Bastian Matteo Scianna, Stefan Lukas (Hrsg.): Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt. Entwicklungslinien, Gegensätze, Herausforderungen
Der Sammelband blickt auf aktuelle Herausforderungen und bestehende gesellschaftspolitische Verhältnisse, die die MENA-Region prägen: Neben den inneren Entwicklungen und Problemlagen einzelner Länder analysieren die Autor*innen der Beiträge auch regionale Machtzentren, ihre Rivalitäten untereinander sowie die Rolle externer Akteure wie der USA, Russlands, Chinas oder europäischer Staaten. Michael Rohschürmann lobt den mit umfangreichen Quellenverzeichnissen ausgestatteten Band als „guten Einstieg in die Region“ und deren „langfristige Trends“.
Eine Rezension von Michael Rohschürmann
Das vorliegende Buch von Bastian Matteo Scianna und Stefan Lukas unternimmt es, einen umfassenden Blick auf die gegenwärtigen Herausforderungen und Machtverhältnisse des Nahen Ostens zu werfen. Auch wenn die Region vor allem im Westen immer noch mit Krieg und Terrorismus in Verbindung gebracht wird, zwinge die geopolitische Lage des Nahen Ostens als Drehscheibe zwischen den asiatischen Märkten, den aufstrebenden Ökonomien Afrikas und dem europäischen Wirtschaftsraum, vor allem Europa, sich mehr mit der Region zu beschäftigen, deren historische und politische Dimensionen lange zurückreichen. „Seit mehr als 5000 Jahren ringen regionale und externe Mächte um Einfluss und Kontrolle“ (10).
Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert, die jeweils verschiedene Aspekte der Region behandeln. Im ersten Teil werden gesellschaftliche und politische Entwicklungen sowie zukünftige Herausforderungen ausgewählter Länder, wie Libanon, Ägypten, Libyen und Afghanistan, betrachtet.
So stellt Anna Fleischer für den Libanon fest, dass der Niedergang des Landes durch Faktoren - wie die regionalen Machtverhältnisse, die Rolle Syriens und die Rivalität zwischen Iran und Saudi-Arabien - geprägt sei, die immer wiederkehrende Konflikte auslösten. Dazu kommen innere Probleme wie Korruption und Wirtschaftskrisen. Nach Fleischers Ansicht ist ein Ende dieser Misere nicht in Sicht, solange der Konfessionalismus, die Macht der alten Bürgerkriegseliten und die Unterstützung aus der Bevölkerung weiterhin Bestand haben (vgl. 40).
Andreas Jacobs befasst sich mit den Gründen des Scheiterns des Arabischen Frühlings in Ägypten, die er an der Planlosigkeit der verschiedenen Protestgruppen (49) festmacht, die den Aufstieg der Muslimbruderschaft befördert hätten, aber vor allem im Negativbeispiel des syrischen Bürgerkriegs und des Aufstiegs des Islamischen Staates verortet (51). Die Ursache für den Umbruch von 2011 in Ägypten lag, Jacobs zufolge, vor allem im Versagen der staatlichen Institutionen. Die offensichtliche Vernachlässigung der Verantwortung des Staates habe damals dazu geführt, dass sich verschiedene Akteursgruppen kurzzeitig hinter dem gemeinsamen Ziel des Sturzes des Präsidenten vereint hätten. Dieser revolutionäre Moment bleibe in den Köpfen vieler Ägypterinnen und Ägypter bis heute präsent, doch er könne keine nachhaltigen gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen mehr bewirken. Das Regime habe aus den Ereignissen von 2011-2013 gelernt, jedoch nicht, die Funktionsfähigkeit des Staates zu stärken, sondern die Kontrolle über die Machteliten zu festigen und gesellschaftliche Freiräume zu beschränken. Unter diesen Bedingungen blieben Hoffnungen auf einen echten nationalen Dialog oder einen neuen Gesellschaftsvertrag eine Illusion, insbesondere vor dem Hintergrund der sich verschärfenden wirtschaftlichen Krise des Landes. Selbstzensur, Resignation, Schweigen und Rückzug ins Private seien weit verbreitet (59).
Mit der Levante als Drehkreuz militanter Bewegungen befasst sich der Beitrag von Christoph Leonhardt. Der Aufstieg neuer Widerstandsbewegungen in der Levante zeige, dass die Tendenz zur Militarisierung im radikalen Schiiten- und Sunnitentum weiterhin anhalte. Die gemeinsame Ablehnung Israels verbinde dabei beide Lager und bis zu einer Lösung des Palästinakonfliktes wird die Lage, Leonhardt zufolge, instabil bleiben. Eine politische Lösung erfordert, so Leonhardt, den Willen aller Beteiligten sowie konkrete Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft (81).
Mit Libyen und den dortigen Folgen des arabischen Frühlings beschäftigt sich der Beitrag von Wolfgang Pusztai. Muammar al-Gaddafi habe es bis 2011 geschafft, die traditionelle Stammesgesellschaft zu seinem Vorteil zu nutzen, indem er durch ständige Verwaltungsneugliederungen das Entstehen von Zentren der Opposition wirksam verhindern konnte (vgl. 84 f.). Nach der Revolution sei aber die Bedrohung durch radikale Islamisten und terroristische Gruppen sowie die Uneinigkeit und Zersplitterung des Landes unterschätzt worden. Die Stabilisierung Libyens sei gescheitert, und es gebe derzeit keine Anzeichen für eine nachhaltige Besserung.
Florian Weigand befasst sich in seinem Aufsatz mit dem Krieg in Afghanistan und führt als Analyseinstrument den Ansatz der „interactiv Dignity“ (107) ein, der beschreibt, dass die Legitimität einer Regierung in weiten Teilen von der persönlichen Erfahrung im alltäglichen Leben mit den Vertreterinnen und Vertretern dieser Regierung abhängt. Dies sei im Beispiel der islamischen Republik Afghanistan gescheitert, da deren Vertreter die Bürgerinnen und Bürger weitgehend nicht mit Würde behandelt hätten. Die Taliban, die 2021 aus dem Krieg als Sieger hervorgingen, stünden nun aber vor denselben Herausforderungen. Die internationale Gemeinschaft trägt indes Weigand zufolge eine Verantwortung, den Menschen in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen (125).
Stefan Lukas beleuchtet die Folgen des Klimawandels in der Region. Trotz lokaler und regionaler Anstrengungen scheine es derzeit unwahrscheinlich, dass die Staaten der Region sich ausreichend an den Klimawandel anpassen können, ohne dass weltweit wirksame Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes ergriffen werden. Dabei dürfe man nicht außer Acht lassen, wie sich gesellschaftliche Strukturen wie das Rentenstaatsmodell der Golfstaaten auf die innenpolitische Stabilität auswirken können. Lukas führt aus, dass der Klimawandel künftig zu Konflikten in der Region führen könnte, wenn natürliche Ressourcen knapp werden und Verteilungskämpfe zunehmen. Daher sei es wichtig, dass internationale Partner die Akteure im Nahen Osten bei der Anpassung an neue klimatische Bedingungen und der Umstellung auf erneuerbare Energien unterstützten (145 f.).
Der zweite Teil des Sammelbands analysiert die regionalen Machtzentren und ihre Rivalitäten. Lucas Lamberty wirft einen Blick auf den Irak 20 Jahre nach dem Beginn der US-Invasion und kommt zu dem Schluss, dieser stehe erneut an einem entscheidenden Wendepunkt. Positive Entwicklungen, wie den Aufstieg der jungen Generation nach 2003, würden durch Perioden der Instabilität behindert. Strukturelle Probleme wie das ethnisch-konfessionelle politische System, ein dysfunktionaler Föderalismus, die Rentierökonomie und das Vorhandensein von unzähligen Milizen blieben bestehen und machten das Land anfällig für Instabilität. Trotzdem böten die positiven Aspekte Hoffnung für Demokratisierung und Entwicklung. Es sei entscheidend, dass der Irak die gegenwärtige Phase der relativen Sicherheit nutze, um durch Reformen eine nachhaltige Zukunft zu sichern (167).
Um Saudi-Arabiens Rolle geht es im Beitrag von Sebastian Sons. Die saudische Führung unter Kronprinz Muhammad bin Salman verfolge eine Politik, die auf gesellschaftliche Liberalisierung und wirtschaftliche Diversifizierung abziele, während gleichzeitig repressive Machtpolitik das autoritative politische System bekräftigten. Diese Transformation des saudischen Staates seit 2015 konzentriere sich auf den Kronprinzen, der traditionelle Eliten marginalisiere und neue Zielgruppen, wie die junge Bevölkerung und Frauen, anzusprechen versuche. Dabei werde die saudische Identität zunehmend nationalistisch geprägt, während religiöse Einflüsse an Bedeutung verlören. Obwohl sich die saudische Gesellschaft im Wandel befinde, führe die Monopolisierung der Macht unter dem Kronprinzen zu weiteren Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Regional und international verfolge Saudi-Arabien eine Strategie des Nation Branding, um seine Identität zu stärken und sich als führende Kraft wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu positionieren. Sons betont, dass Saudi-Arabien einen Balanceakt zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten, internationalen Partnerschaften und traditionellen Allianzen, wie der mit den USA, bewältigen müsse, um seine Diversifizierungsziele zu erreichen (185 ff.).
Gülistan Gürbey stellt für die Türkei fest, dass sich die Demokratie unter der Führung der AKP von demokratischen Standards entfernt habe und zu einer elektoralen Autokratie geworden sei. Die Macht sei stark zentralisiert und personalisiert, insbesondere seit der Einführung des Präsidialsystems 2018. In wichtigen Bereichen wie Gewaltenteilung, Pressefreiheit und Grundfreiheiten bestehe eine staatliche Kontrolle und versuchte Gleichschaltung. Trotz Beobachtung durch den Europarat und Berichten, die die Autokratisierung bestätigten, setze die türkische Regierung ihren Kurs unbeirrt fort. Diese Neigung zum Autoritarismus, so Gürbey, wurzele in historischen Defekten der türkischen Demokratie und dem ideologischen Selbstverständnis der AKP. Diese umfassten einen autoritären Staat und Nationalismus sowie eine politische Kultur, die auf Autoritarismus basiere. Die Autorin konstatiert, dass ohne eine Überwindung dieser autoritären Tradition die Gefahr eines Autoritarismus in der Türkei dauerhaft bestehen bleibe (206 ff.).
Alexander Brakel beleuchtet die Lage Israels im Nahen Osten und geht davon aus, dass sich Europa und die USA voraussichtlich weiterhin auf die Stabilisierung der Region konzentrieren werden, wobei Israel ein wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus bleibe. Die Bewältigung der Konkurrenz mit China und der Konflikt mit Russland würden dazu führen, dass sich die USA eher auf Interessen als auf Werte konzentrieren würden. Der israelische Fokus werde weiterhin auf Sicherheit liegen. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 ist klar, dass die Lösung des Palästinakonfliktes zentral für die israelische Sicherheitsarchitektur ist. Dabei sei eine politische Mehrheit für die Durchsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung aber (auf beiden Seiten) in weiter Ferne. Trotz aller politischen Lippenbekenntnisse weise aber auch nichts darauf hin, dass einer der arabischen Staaten „ernsthafte politische Schritte für die palästinensische Sache unternehmen könnte“ (226).
Der dritte Teil des Buchs widmet sich dem Einfluss externer Akteure, wie den USA, Russland, China und europäischen Ländern, in der Region.
Christian Koch und Christian E. Rieck konstatieren, dass die USA durch die Verantwortung für die Sicherheit Israels und die Bedrohung durch den Terrorismus dauerhaft in der Region gebunden blieben – auch wenn sich die Erkenntnis durchsetze, dass die US-Politik der letzten Jahrzehnte die Region destabilisiert habe. Die Zukunft der US-amerikanischen Nahostpolitik bleibe ungewiss, da sie von der Dichotomie zwischen fortgesetztem Engagement und der Suche nach alternativen Einflussmechanismen geprägt sei. Die Herausforderung bestünde darin, die widersprüchlichen Erwartungen der regionalen Akteure zu erfüllen, während gleichzeitig die Balance zwischen Einmischung und Zurückhaltung gewahrt werde (247 f.).
Bastian Matteo Scianna beschreibt, wie Russland nach einer Phase der Schwäche in den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Akteur im Nahen Osten geworden ist und weiterhin das Ziel verfolge, ein Gegengewicht zu westlichen Interessen aufzubauen. Putin strebe nach regionaler Dominanz oder zumindest Gleichberechtigung mit den USA und habe militärisch in Konflikte eingegriffen, um den weltpolitischen Bedeutungsverlust der 1990er-Jahre wettzumachen. Die russische Politik im Nahen Osten bleibe eng mit seiner allgemeinen außenpolitischen Ausrichtung und seinen jeweiligen Beziehungen zum Westen (270 f.) verbunden.
Als letzten großen internationalen Akteur analysieren Stefan Lukas und Julia Gurol China und seine Rolle in der Region und beschreiben eine Trendwende in der chinesischen Nahost-Politik seit 2015, wie sie im Rahmen der Belt and Road Initiative (BRI) stattgefunden habe. China habe strategische Partnerschaften mit fast allen Staaten der Region geschlossen, wobei den Golfstaaten aufgrund ihrer geostrategischen Lage und ihren Ressourcen eine besondere Rolle zukomme. Chinesische Direktinvestitionen konzentrierten sich zunehmend auf den Nahen Osten und China investiere auch stark in "Soft Power"-Strategien, wie die Förderung chinesischer Kultur und Produkte sowie den Ausbau von Technologien und Infrastruktur. Diese Entwicklung führe zu einem wachsenden Einfluss Chinas in der Region, der sich auch auf sicherheitspolitische Aspekte auswirke (290 f.).
Christian E. Rieck analysiert die deutsche und die europäische Entwicklungspolitik und fragt, ob diese auf verlorenem Posten stehe. Dabei zeigt sich, dass die Wirksamkeit westlicher Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in der Nahost- und Nordafrika-Region (MENA) durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird. Die Region stecke in einer Abwärtsspirale, wobei die Sicherheitsinteressen des Westens die Autonomie der Entwicklungspolitik untergrabe und die EZ keinen Stabilisierungsbeitrag leisten könne. Die wertebasierte Konditionalität westlicher EZ zeige in der MENA-Region kaum Wirkung, da historische, innenpolitische und regionale Kräfte einer tiefgreifenden Demokratisierung entgegenwirkten. Eine Fokussierung auf technische Zusammenarbeit und weniger politisierte Elemente der EZ könne die Wirksamkeit erhöhen, sei aber politisch in Deutschland nicht opportun. In Nordafrika spiele die EZ eine größere Rolle, insbesondere in Marokko und Tunesien, wo Entwicklungsziele auf größeres Interesse bei politischen Eliten stießen. Die Nähe zum EU-Binnenmarkt und die Mittelmeerunion böten zudem Hebel zur Durchsetzung entwicklungspolitischer Ziele. Rieck betont, dass die Europäer in der MENA-Region kaum gleichgesinnte Partner fänden, aber eine Zusammenarbeit möglich sei, wenn sie sich auf gemeinsame Interessen konzentriere. Die Realitäten in der Region müssten akzeptiert werden, und moralische Kompromisse seien erforderlich, um geopolitische Relevanz zu erlangen (311 ff.).
Zum Abschluss beleuchtet Manuel Brunner die Rolle der Vereinten Nationen. Diese nähmen, angesichts der Vielzahl von bewaffneten Konflikten, Menschenrechtsverletzungen, sozialen und politischen Spannungen sowie der angespannten Nahrungsmittelsituation, im Nahen Osten eine bedeutende Rolle ein. Die UN agiere dabei in verschiedenen Handlungsfeldern, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Da bisher keine effektive regionale Organisation im Nahen Osten etabliert worden sei, bleibe die UN in dieser Hinsicht der wichtigste Akteur in der Region (336).
Zusammenfassend ergibt sich aus den Beiträgen das Bild einer Region mit großem Potential, die jedoch von massiven inneren Schwierigkeiten der einzelnen Länder – übergreifend können hier konfessionelle Konflikte, Klientelismus und Korruption genannt werden – behindert ist. Gerade die bedeutende geopolitische Lage hat immer wieder dazu geführt, dass die Länder des Nahen Ostens auch Schauplatz von weltpolitischen Konflikten sind, unter denen sich regionale Konflikte verschärfen. Dennoch führt am Nahen Osten kein Weg vorbei, vor allem für Europa. Dieses, das betonen alle Autoren, müsse pragmatische Wege für eine Kooperation finden.
Der Band bietet einen guten Einstieg in die Region und die langfristigen Trends. Um diese in der jeweiligen nationalen Dimension in voller Tiefe zu erfassen, bedarf es weiterer Literatur, die jedoch aufgrund der umfangreichen Quellenverzeichnisse der Beiträge leicht zu finden ist.
Außen- und Sicherheitspolitik