Thomas Mahnken / Joseph Maiolo David Stevenson (Hrsg.): Rüstungswettläufe als Teil der internationalen Politik. Ihre Geschichte vom 19. bis in das 21. Jahrhundert
In diesem von Thomas Mahnken, Joseph Maiolo und David Stevenson herausgegebenen Sammelband wird die Bedeutung von Rüstungswettläufen (oder besser gesagt: von Rüstungskonkurrenzen) in historisch vergleichender Weise untersucht. Anhand von zwölf Fallstudien wird deutlich, dass gängige Annahmen über ihre Ursachen, etwa durch technologische Innovationen, zu kurz greifen. Die Autoren stellen in ihren Analysen daher vor allem die Bedeutung politischer Entscheidungen heraus. In diesen Kontext gehört auch die Funktion von Abschreckung, Konkurrenzen zu stabilisieren oder sogar zu beenden.
Die Warnung vor Rüstungswettläufen gehört heute zum Standardrepertoire vieler deutscher Politiker und Politikerinnen, vor allem unter Sozialdemokraten, Grünen und Linken. Derartige Warnungen sind nicht neu, sie wurden schon im Reichstag vor über hundert Jahren geäußert. In den 1920er- und 1930er-Jahren galten Rüstungswettläufe als die eigentliche Ursache für den Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der britischen Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler – die dezidiert auf der Überlegung beruhte, dass es gelte, einen Rüstungswettlauf zu verhindern – wurde es dann lange still um dieses Thema. Erst der Verlauf der Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt (insbesondere bei den nuklearstrategischen Waffen) brachte es wieder zum Vorschein, verbunden mit Warnungen vor den tödlichen Konsequenzen, die der nuklearstrategische Rüstungswettlauf haben könnte. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und der damit einhergehenden massiven Abrüstung sank das Interesse wieder deutlich ab. Erst in den vergangenen Jahren gibt es die ersten Hinweise auf die Möglichkeit von Rüstungswettläufen, etwa zwischen China und den USA.
Angesichts einer mehr als hundert Jahre währenden Debatte ist es sinnvoll, die Bedeutung von Rüstungswettläufen (oder besser gesagt: von Rüstungskonkurrenzen) in historisch vergleichender Weise wissenschaftlich zu untersuchen. Dieses Ziel haben sich die Herausgeber von „Arms Races in International Politics“ gesetzt und sie sind dabei sehr systematisch und konsequent vorgegangen. Sie sind ausgewiesene Experten für Militärgeschichte und Strategische Studien, die an renommierten Universitäten lehren (Joseph Maiolo am King's College, David Stevenson an der London School of Economics und Thomas Mahnken am US Naval War College sowie an der Paul Nitze School der Johns Hopkins University). Sie haben zudem einschlägig versierte Historiker darum gebeten, die Gültigkeit der gängigen Theorien zu Rüstungswettläufen im Rahmen von Fallstudien zu überprüfen und zu untersuchen, wie diese Konkurrenzen enden.
Die Grundidee des Buches stellt Joseph Maiolo in der Einleitung vor. Er zeigt die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens über Rüstungswettläufe im Laufe der vergangenen 120 Jahre auf und kommt zu dem Ergebnis, dass es bislang wenig gesicherte Erkenntnisse zu den Ursachen, Dynamiken und Folgewirkungen von Rüstungswettläufen beziehungsweise Rüstungskonkurrenzen gibt. Er identifiziert drei theoretische Erklärungsansätze, die die wissenschaftliche Debatte bislang anleiten: (1) die technologische Innovation ist die treibende Kraft von Rüstungskonkurrenzen, diese sind demzufolge ein typisches Begleitphänomen der Industrialisierung; (2) innenpolitische und wirtschaftliche Interessen treiben die Dynamik von Rüstungsprozessen an; (3) maßgeblich ist die Dynamik von Aktion und Reaktion in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Alle drei Erklärungsansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sie markieren aber unterschiedliche Hypothesen.
Die zwölf Fallstudien beginnen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wobei vor allem das maritime Wettrüsten zwischen Deutschland und Großbritannien sowie die Rüstungskonkurrenz zu Lande analysiert werden. In drei Fallstudien befassen sich die Autoren mit der Zwischenkriegszeit und nehmen jeweils die Konkurrenz bei Marine-, Land- sowie bei Luftstreitkräften auf. Drei weitere Fallstudien sind der Zeit des Kalten Kriegs gewidmet, thematisiert werden die nukleare Rüstungskonkurrenz aus US-amerikanischer und aus sowjetischer Sicht sowie die weitere Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt. In zwei weiteren Kapiteln wird untersucht, inwieweit Theoreme des Rüstungswettlaufs den israelisch-arabischen Konflikt und den indisch-pakistanischen Konflikt erklären können. In den letzten zwei Kapiteln wird auf Rüstungskonkurrenzen seit dem Ende des Kalten Krieges mit besonderer Berücksichtigung des Aufwuchses Chinas und der Konkurrenz zwischen China und den USA geblickt.
Jedes dieser Kapitel ist gründlich recherchiert und die Autoren gehen mit großer Gewissenhaftigkeit an die Überprüfung der Hypothesen. Es gibt zwar keinen gemeinsamen Kanon an Schlussfolgerungen und Empfehlungen, aber es bleiben doch eine Reihe von Befunden, die von David Stevenson im Abschlusskapitel zusammengefasst werden. Diese lassen ein weitgehend stimmiges Bild über die Bedeutung zu, die nach Ansicht der in diesem Sammelband vertretenen Wissenschaftler Rüstungswettläufe in der Vergangenheit gehabt haben:
1. Rüstungswettläufe sind ein Phänomen der Moderne und lassen sich seit den 1840er-Jahren identifizieren. Allerdings ist nicht jede Rüstungskonkurrenz gleich ein Rüstungswettlauf (arms race). Von Letzterem sollte man nur dann sprechen, wenn sich eine intensive Interaktion (Aktion-Reaktion) der Rüstungsanstrengungen zwischen gegnerischen Parteien nachweisen lässt, bei der es zu einer massiven, aufeinander bezogenen Erhöhung des Rüstungsniveaus kommt, die auch erhebliche ökonomische Belastungen (gemessen am Anteil der Militärausgaben am Bruttosozialprodukt) zur Folge hat.
2. Was die Ursachen von Rüstungswettläufen betrifft, so könne keine der drei Erklärungsansätze überzeugen. Die These einer technologie-induzierten Rüstungsdynamik sei zwar nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, da unter Bedingungen strategischer Gegnerschaft technologische Innovationen zu Verunsicherung beitrügen und die beteiligten Regierungen versuchen könnten, mögliche Gewinne der anderen Seite zu antizipieren. Aber Innovation alleine mache keinen Rüstungswettlauf, es komme immer auf die strategische Ausgangslage an (das heißt, ob eine konfrontative Lage besteht oder nicht). Auch die These einer innenpolitisch verursachten Rüstungsdynamik wird verworfen. Die These, wonach wirtschaftliche und innenpolitische Pressuregroups die Rüstungspolitik von Staaten bestimmen, lässt sich für keinen der beobachteten Rüstungswettläufe bestätigen. Zwar gebe es Rüstungskonkurrenzen, die durch innenpolitisch motivierte Entscheidungen von Regierungen initiiert werden. Aber diese Motive seien entweder ideologischer Natur oder basierten auf grundsätzlichen machtpolitischen Entscheidungen. Auch die These eines Aktions-Reaktions-Mechanismus, der gleichsam als unsichtbare Hand den Verlauf von Rüstungskonkurrenzen bestimme, lasse sich nicht belegen. Derartige Mechanismen ließen sich zwar beobachten, sie hätten aber weitgehend einen beschreibenden, weniger erklärenden Wert.
3. Die Entstehung und der Verlauf von Rüstungskonkurrenzen oder gar von Rüstungswettläufen müsse in sehr viel komplexeren Zusammenhängen begriffen werden. Rüstungskonkurrenzen würden durch politische Entscheidungen und den zugrundeliegende Antagonismen oder Ideologien angetrieben. Unter derartigen Bedingungen könnten zwar technologische Entwicklungssprünge, Aktion und Reaktion oder auch innenpolitische Kräfte diese Dynamik verschärfen. Aber die Ursachen liegen nach Ansicht der Autoren woanders. Zudem könne das Vorhandensein einer Rüstungsdynamik beziehungsweise eines Rüstungswettlaufs auch zu einer Dynamik der beiderseitigen Beruhigung der Situation führen, etwa dann, wenn politische Entscheidungsträger auf beiden Seiten die Rüstungskonkurrenz als riskant einschätzten.
4. Rüstungswettläufe müssten nicht notwendigerweise zu Kriegen führen. Entscheidend sei, ob eine Rüstungskonkurrenz stabil bleibe oder nicht. Eine Rüstungskonkurrenz könne stabilisiert werden, sei es durch Verhandlungen oder dadurch, dass Streitkräfte und Streitkräftestrukturen entstehen, bei denen sich keine Seite ausrechnen könne, erfolgreich einen Angriffskrieg zu führen. Eine instabile Rüstungskonkurrenz – bei der eine Seite sich Vorteile ausrechne, wenn sie frühzeitig und entschieden losschlage – könne in einen Krieg übergehen, eine stabile Rüstungskonkurrenz bleibe beherrschbar.
5. Im Rahmen einer stabilen Rüstungskonkurrenz oder eines stabilen Rüstungswettlaufs (das heißt, wenn keine Seite sich einen strategischen Gewinn durch die Eröffnung eines Krieges verspricht) könne es für eine am Status quo orientierte Politik durchaus sinnvoll sein, die Konkurrenz bewusst zu verschärfen, um einer revisionistischen Macht die politischen und ökonomischen Kosten der Rüstungskonkurrenz zu erhöhen. Dies hätten die USA und die NATO in den 1980er-Jahren erfolgreich gegenüber der Sowjetunion praktiziert und damit den Weg für eine Beendigung des Ost-West-Konflikts und den Rüstungswettlauf geebnet. Eine derartige Politik setze aber die Fähigkeit voraus, innenpolitisch durchzuhalten und dem strategischen Gegner eine politische Brücke zu bauen, ansonsten wäre eine aktive Politik der Verschärfung und Ausweitung einer Rüstungskonkurrenz mit Risiken behaftet.
6. Die Jahre seit dem Ende des Ost-West-Konflikts seien durch die Abwesenheit von Rüstungswettläufen gekennzeichnet. Es bestehen aber Beziehungen der Rüstungskonkurrenz, so die Einschätzung, die in Rüstungswettläufe übergehen können. Vor allem für das Verhältnis zwischen den USA und China bestehe das Risiko eines Rüstungswettlaufes.
7. Abschreckungspolitik könne ein Instrument sein, um eine Rüstungskonkurrenz oder gar einen Rüstungswettlauf zu stabilisieren oder zu beenden, sie könne diesen aber auch verschärfen. Letztlich hänge es von der Fähigkeit ab, die spezifische Dynamik einer jeden Rüstungskonkurrenz vor dem Hintergrund derjenigen politisch-strategischen Motive zu verstehen, die die andere Seite antreiben.
Der Sammelband bietet abgewogene und empirisch untermauerte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Rüstungswettläufen, Rüstungskonkurrenzen und der Rolle von Abschreckungspolitik. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch besonders von denjenigen Politikern und Politikerinnen gelesen wird, die hierzulande die Warnung vor Rüstungswettläufen wie eine Monstranz vor sich hertragen.
Die Rezension ist zuerst erschienen in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 1, Heft 4, Seiten 406-408: https://www.degruyter.com/view/j/sirius.2017.1.issue-4/sirius-2017-0102/sirius-2017-0102.xml?format=INT
Außen- und Sicherheitspolitik
SIRIUS: Analyse
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