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Rezension / 23.07.2024

Bill Hayton: The Invention of China

London, Yale University Press 2020

Handelt es sich bei der weit zurückreichenden und ihre Kontinuitäten so sehr betonenden Geschichte Chinas in Wirklichkeit um einen im frühen 20. Jahrhundert im Nachgang der Revolution entstandenen nationalen Mythos – mit entsprechender politischer Agenda? Bill Hayton macht sich in seinem Buch daran, diese These mittels (begriffs)geschichtlicher Dekonstruktion zu erforschen. Rainer Lisowski weist in seiner Buchbesprechung darauf hin, dass die spannende Untersuchung jedoch ein erhebliches Hintergrundwissen zur politischen Philosophie und Geschichte Chinas voraussetze, um die verschiedenen Perspektiven nachvollziehen zu können.

Eine Rezension von Rainer Lisowski

China wird oftmals als die älteste Zivilisation der Welt bezeichnet. Eine Formulierung, die beispielsweise der jüngst verstorbene Henry Kissinger in seinem umfangreichen Buch „On China“ verwendet. China selbst spielt auf internationaler Ebene mit diesem politisch nutzbaren Nimbus und betont seine historische Kontinuität und kulturelle Stärke.

Nun leben wir allerdings in den Zeiten der philosophischen Dekonstruktion. Und genau in diesen Kontext ist das Buch von Hayton einzuordnen. Intensiv hat sich der Journalist Hayton, u. a. auch Associate Fellow im Asia-Pacific-Programme von Chatham House, mit der chinesischen Geschichte und der chinesischen Sprache beschäftigt und versucht mit „The Invention of China“ eine geschichtliche Dekonstruktion von quasi allem, was den Charakter der chinesischen Nation und ihrer Kultur ausmacht. In acht Kapiteln werden neben der Sprache und Geschichte dann auch die bestehenden Grenzen und territorialen Forderungen Chinas - und sogar China selbst – dekonstruiert. Etwa bis zur Seite 100 ist dies auch für alle interessant zu lesen, die sich bislang intensiver mit Chinas Politik und Geschichte befasst haben. Neue Aspekte und neue Gedanken zur chinesischen Geschichte werden vorgetragen, in der Regel gestützt auf historische Quellen. Danach wiederholt sich allerdings vieles, was auch an den Begriffen liegt, die Hayton untersucht. Denn diese sind nicht immer ganz trennscharf. Kapitel drei etwa beschäftigt sich mit der „Rasse der Han“; Kapitel fünf mit der „Nation“ – Überlappungen sind da vorprogrammiert.

Zum besseren Verständnis des Buches sollte zunächst einmal die grundsätzliche These vorgestellt werden. Ohne dies an einer Stelle ganz klar so auszusprechen, vertritt der Autor die Annahme, dass der Zerfall der Qing-Dynastie im frühen 20. Jahrhundert eine Art Achsenzeit für China darstellt. Hayton glaubt nachweisen zu können, dass damals viele (aus Europa beeinflusste) national gesinnte Intellektuelle die Ideen ihrer Zeit aus Europa nach China übertrugen. Exemplarisch kann hier die intensiv beschriebene „Erfindung“ der chinesischen Nation durch die Intellektuellen der damaligen Zeit, etwa durch den in westlichem Denken geschulten Philologen und Widerständler Zhang Binglin, genannt werden. Hayton greift (132 ff.) auf zahlreiche Schriften zeitgenössischer chinesischer Intellektueller zurück, um seine Aussagen zu untermauern.

Das Buch versucht zu verdeutlichen, dass China mindestens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kein Nationalstaat, keine geeinte Nation, ohne feste Grenzen und ohne einheitliche Sprache war. Die Erfindung alles Chinesischen beginnt für Hayton schon bei der Selbstidentifikation der Menschen. Ein Bürger hätte sich früher nicht als Chinese, sondern beispielsweise als „Untertan der Ming“ bezeichnet (8 f.,12). Oder: Von 1644 bis 1912 sei etwa in Verträgen niemals von China die Rede gewesen, sondern vom Großstaat der Qing. Seine Thesen belegt der Autor stets mit Quellen und Dokumenten der vergangenen Jahrhunderte, so etwa mit den Vertragstexten zwischen China und Russland, in denen China von chinesischer Seite als „Dulimbai Gurun“ („Zentralstaat“) bezeichnet wird (20).

Die Zeit um 1900 steht, wie erwähnt, meist im Fokus des Buches. Das ist folgerichtig, allein schon, weil sich nach dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie große Unsicherheit breit machte. Es stellten sich grundsätzlichste Fragen einer jeden Gesellschaft: Wie soll unser Land heißen? Welche Sprache soll gesprochen werden?

Für diejenigen, die sich mit Chinas Geschichte nicht sehr intensiv auskennen, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Qing-Dynastie von einem nomadischen Volk abstammt, das ursprünglich in der Mandschurei beheimatet war und sich sprachlich wie kulturell vom Rest Chinas unterschied. Offizielle Texte waren während der Zeit der Qing meist in zwei Sprachen mit zwei Schriften verfasst. Dem klassischen Chinesisch und dem Mandschurischen. Nach dem Zusammenbruch der Dynastie kämpften daher die national gestimmten Intellektuellen bildlich gesprochen um die Seele des Landes (Beschreibung bei Hayton, etwa 30 ff.). Der Autor geht bei seiner Schilderung dieser gesellschaftlichen Prozesse oft direkt an sprachliche Begrifflichkeiten heran und versucht für Europäerinnen und Europäer im Detail nachzuzeichnen, was unter den Termini zu verstehen ist und warum es eine Rolle spielt, ob von „hua“ oder „guo“ (mit beidem kann China gemeint sein!) die Rede ist.

Überhaupt spielen die unterschiedlichen Konzepte von Staatlichkeit, Nation und Territorium eine wichtige Rolle. Gut kann man dies am Beispiel des Begriffs der Souveränität verdeutlichen. Hayton arbeitet heraus, dass die klassische chinesische Staatsauffassung „tianxia“ überhaupt nicht zum Begriff der „westfälischen“ Nation passt, die eben territoriale Abschließung und klar erkennbare Grenzen zwingend beinhaltet (vergleiche 40 ff., 84 ff.). Der chinesische Begriff „tianxia“ nimmt eine zentrale Stellung ein, auch in der heutigen politischen Diskussion, da sich etwa Xi Jinping immer wieder auf diesen Terminus bezieht. Er kann hier nur grob umrissen werden, zum vertieften Verständnis sei empfohlen: Zhao Tingyang („Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“). Tianxia geht von graduellen Übergängen zwischen Herrschaftsgebieten aus. Man stelle sich grob Beijing als Kaisersitz und damit als das (moralische) Zentrum des Universums vor. Von dort aus strahlen Glanz und Bedeutung bis in die hintersten Winkel der Welt. Je näher man sich am Sitz der chinesischen Kultur befindet, desto näher ist man der Zivilisation selbst. Je weiter entfernt man ist, desto „barbarischer“ wird alles. Diese Idee kennt per se keine abgeschlossenen Grenzen, sondern lediglich fließende Übergänge. Mit Blick auf die heutige Diskussion chinesischer territorialer Forderungen versucht Hayton in diesem Kontext auch zu zeigen, dass China schon während der Qing-Dynastie Stück für Stück Territorien verlor (etwa die Ryuku-Inseln, vgl. 61 ff.). Damit will er zeigen, dass die heutigen chinesischen Forderungen völkerrechtlich schwer haltbar sind, da die damals international anerkannte chinesische Regierung auf diese Territorien verzichtet hatte.

Hayton gelingen in seiner Diskussion der chinesischen Geschichte de manière déconstructive einige interessante Beobachtungen. Aufschlussreich liest sich beispielsweise, wie seiner Meinung nach der Intellektuelle Zhang Binglin (1869-1936) die Idee der Han-Rasse erfand und dabei auf die europäische Rassenlehre seiner Zeit zurückgriff. Allerdings musste er sie auf chinesische Verhältnisse adaptieren, denn den damaligen Nationalisten ging es insbesondere um eine Unterscheidung zwischen den Chinesen einerseits und den Mandschu andererseits. Dabei stützten sie sich nicht auf stark voneinander abweichende äußere Erscheinungsmerkmale, wie dies etwa die auf andere Erdteilbevölkerungen schauenden und somit das Andere in Abgrenzung zur eigenen Gruppe konstruierenden europäischen Nationalisten jener Zeit mit ihren Theorien taten. Stattdessen argumentierten sie mit familiärer Abstammung, was zur traditionellen Orientierung an Ahnen und Familienlinien passte (vgl. 95-99). Zudem zeichnet sich diese Idee als politisch sehr flexibles Konzept aus. Nach Belieben kann dieses „Merkmal“ ausgedehnt oder eingeschränkt werden. So ist es überhaupt gar kein Problem, die südchinesische Bevölkerungsgruppe der Hakka, die sich kulturell von den Han abgrenzen ließe, nach Belieben der Han-Rasse zuzuordnen oder heraus zu differenzieren.

Hayton stellt schließlich auch die Assimilationskraft der chinesischen Kultur selbst infrage (114 ff.). Er argumentiert damit, dass beispielsweise die Mandschu-Oberschicht bis Ende der Qing-Dynastie sehr darauf bedacht war, sich von den „Han-chinesischen“ Untertaninnen und Untertanen abzugrenzen. Dabei argumentiert Hayton auf der Höhe der aktuellen europäischen Diskussion und löst den Begriff der nationalen, ethnischen Zugehörigkeit im Grunde vollkommen auf: „Nationalism is a hallucinogen, whose addicts can see illusions of wholeness where others see only disjuncture and diversity“ (127). Bevor man allerdings zu schnell mit dem Kopf nickt, sollte man nicht vergessen, dass Milliarden von Menschen auf der Erde dies ganz anders sehen, als es in den intellektuellen Zirkeln Europas diskutiert wird. Selbst in der Sprache verdeutlicht Hayton schließlich die von ihm gesehene „disjuncture and diversity“ und verweist darauf, dass noch zur Mitte des letzten Jahrhunderts die Sprachwissenschaft davon ausging, dass es etwa 2.000 verschiedene Variationen des Chinesischen gab, wovon geschätzt 400 miteinander vollkommen inkompatibel waren (160).

Alles in allem hat Hayton eine interessante und lesenswerte Betrachtung vorgelegt. Trotz aller Einsichten wirkt sie manchmal ein klein wenig bemüht in ihrem dekonstruktiven Anspruch. Wer dieses Buch liest, sollte schon etwas Vorwissen zur chinesischen politischen Philosophie und der chinesischen Geschichte haben, sonst besteht die Gefahr, die Einsichten des Buches nicht nachvollziehen zu können.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.10
CC-BY-NC-SA
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