeutet, sehen wir bereits heute: Es fehlen unter anderem 70.000 Freiwillige bei den Feuerwehren, weshalb sich Tausende Freiwillige Feuerwehren auflösen müssen. Damit stellt sich auch die Frage, was künftig bei einem steigenden Anteil von Personen im höheren Alter und einer geringen Bevölkerungsdichte aus den anderen Hilfs- und Rettungsdiensten in ländlichen Regionen wird? Wie bleiben zivilgesellschaftliche Organisationen in anderen Bereichen funktionsfähig, wenn die Mitglieder, Engagierte und Interessierte fehlen?
Generell ist über alle Bereiche der Zivilgesellschaft hinweg zu erwarten, dass sich verstärkt Organisationen auflösen oder zusammenschließen werden, weil die Menschen fehlen. Ein „Organisationssterben“ scheint unvermeidlich zu sein. Wie die damit erforderlichen Konzentrationsprozesse zu gestalten sind, ist bislang noch unklar.
These 3: Die Veränderungen im Sozialgefüge wie die Zunahme sozialer Ungleichheit und ein wachsendes Bedürfnis nach Gemeinschaft prägen künftig die Zivilgesellschaft nachhaltig.
Neben den Veränderungen in der demografischen Struktur haben Modifikationen im Sozialgefüge – und dabei einerseits die Zunahme sozialer Ungleichheit und andererseits das Bedürfnis nach Gemeinschaft – einen starken Einfluss auf die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und die Ausgestaltung des freiwilligen Engagements. Das Ausmaß und die Verfasstheit sozialer Ungleichheit in Gesellschaften sind ein wesentlicher Indikator für die Verteilungsgerechtigkeit. Sie ist Ausdruck für die Chancen des einzelnen Menschen, an einer Gesellschaft und nicht zuletzt an der Zivilgesellschaft teilzuhaben. Es geht dabei um die Lebens- und Verwirklichungschancen von Menschen, um ihre Partizipation und Mitbestimmung an gesellschaftlichen Belangen.
Soziale Ungleichheit lässt sich anhand materieller und eher immaterieller Faktoren abbilden. Zentral sind dabei Vermögen, Einkommen, Bildung, soziales Kapital, Herkunft und Geschlecht.
In der Forschung über Zivilgesellschaft, Partizipation und Engagement ist sowohl international als auch national belegt, dass genau diese Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf die Zugangschancen zur Zivilgesellschaft haben. Anders ausgedrückt bedeutet dies: Wer in sozioökonomischer Hinsicht benachteiligt ist, ist auch in seinen Möglichkeiten auf zivilgesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt. In Deutschland haben wir bereits gegenwärtig eine zunehmende Tendenz, dass gemeinnützige Organisationen über soziale „Schließungsmechanismen“ verfügen und diese praktisch sehr wirksam sind. Diese Schließungsmechanismen tragen zu einer selektiven Einbindung und gleichzeitig zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen aus zivilgesellschaftlichen Kontexten bei. Daran haben die Strukturprinzipien und Funktionsmechanismen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die stark durch Interessenartikulation, Selbstbestimmung und Geselligkeit gekennzeichnet sind, einen entscheidenden Anteil.
Es stellen sich auch hier Fragen: Wie wird die Zivilgesellschaft mit einer künftig wachsenden sozialen Ungleichheit umgehen? Wird das zivilgesellschaftliche Engagement, so wie wir es in den 1990er-Jahren häufig proklamiert haben, weiterhin der Kitt in der Gesellschaft sein? Oder setzen sich die Ungleichheitstendenzen im Engagement fort und verschärfen diese sie sogar weiter?
Also zugespitzt: Werden die künftigen Engagierten nur noch Personen mit Abitur und Hochschulstudium sein und sind hierarchische Strukturen im Engagement auf der Grundlage des sozialen Status der Engagierten bestimmt?
Zugleich weisen viele Forschungsergebnisse darauf hin, dass bei zunehmender Globalisierung und Zunahme sozialer Ungleichheit das Bedürfnis nach Gemeinschaft wächst. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind per se geeignet, Gemeinschaft zu initiieren, zu fördern und aufrechtzuerhalten. Insofern sind für die Zukunft aber die Weichen entsprechend zu stellen. In vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, das zeigt eine Reihe von Erhebungen, haben wirtschaftliche Faktoren und die ökonomische Ausrichtung enorm an Stellenwert gewonnen. Zunehmende marktförmige Strukturen, Effizienz- und Kostendruck bestimmen den Alltag der Organisationen. Zugleich sind gemeinschaftliche Orientierungen wie das Zusammengehörigkeitsgefühl verloren gegangen (vgl. Priller et al. 2012, S. 52). Konzeptionell und in der praktischen Arbeit der Organisationen ist für ihre Zukunftsfähigkeit eine Umsteuerung erforderlich, da ansonsten ein wesentlicher Stimulus verloren geht, der Menschen bewegt, sich in zivilgesellschaftlichen Kontexten zu beteiligen.
These 4: Die Digitalisierung und künstliche Intelligenz führen zu steigenden Ansprüchen an die Qualifikation der Engagierten.
Wenn wir die Prognosen der Digitalisierung und Entwicklung künstlicher Intelligenz ernst nehmen, wird es künftig zu einem umfangreichen Wegfall bisheriger Arbeitsplätze kommen. Mit einer solchen „Wegrationalisierung“ ist ebenfalls beim Engagement zu rechnen. Das ganze Szenario von Pflegerobotern oder nur der besseren Verwaltungsprogramme im kleinen Verein liegt nicht mehr in der Ferne. Werden wir also künftig mit weniger Engagierten auskommen? Brauchen wir dann zahlreiche Engagierte nicht mehr, obwohl wahrscheinlich gerade durch die Freisetzungen in der Arbeitswelt der Bedarf nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten steigen wird? Und welche Tätigkeiten werden in der Zukunft gefragt sein, wie entwickeln wir sie im Rahmen der Organisationen? Gerade die in den vergangenen Jahrzehnten neu entstandenen Engagementformen – wie etwa ehrenamtliche Tätigkeiten in Hospizen oder bei der Bürgerbeteiligung und in partizipativen Verfahren – verlangen nach speziellen Fähigkeiten, Qualifikationen und teilweise einer gesonderten Ausbildung. Wird also das Engagement der Zukunft vor allem hochqualifiziert und nur noch mit besonderer U
terrichtung, Schulung und Befähigung möglich sein? Wird es einen Wettbewerb, einen Run auf die nur noch wenigen, freien Engagementstellen geben?
These 5: Die Säkularisierung und Abnahme religiöser Zugehörigkeit verändern einige Bereiche des Engagements.
Eine der Grundaussagen der Engagementforschung betrifft den engen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit und Religionsbindung sowie einer vorhandenen Engagementausübung. Mitglieder einer Religionsgemeinschaft und Menschen mit starker Religionsbindung sind demnach zu einem höheren Anteil und Maße engagiert. Dies lässt sich vor allem durch eine stärkere Wertebindung, die intensivere Verankerung in einer Gemeinschaft und das größere Ausmaß an Gelegenheitsstrukturen für ein Engagement – unter anderem auch, nach einem Engagement angefragt zu werden – erklären. Doch was passiert, wenn durch eine zunehmende Säkularisierung und den Rückgang der Religionszugehörigkeit diese Faktoren an Einfluss verlieren. Wird es zu einem Abbau des Engagements kommen oder setzen bestimmte Kompensationsprozesse ein? Wenn sich der Prozess des Werteverlusts über Religion weiter fortsetzt, bedarf es künftig seitens der zivilgesellschaftlichen Organisationen Anstrengungen, diesen zu kompensieren. Entsprechende Aktivitäten dürfen nicht erst bei der Mitgliedschaft und den Engagierten einsetzen, sondern sie müssen bereits im Vorfeld wirksam werden. Das bedeutet mehr oder weniger, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen wesentlicher stärker als bisher in Schulen und am weiteren gesellschaftlichen Leben betätigen müssen. Die Öffentlichkeitsarbeit hat dabei sehr breit und abgestimmt zu erfolgen.
Fazit: Folgen für und Ansprüche an die Zivilgesellschaft und das zivilgesellschaftliche Engagement
Welche Schlussfolgerungen sind aus diesen fünf Thesen für die Zivilgesellschaft und das zivilgesellschaftliche Engagement zu ziehen? Von den vorgestellten Veränderungsprozessen bleiben die Zivilgesellschaft im Allgemeinen und das zivilgesellschaftliche Engagement im Speziellen nicht unberührt. Bislang hat sich die Zivilgesellschaft in Deutschland jedoch nur unzureichend auf solche möglichen Entwicklungen eingestellt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen eher im „Hier und Jetzt“ agieren. Sie sind ausgehend von ihren Struktur- und Funktionsprinzipien eher eng nach innen auf die Mitglieder oder die Realisierung weiterer Tätigkeiten ausgerichtet. Hinzu kommt, dass sie aufgrund ihrer ständigen unsicheren finanziellen Situation kaum einen Blick in die weite Zukunft richten oder richten können. Diese Situation hindert zahlreiche Organisationen daran, über den sogenannten Tellerrand zu blicken und die Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen ausreichend zu berücksichtigen.
Gleichwohl sind aus den vorgestellten Entwicklungen einige mögliche Folgen zu prognostizieren:
1. Veränderungen der Organisationslandschaft
Durch den demografischen Wandel und die Veränderungen des Sozialgefüges wird sich auch die Organisationslandschaft verändern. Für Deutschland ist insbesondere infolge der geringeren Bevölkerungsdichte künftig mit einer geringeren Organisationsdichte zu rechnen. So wird die Anzahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht mehr in dem Maße ansteigen wie bisher und es ist zu erwarten, dass sie sogar rückläufig wird. Bei Neugründungen wird es schwieriger werden, ‚Mindestgrößen‘ einzuhalten, das heißt genügend Mitglieder und Engagierte zu finden. Insofern wird zugleich ein verstärkter Trend zu kleinen und individuell organisierten Gruppen einsetzen. Dies bringt veränderte Strukturen und Tätigkeitsformen mit sich. Wie eine optimale Organisationslandschaft unter den veränderten Bedingungen aussehen kann und wie die Organisationsarbeit künftig zu gestalten ist, ist bisher kaum zu beantworten.
2. Veränderungen der Engagementbeteiligung
Unter den skizzierten demografischen und sozioökonomischen Entwicklungen ist damit zu rechnen, dass sich die Engagementbeteiligung stark verändert.
Für die Organisationen wird es noch schwieriger, Engagierte zu gewinnen. Es kommt zu einer Überalterung und der Anteil junger Engagierter geht zurück. Gleichzeitig wird aufgrund der Migrationsbewegungen der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund zunehmen.
Aus Untersuchungen zur Partizipation und zum Engagement von Menschen ist zudem bekannt, dass insbesondere ein formal niedriger Bildungsstand sowie eine fehlende Erwerbstätigkeit Menschen daran hindern, sich zu engagieren. Die Daten zeigen, dass Menschen mit formal niedrigem Bildungsstatus zunehmend aus einem Engagement herausfallen. Bei einer steigenden sozialen Ungleichheit erfolgt der weitere Ausschluss sozialstrukturell schlechter gestellter Personen aus zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen. Dadurch stellen sich Fragen, die die demokratische Verfasstheit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gruppierungen betreffen. Wenn sich soziale Schließungsmechanismen verstärken, kann es insgesamt zu einer Delegitimierung zivilgesellschaftlicher Strukturen kommen.
Da die Religionszugehörigkeit und Religionsbindung als Zugangs- und Bindungsfaktor im Engagement an Gewicht verlieren, kann es schwieriger werden, für bestimmte Bereiche Engagierte zu finden.
3. Veränderungen in den Engagementtätigkeiten und den Leistungsanforderungen
Während sich die Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche Organisationen unter den aufgeführten Entwicklungen verändern, steigt gleichzeitig der Bedarf an Leistungen, der durch das Engagement zu erbringen ist, an. So wird etwa der Beratungs- und Unterstützungsbedarf weiter anwachsen.
Die Ausdünnung der Organisationsdichte, die Digitalisierung und höhere Qualifikationsanforderungen stellen steigende Ansprüche an das Engagement dar. Alternativen, wie eine weiter zunehmende Professionalisierung, sind schwer zu realisieren und wohl keine befriedigende Lösung. Gleichwohl müssen sich die zivilgesellschaftlichen Organisationen auch dieser Anforderung künftig stärker stellen.
_________________
1Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor auf dem Symposium des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft „The Changing Space for Civil Society“ am 17. Oktober 2017 in Berlin gehalten hat.
Literatur:
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, edition suhrkamp, Berlin.
Burkhardt, Luise / Priller, Eckhard / Zimmer, Annette (2017): Auf der Überholspur? Frauen und freiwilliges Engagement, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland, Wiesbaden, S. 179-194.
Priemer, Jana / Krimmer, Holger / Labigne, Anael (2017): Vielfalt verstehen. Zusammenhalt stärken. Edition Stifterverband, Essen.
Priller, Eckhard / Alscher, Mareike / Droß, Patrick J. / Paul, Franziska / Poldrack, Clemens J. / Schmeißer, Claudia / Waitkus, Nora (2012): Dritte-Sektor-Organisationen heute: Eigene Ansprüche und ökonomische Herausforderungen. Ergebnisse einer Organisationsbefragung, Diskussion Paper SP IV 2012-402, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Repräsentation und Parlamentarismus
Aus der Annotierten Bibliografie
zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation