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Rezension / 23.02.2021

Julia Neuberger: „Antisemitismus“. Wo er herkommt, was er ist – und was nicht

Berlin, Berenberg Verlag 2020

„Dass Antisemitismus in Europa seit rund fünfzehn Jahren zunimmt“, beunruhigt Julia Neuberger, die sich umfassend mit den Ursprüngen des Judenhasses befasst hat und kurz und bündig erklärt, wie sich Antisemitismus im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende gewandelt hat: von den Ursprüngen im arabischen Raum, zum christlichen Antisemitismus bis hin zu den „Protokollen der Weisen von Zion“. Sie zeigt die Entwicklung vom religiös motivierten Judenhass zum Rassenwahn der Nationalsozialisten bis hin zu Verschwörungsmythen über Juden auf. Dabei konzentriert sie sich stark auf rechtsextreme Gruppen und deren Ideologie.

„Dass Antisemitismus in Europa seit rund fünfzehn Jahren zunimmt“ (20), beunruhigt die Autorin. Als britische Jüdin sei ihr das derzeit bewusster als jemals zuvor, nicht zuletzt aufgrund des in Großbritannien am linken Rand offensichtlichen Antisemitismus. Zudem schreibe sie dieses Buch aus einem zweiten Grund: „Bei vielen Menschen herrscht echte Ratlosigkeit, was unter Antisemitismus eigentlich zu verstehen ist, und besonders, ob Kritik am Staat Israel für sich genommen antisemitisch ist“ (21).

Julia Neuberger hat sich umfassend mit den Ursprüngen des Judenhasses befasst und erklärt auf kurze und bündige Weise, wie sich Antisemitismus im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende gewandelt hat: von den Ursprüngen im arabischen Raum, zum christlichen Antisemitismus bis hin zu den „Protokollen der Weisen von Zion“. Sie zeigt die Entwicklung vom religiös motivierten Judenhass zum Rassenwahn der Nationalsozialisten bis hin zu Verschwörungsmythen über Juden auf. Dabei konzentriert sie sich stark auf rechtsextreme Gruppen und deren Ideologie.

Zahlreiche Beispiele von Israel-bezogenem Antisemitismus nennt die Autorin, scheitert allerdings an der trennscharfen Beschreibung des Nahost-Konflikts. So habe sich Israel von einem „sozialistischen Traum“ schnell zu einem „rechtskonservative[n] politische[n] Gebilde“ (78) entwickelt – eine bemerkenswerte Behauptung, führte doch die linke Arbeiterpartei jahrzehntelang die Regierung an.

Auch der Begriff der „Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens“ ist faktisch nicht korrekt. Zum einen befindet sich der Gaza-Streifen unter Hamas-Verwaltung, zum anderen ist die völkerrechtliche Lage des Westjordanlandes umstritten, da es einen palästinensischen Staat nicht gab. Auch die Aussage, der „Rechtsruck ist mitverantwortlich für die zunehmende Kritik an Israel vonseiten seiner Freunde und erst recht seiner Gegner“ (79) unterschlägt den eben oftmals antisemitischen Charakter der Israel-Kritik.

Neuberger beschäftigt sich derzeit offensichtlich mit der Thematik, da der Antisemitismus in Großbritannien an tagespolitischer Relevanz gewonnen hat. Umso bestürzender kommt da ihre Verteidigung des ehemaligen Parteichefs der Labour Party. So habe sich Jeremy Corbyn mit dem Thema Antisemitismus und der damit verbundenen internationalen Antisemitismus-Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) nicht befasst, da er vermutlich fürchtete, „durch die Übernahme der IHRA-Definition die Debatte über eine Resolution zum israelisch-palästinensischen Konflikt, die Corbyn sehr am Herzen lag, womöglich abzuwürgen“ (142) – eine gewagte und sehr wohlwollende Aussage, zeigt die Autorin doch im Folgenden anhand mehrerer Beispiele wessen Geistes Kind Corbyn ist, wie etwa seine Witze über ‚Zionisten‘, die Verteidigung antisemitischer Wandgemälde oder die Solidarität mit Terroristen.

Die Verfasserin sieht das Problem aber vor allem rechts. Ja, es gebe ein Antisemitismus-Problem bei Labour, dafür seien aber die Konservativen islamophob eingestellt. Bei den Tories sei gleichermaßen Antisemitismus vorhanden und Victor Orbán setze antisemitische Kampagnen um und sei schließlich ein Parteifreund der Tories. All diese Passagen erweisen der Sache einen Bärendienst. Statt das Problem des virulenten Antisemitismus im Umfeld von Corbyn zu analysieren und zu verstehen, wird die politische Linke gegen vermeintlich überzogene Anschuldigungen verteidigt.

Für die Britin ist es sichtbar eine Besonderheit, dass das Buch auf Deutsch und in Deutschland veröffentlicht wird. Dem Land weist sie eine Vorbildfunktion zu: „Deutschland [hat] sein Bestes getan[, …] sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen […] und Abbitte und Wiedergutmachung zu leisten, wo immer es möglich ist“ (10). Diese Aussage belegt Neuberger damit, dass „in Deutschland Schulkinder über alte jüdische Friedhöfe geführt werden oder das Leben von Menschen erforschen, an die mit Stolpersteinen erinnert wird“ (11). Inwiefern dies hilft, den in Deutschland immer noch grassierenden Antisemitismus wirksam zu bekämpfen, erschließt sich nicht. Max Czollek hat dieses „Gedächtnistheater“ in der Vergangenheit zurecht verurteilt. Zu sehr liegt auch hier der Fokus auf ‚toten Jüdinnen und Juden‘ statt auf realer Solidarität mit heute lebenden jüdischen Menschen.

Auffallend optimistisch schließt die Autorin ihr Buch: Antisemitismus bezeichnet sie als einen „Krebs, der in der Gesamtgesellschaft wuchert, wenn auch nicht besonders stark. Diese Erkenntnisse sind unschön, aber nicht alarmierend“ (193) – welch erstaunliche Wandlung die Autorin von der Einleitung bis zum Schluss des Werkes vollzogen hat und eine beachtliche Aussage nach der umfassenden Analyse der antisemitischen Vorfälle und Bedrohungen.

Gerade diese zwei Aussagen sollten auffallen: Neuberger verweist zurecht auf den Antisemitismus als Problem der gesellschaftlichen Mitte – und eben nicht nur der Ränder. Aber das muss doch gerade alarmieren. Vom amerikanischen Journalisten Yair Rosenberg kommt die rhetorische Frage: ‚Wenn Sie wüssten, dass ein Fünftel der Passagiere an Bord Ihnen feindselig gestimmt sind – würden Sie dann in ein Flugzeug einsteigen?‘ In ähnlicher Weise muss man sich fragen, welche Stärke Antisemitismus denn haben muss, um zu alarmieren.

Neuberger verfolgt mit dieser Publikation das Ziel, einen Einführungsband zum Thema Antisemitismus vorzulegen, was ihr aber nicht gelingt. Denn zum einen gibt es im deutschsprachigen Raum mittlerweile eine Vielzahl an Einführungsliteratur zu diesem Thema, zum anderen beantwortet sie zwar die Frage nach der Herkunft von Antisemitismus, ihr fehlt aber die notwenige Trennschärfe in der Begriffsdefinition. Anstatt den Antisemitismus präzise zu analysieren, verliert sich die Autorin in zahlreichen Beispielen für gegenwärtigen Judenhass – erklärt aber selten umfassend, was Antisemitismus im Kern ausmacht.

 

CC-BY-NC-SA
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