Die Pandemie der Ungleichheit. Verteilungseffekte der COVID-19-Krise
Vieles deute darauf hin, dass sich die Ungleichheit infolge der Pandemie verschärft habe. Das gelte nicht nur im innerstaatlichen Kontext, sondern auch für das Verhältnis zwischen den Staaten, so Timo Dziggel. Er bietet einen Überblick über die politischen, sozialen und ökologischen Auswirkungen wachsender Ungleichheit und fragt, wie sich diese auf die Umsetzung von Ziel 10 der Agenda 2030 auswirkt. Da ihm eine Querschnittsaufgabe zukomme und die Reduzierung von Ungleichheit eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der Agenda einnehme, seien auch weitere SDGs berührt, wie etwa die Bekämpfung von Armut und Hunger. Daher sei es wichtig, die Wechselwirkungen zwischen den Zielen aufzuzeigen und vor allem den Zusammenhang von Ungleichheit und Klima stärker zu kommunizieren.
Die COVID-19-Pandemie trifft Arm und Reich unterschiedlich hart. Reiche blieben vom Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten bislang relativ unberührt. Sie profitierten sogar von der Geldschwemme der Zentralbanken, dem Boom auf den Aktienmärkten und dem damit einhergehenden Anstieg der Vermögenswerte. Allein die Zahl der Milliardär*innen stieg seit Anfang 2020 um 660 auf 2.755 weltweit. Ihr Vermögen wuchs binnen eines Jahres um über 5 Billionen US-Dollar auf 13,1 Billionen US-Dollar.
Dagegen schadet die Pandemie vor allem den Armen. Sie arbeiten eher in Berufen mit direktem Kontakt zu Menschen, leiden häufiger unter Vorerkrankungen, leben eher in beengten Wohnverhältnissen und genießen seltener das Privileg des Home Office. Daher infizieren sie sich eher mit dem Coronavirus und sterben auch häufiger daran.
1,6 Milliarden Arbeiter*innen im informellen Sektor wurden durch Ausgangssperren besonders schwer getroffen. Der weltweite Beschäftigungsrückgang auf dem formellen Arbeitsmarkt entsprach im dritten Quartal 2021 – nach Monaten der Erholung – immer noch dem Verlust von 137 Millionen Vollzeitjobs. Davon betroffen sind vor allem vulnerable Gruppen, insbesondere junge Menschen, Angehörige von Minderheiten und Frauen. Im globalen Süden konnten Einkommenseinbußen nicht durch eine aktive Sozialpolitik seitens der Staaten ausgeglichen werden. Die Zahl der Menschen, die dort in extremer Armut leben, stieg allein 2020 um mindestens 100 Millionen.
Es liegt auf der Hand, dass sich die Corona-Pandemie auf die Ungleichheit zwischen Arm und Reich auswirkt. Endgültige Daten liegen dazu noch nicht vor, aber erste Schätzungen und Prognosen deuten darauf hin, dass die Schere weiter auseinandergeht. Dieses Briefing gibt einen Überblick über die Auswirkungen der Pandemie auf die materielle Ungleichheit, und damit auch auf die Verwirklichung des Ziels 10 der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, mit dem sich die Regierungen zur Reduzierung der Ungleichheit verpflichtet haben. Es adressiert ferner die mittelbaren Auswirkungen der zunehmenden Ungleichheit auf angrenzende Zielvorgaben der Agenda 2030.
Trendwende bei der Einkommensungleichheit
Als Reaktion auf die Pandemie verabschiedeten viele Staaten des globalen Nordens Maßnahmen zur Unterstützung vulnerabler Gruppen. Diese Maßnahmen haben auch Auswirkungen auf die Einkommensungleichheit. Zwischen Januar und September 2020 sank sie etwa in Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien. Dabei stieg die Ungleichheit unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie an und sank im Anschluss aufgrund der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen auf vorpandemische Niveaus. Die Abnahme der Einkommensungleichheit in Deutschland führt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW 2021, 315) allerdings überwiegend auf die rückläufigen Einkommen gemeinhin gutverdienender Selbstständiger zurück.
Jedoch konnten nicht alle Staaten des globalen Nordens die negativen Verteilungseffekte der Pandemie ausgleichen. In Schweden etwa ist die Einkommensungleichheit seit Beginn der Pandemie gestiegen, auch wenn der Anstieg durch staatliche Eingriffe abgemildert wurde. Im globalen Süden blieben umfangreiche staatliche Hilfsmaßnahmen oftmals angesichts der prekären Haushaltslage aus, während die Strategien der Pandemiebekämpfung ähnlich restriktiv ausfielen wie in den reicheren Ländern. Dürftige 0,4 Prozent der globalen fiskalpolitischen Wiederaufbauprogramme entfielen auf Staaten mit niedrigem Einkommen (ILO 2021, 13). Es ist daher damit zu rechnen, dass dort die Ungleichheit der Einkommen im selben Zeitraum beachtlich gestiegen ist. Vorläufige Daten der Weltbank unterstreichen diese Befürchtung.
Die Ungleichheit innerhalb von Staaten ist nur ein wichtiger Aspekt der Ungleichheit. Ein anderer ist die Ungleichheit zwischen Staaten. Man nahm zunächst an, dass sich die zwischenstaatliche Einkommensungleichheit durch die Pandemie reduzieren würde. Denn auch aufgrund einer höheren Sterblichkeit erlitten die Staaten des globalen Nordens einen unmittelbar stärkeren Schock, was den Staaten des globalen Südens, zumindest kurzfristig, einen relativen Vorteil bescherte. Aber ungeachtet dessen nahm die (bevölkerungsgewichtete) zwischenstaatliche Einkommensungleichheit im Jahr 2020 zu – nachdem sie vor allem aufgrund des Wirtschaftswachstums von China und Indien zuvor über 20 Jahre lang gesunken war. Nach Schätzungen der Weltbank dürfte der Anstieg der zwischenstaatlichen Ungleichheit im Jahr 2021 sogar noch stärker ausfallen als im ersten Jahr der Pandemie.
Auch hinsichtlich der globalen Einkommensungleichheit, bei der die Ungleichheit zwischen allen Menschen der Welt gleichgewichtet betrachtet wird, läutet die Pandemie aller Voraussicht nach eine Trendumkehr ein.1 Die Weltbank rechnet damit, dass die globale Einkommensungleichheit erstmalig seit über zwanzig Jahren wieder steigt. Dasselbe gilt auch (wie bereits 2020 prognostiziert) für die Einkommensungleichheit innerhalb der Europäischen Union.
Vermögensungleichheit wächst
Was für die Entwicklung der Einkommensungleichheit seit Beginn der Pandemie gilt, gilt in ähnlicher Weise auch für die Entwicklung der Vermögensungleichheit. Während sich mittlerweile mehr als 250 Millionen Menschen mit dem SARS-CoV-2-Erreger infizierten (Stand November 2021), bezeichnet Credit Suisse das Wachstumvvon Vermögenswerten im Global Wealth Report 2021 als „weitgehend immun“ (5) gegenüber den Herausforderungen der Krise.
Tatsächlich erlebten die Finanzmärkte in der Corona-Krise einen beispielhaften Boom. Zurückzuführen ist dies insbesondere auf das niedrige Zinsniveau und die Liquiditätsschwemme, die die Spekulation an den Finanzmärkten befeuerten. So wuchs das globale Vermögen im Jahr 2020 um 7,4 Prozent. Dabei wuchsen die Vermögenswerte um 11,6 Prozent mehr als die Wirtschaftsleistung (Allianz 2021, 2). Die Zahl der Dollar-Millionär*innen erhöhte sich um 5,2 Millionen Menschen (ebd., 28). Allein in den USA wuchs das Vermögen der Milliardär*innen um unvorstellbare 2,1 Billionen US-Dollar. Die mittleren Vermögensklassen hingegen schrumpften im Jahr 2020 in vielen Staaten (Allianz 2021, 28 f.). Entsprechend stieg die Vermögensungleichheit in vielen Ländern, u. a. in Brasilien, China, Indien, Japan, Russland, Großbritannien, Frankreich und auch in Deutschland (Credit Suisse 2021, 24).
Ähnlich eindeutig ist das Bild auch bei der Entwicklung der globalen Vermögensungleichheit. Sowohl der Gini-Index der globalen Vermögensverteilung als auch die Vermögensanteile der reichsten 10 Prozent, 5 Prozent und des reichsten 1 Prozent stiegen im Jahr 2020 (ebd., 25). Der Gini-Index war zuvor über 20 Jahre gefallen. Die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen nunmehr zwischen 82 und 84 Prozent des Vermögens, das reichste Prozent allein zwischen 41 und 45 Prozent. Die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung besitzt hingegen weniger als 1 Prozent des weltweiten Vermögens (Allianz 2021, 28).
Düstere Prognosen zur weiteren Entwicklung der Ungleichheit
Die großen Pandemien des zwanzigsten Jahrhunderts, darunter die Spanische Grippe, haben die Ungleichheit der Einkommen verringert. In ihnen starben viele junge Menschen, was zu Arbeitskräftemangel und steigenden Löhnen führte. Die Pandemien der letzten 20 Jahre – u. a. SARS, H1N1, MERS und Ebola – haben die Einkommensungleichheit in den betroffenen Regionen hingegen allesamt verstärkt. Dabei galt, je gravierender die Pandemie, desto stärker die Verteilungseffekte. Da an COVID-19 vor allem ältere Menschen sterben, wirkt sich das kaum auf das Angebot an Arbeitskräften aus. Aus historischer Perspektive ist daher anzunehmen, dass die gegenwärtige Pandemie die Ungleichheit auch langfristig vergrößern wird.
Noch bestehen im globalen Norden egalisierende Tendenzen in Form staatlicher Hilfsmaßnahmen. Gleichzeitig wirken die andauernde Rezession, der Verlust von Millionen von Jobs sowie die Beeinträchtigungen im Bildungssystem polarisierend. Je länger die Rezession anhält, desto stärker ist diese Wirkung. So warnt das DIW (2021, 308) vor einer Verschärfung der Ungleichheit in Deutschland durch den Wegfall von Arbeitsplätzen und eine steigende Zahl an Insolvenzen.
Besonders schwer wiegen indes die Folgen von Schulschließungen. Es ist damit zu rechnen, dass Kinder aus armen Haushalten größere Lernrückstände verzeichnen. Langfristig dürfte sich diese Verschärfung der Chancenungleichheit auf die Entwicklung der materiellen Ungleichheit durchschlagen. Für die Entwicklung der Ungleichheit im globalen Norden ist es daher entscheidend, inwiefern die Staaten Corona-Hilfen und Bildungspolitik auf vulnerable Gruppen ausrichten und der Verschärfung der Ungleichheit aktiv entgegenwirken – wie es auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem neuen Jahresgutachten (2021, 246) festhält.
Im globalen Süden hingegen werden sich Rezession, Jobverlust und Bildungseinbußen nahezu ungebremst auf die materielle Ungleichheit auswirken. Dort sind die Spielräume für expansive fiskalpolitische Maßnahmen auch aufgrund oftmals hoher Staatsschulden deutlich geringer als in den Ländern des globalen Nordens (Allianz 2021, 30). Auch Schulschließungen treffen Kinder aus armen Haushalten im globalen Süden härter, weil die Möglichkeiten des Online-Unterrichts äußerst beschränkt und die finanziellen Ressourcen der Eltern durch die Pandemie stärker beeinträchtigt sind. Hinzu kommt die globale Ungleichverteilung der Corona-Impfstoffe, die die Rezession im globalen Süden verlängern wird.
Damit nicht genug, dass die Ungleichheit in den Ländern des globalen Südens zunehmen wird. Impfstoffungleichheit und unterschiedliche fiskalpolitische Handlungsoptionen tragen dazu bei, dass sich die Wirtschaft im globalen Norden schneller erholt als im globalen Süden. Dadurch wird die zwischenstaatliche Ungleichheit weiter steigen. Die Pandemie beschleunigt zudem Entwicklungen in den Bereichen Digitalisierung und künstliche Intelligenz, die einen Standortvorteil des globalen Südens, günstige Arbeitskräfte, entwerten. Das schränkt die Wachstumschancen vor Ort zusätzlich ein. Gleiches gilt für den im globalen Norden zu erwartenden Investitionsboom im Bereich nachhaltiger Technologien (Allianz 2021, 23).
Die Folgen der wachsenden Ungleichheit
Es gibt viele gute Argumente, Ungleichheit, insbesondere in ihrem derzeitigen Ausmaß, abzulehnen und ihre Bekämpfung zum prioritären Politikziel zu erklären. Diese Argumente nehmen entweder eine Perspektive der Gerechtigkeit oder eine instrumentelle Perspektive ein. Gerechtigkeitsorientierte Argumente laufen darauf hinaus, dass Ungleichheit intrinsisch, das heißt an sich schlecht ist. Instrumentelle Argumente betonen hingegen die schädlichen Folgen von Ungleichheit. Die Entwicklungsagenda der UN hat sowohl eine intrinsische als auch eine instrumentelle Dimension. Im Folgenden wird entlang intrinsischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Achsen prognostiziert, wie sich die steigende Ungleichheit auf die Agenda 2030 und die Implementierung der SDGs auswirken wird.
Ungleichheit aus Gerechtigkeitsperspektive
Die Agenda 2030 basiert auf dem globalen Grundkonsens, dass die Reduktion der Ungleichheit ein zentrales Ziel nationaler Politik sowie internationaler Zusammenarbeit ist. Die Verringerung der Ungleichheit ist in der Agenda als explizites Ziel formuliert worden (SDG 10). Sie ist zugleich ein Querschnittsthema, das sich durch die gesamte Agenda zieht und sich auch in ihrem Leitmotiv „Leave no one Behind“ widerspiegelt. Für die Agenda 2030 ist Reduktion von Ungleichheit also ein normatives Grundprinzip – kein Zweck, sondern ein gerechtigkeitsorientiertes und menschenrechtsbasiertes Ziel an sich. Die Verschärfung der Ungleichheit durch die Pandemie läuft diesem Ziel zuwider.
Argumente aus Gerechtigkeitsperspektive beziehen sich zumeist auf Bedarf, Chancengleichheit oder Leistung. Aus der Perspektive des Bedarfs sind Hunger und Armut unter den Bedingungen von Überfluss ungerecht. Mehr noch, in einer Welt des Überflusses stellt der Fortbestand von Armut und Hunger eine bewusste (politische) Entscheidung dar.
Ähnlich verhält es sich mit dem Verweis auf Chancengleichheit. Ob man selbst arm oder reich ist, hängt maßgeblich davon ab, ob man als Kind armer oder reicher Eltern, in einem armen oder in einem reichen Land geboren wurde. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien besuchen in Deutschland bei gleichen Leistungen um 60 Prozent seltener das Gymnasium als Kinder aus soziökonomisch bessergestellten Familien. Mit Chancengleichheit hat das nichts zu tun.
Bestehende Ungleichheiten durch Leistungsunterschiede zu legitimieren, greift ohne hinreichende Chancengleichheit zu kurz. In einer Welt, in der ungleiche Lebenschancen in hohem Maße auf Kolonialismus, Rassismus, Sexismus oder Klassismus beruhen, muten Verweise auf die Leistung naiv odergar zynisch an. Seit Beginn der Pandemie wurde das Narrativ der Leistungsgerechtigkeit unter dem Schlagwort der Systemrelevanz neu verhandelt – bisher folgenlos. So fragte der Soziologe Jürgen Gerhards im Tagesspiegel angesichts des enormen Einkommensgefälles selbst in Deutschland: „Leistet ein Spitzenfußballer tatsächlich das 1300-fache einer Krankenschwester in Coronazeiten?“
Ökonomische Folgen steigender Ungleichheit
Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit werden noch immer gelegentlich mit dem Verweis auf Wachstumseinbußen abgelehnt. Seit den 1970er-Jahren herrscht in den Wirtschaftswissenschaften die Vorstellung eines Zielkonflikts zwischen Effizienz und Gleichheit vor. Damals prägte der Ökonom Arthur Okun (1975, 89) für Umverteilung das Bild eines löchrigen Eimers. Umverteilung würde Anreize senken und somit den zu verteilenden Kuchen verkleinern. Noch heute vertreten einige Ökonom*innen die Auffassung, dass Ungleichheit einen goldenen Schweif des Wachstums hinter sich her trage.
Die wissenschaftliche Evidenz spricht allerdings eine andere Sprache. Inzwischen weiß man, dass der Effekt von Ungleichheit auf wirtschaftliches Wachstum zumindest von drei Faktoren abhängt: dem Ausmaß der Ungleichheit, dem Wohlstandsniveau und dem betrachteten Zeitraum. Empirisch zeigt sich, dass die Wirtschaft in ungleichen Gesellschaften langsamer und instabiler wächst. Umverteilung weist – wenn überhaupt – wachstumsfördernde Effekte auf. Mit anderen Worten, zu hohe Ungleichheit ist ein Hemmschuh für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum (SDG 8).
Der wachstumshemmende Effekt von Ungleichheit wird über diverse Kanäle vermittelt. Hohe Ungleichheit verstärkt protektionistische Tendenzen in der Handelspolitik, führt zu Rent-Seeking und gefährdet die Bereitstellung öffentlicher Güter. Insbesondere Investitionen in Bildung (SDG 4) kommen zu kurz. Entgegen der weitläufigen Annahme, dass Ungleichheit notwendige Leistungsanreize setzt, kommen einige empirische Studien zu dem Schluss, dass sie Leistungsanreize schmälert.
Ungleichheit wird seit der globalen Finanzkrise 2008-2009 zudem vermehrt mit makroökonomischer Instabilität in Verbindung gebracht. So neigen reiche Menschen zu riskanteren Vermögensanlagen, was das systemische Risiko auf den Finanzmärkten erhöht. Da Ungleichheit auch den Statuswettbewerb steigere, ließen sich mittlere Einkommensklassen dazu verleiten, ihre fehlende Kaufkraft durch Kreditaufnahme auszugleichen. Die Ausweitung unproduktiver Kredite kann sich aber katastrophal auswirken, wenn sie – wie im Vorfeld der letzten globalen Finanzkrise geschehen – durch deregulierte Finanzmärkte befeuert wird (Rajan 2010).
Ungleichheitsbedingte Wachstumseinbußen haben offensichtlich schädliche Konsequenzen für eine Reihe von Zielen der Agenda 2030, insbesondere die Bekämpfung von Armut (SDG 1) und Hunger (SDG 2) sowie die Geschlechtergerechtigkeit (SDG 5). So können Staaten mit geringerer Einkommensungleichheit größere Erfolge bei der Reduktion von Armut aufweisen als ungleichere. Im Jahr 2020 rechnete die Weltbank noch vor, dass eine einprozentige Reduktion der Ungleichheit eine höhere Armutsreduktion erwarten lasse als eine einprozentige Erhöhung des Einkommens.
Politische Folgen steigender Ungleichheit
Ungleichheit zieht aber nicht nur ökonomische, sondern auch politische, soziale und ökologische Folgen nach sich. „We may have democracy, or we may have wealth concentrated in the hands of a few, but we cannot have both”, hat einst der amerikanische Jurist Louis Brandeis die politischen Folgen materieller Ungleichheit auf den Punkt gebracht. Mit aktuellerem Bezug argumentiert Jason Stanley (2015), dass Ungleichheit zu Wissensasymmetrien führt, die die Funktionsfähigkeit demokratischer Regime untergraben (SDG 16).
Höhere Ungleichheit geht, insbesondere bei den Armen, mit weniger politischem Engagement und geringerer Wahlbeteiligung einher. Über Lobbyismus, Parteienfinanzierung und Korruption beeinflussen die Reichen die politische Agenda (Stiglitz 2012). Als Folge davon sind politische Entscheidungen, unter anderem in Deutschland und den USA, erheblich zugunsten der Wohlhabenden verzerrt. Nicht verwunderlich ist daher, dass das Vertrauen in demokratische Prozesse in ungleichen Staaten geringer ist. Beunruhigend ist darüber hinaus, dass die wachsende Ungleichheit im Zusammenhang mit zunehmender politischer Polarisierung steht.
Soziale Folgen steigender Ungleichheit
Die sozialen Folgen materieller Ungleichheit wurden bereits Ende der 2000er-Jahre prominent diskutiert. Kate Pickett und Richard Wilkinson (2009) sorgten mit dem Befund für Aufsehen, wonach gleiche Gesellschaften gesünder seien als ungleiche. Dies gilt unter anderem für Indikatoren der individuellen Gesundheit und Lebenserwartung (SDG 3). Aber auch in puncto Bildung (SDG 4), sozialer Mobilität, Vertrauen sowie Gewalt und Kriminalität (SDG 16) schneiden gleichere Gesellschaften besser ab.
Eine wichtige Rolle bei der Erklärung dieses Zusammenhangs kommt dem sozialen Status zu. Unter Bedingungen hoher Ungleichheit steigt der Statuswettbewerb und mit ihm die Angst vor sozialem Abstieg. Die Folge ist Stress, der sich schädigend auf das körpereigene Immunsystem auswirkt. Die gegenwärtige Pandemie dient als traurige Bestätigung der Befunde von Pickett und Wilkinson. Mehrere Studien belegen einen positiven Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und der COVID-19-Sterberate (Elgar et al. 2020; Tan et al. 2021; Davies 2021; Wildman 2021; Gu 2021).
Ökologische Folgen steigender Ungleichheit
Auch aus ökologischer Perspektive stellt Ungleichheit ein Problem dar. Nicht nur emittieren die einkommensstärksten 10 Prozent knapp die Hälfte der globalen Treibhausgase. Höhere Einkommensungleichheit steht auch in signifikantem Zusammenhang mit Biodiversitätsverlust (SDG 15). Einige Untersuchungen deuten zudem darauf hin, dass Staaten mit geringerer materieller Ungleichheit eine bessere Luft- und Wasserqualität aufweisen (SDG 6) und im Vergleich zu Staaten mit größerer Ungleichheit weniger Treibhausgase emittieren (SDG 13) (Knight et al. 2017; Baloch et al. 2018; Liu et al. 2019).
Als eine Ursache dieses Zusammenhangs gilt erneut der gesteigerte Statuswettbewerb. Dieser führe zu mehr Statuskonsum, was den Ressourcenverbrauch erhöhe. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive ist das höchst ineffizient. Da Status ein relatives Gut ist, sind die Statusgewinne der einen die Statusverluste der anderen – bei größerem ökologischem Fußabdruck. Erhöhter Statuswettbewerb steht zudem einer Arbeitszeitverkürzung im Wege.
Andere Erklärungsansätze sind eher politökonomischer Natur. So steigt mit steigender Ungleichheit die Möglichkeit der Reichen, die Kosten ihres umweltschädlichen Lebensstils auf die Gemeinschaft abzuwälzen. Die sozialen Auswirkungen der Ungleichheit schwächen zudem die Resilienz von Gemeinschaften und untergraben gesellschaftliche Kooperation. Notwendige Klimaschutzmaßnahmen sind so schwieriger durchzusetzen.
Fazit
Im Zuge der COVID-19-Pandemie nehmen inner- und zwischenstaatliche Ungleichheit zu. Damit wird die Weltgemeinschaft nicht nur im Hinblick auf das Ziel, Ungleichheiten zu verringern, zurückgeworfen (SDG 10). Die ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Folgen von Ungleichheit beeinträchtigen auch die Verwirklichung einer Reihe weiterer Ziele der Agenda 2030. Dazu zählen die Bekämpfung von Armut (SDG 1) und Hunger (SDG 2), Gesundheit (SDG 3), Bildung (SDG 4), Geschlechtergerechtigkeit (SDG 5), Wasser (SDG 6), Wirtschaftswachstum (SDG 8), nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen (SDG 12), Klimawandel (SDG 13), Biodiversität (SDG 15) sowie Frieden und Demokratie (SDG 16).
Dabei sind notwendige Gegenmaßnahmen zur Reduzierung von Ungleichheit bekannt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen würde davon profitieren. In Deutschland befürwortet eine Mehrheit fiskalpolitische Maßnahmen zur Reduzierung von Ungleichheit. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes forsa hielten es 62 Prozent der Befragten für wichtig, sehr hohe Vermögen, Erbschaften und Einkommen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen.
Die Reduzierung von Ungleichheit nimmt eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der Agenda 2030 und ihrer Ziele ein. Dies muss sich auch in der Nachhaltigkeitskommunikation widerspiegeln. Dabei geht es auch darum, die Wechselwirkungen zwischen den Zielen aufzuzeigen. Insbesondere der Zusammenhang von Ungleichheit und Klima muss in Zukunft deutlicher kommuniziert werden. Die Botschaft muss lauten: Ohne eine Strategie zur Reduzierung von Ungleichheiten ist effektiver Klimaschutz unmöglich.
Progressive gesellschaftliche Akteure sollten diese Debatte führen und prägen. Die politischen Antworten auf die Pandemie eröffnen Handlungsmöglichkeiten, die genutzt werden sollten. Und das schnell, bevor die Chance vertan ist. So scheinen die Pläne von US-Präsident Joe Biden, die Reichen stärker zu besteuern, bereits gescheitert. Immerhin hat Argentinien kürzlich eine einmalige Vermögensabgabe für Reiche beschlossen. Auch die neue Bundesregierung sollte angesichts der Herausforderungen von Pandemie und Klimawandel das Ziel der Reduzierung von Ungleichheit ins Zentrum ihrer Politik stellen. Auf globaler Ebene gilt es in diesem Zusammenhang auch, die Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen schnellstmöglich zu adressieren, um die Pandemie der Ungleichheit einzudämmen.
Anmerkung
1 Die globale Einkommensungleichheit setzt sich zusammen aus Daten zu innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Einkommensungleichheit.
Literaturhinweise
Obenland, Wolfgang (2018): Ungleichheiten verringern! SDG 10: Schlüssel zur Verwirklichung der Agenda 2030. Global Policy Forum.
Okun, Arthur (1975): Equality and Efficiency: The Big Tradeoff. Brookings Institution Press 2015.
Pickett, Kate/Wilkinson, Richard (2018): The Inner Level. Allen Lane.
— (2009): The Spirit Level: Why more equal societies almost always do better. Allen Lane.
Rajan, Raghuram (2010): Fault Lines: How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton UniversityPress.
Rodrik, Dani/Stantcheva, Stefanie (2021): A Policy Matrix for Inclusive Prosperity. Economics for Inclusive Prosperity
Research Brief.
Stanley, Jason (2015): How Propaganda Works. Princeton University Press.
Stiglitz, Joseph (2012): The Price of Inequality. W.W. Norton & Company.
Websites
Website der World Inequality Database.
Website des Global Policy Forums zur Agenda 2030.
Website des BMZ zu SDG 10.
Interaktives Tool der OECD zum Thema Einkommensungleichheit.
Interaktives Tool der Zeit und des Forschungszentrums Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen (socium) zum Thema Vermögensungleichheit.
Es handelt sich um eine leicht veränderte Fassung des vom Global Policy Forum veröffentlichten Briefings. Zur Erstveröffentlichung siehe:
Timo Dziggel
Die Pandemie der Ungleichheit. Verteilungseffekte der COVID-19-Krise
Briefing Dezember 2021, hrsg. vom Global Policy Forum
Außen- und Sicherheitspolitik
Kommentar / Jens Martens / 23.09.2021
Acht Punkte für eine globale Agenda strukturellen Wandels nach der COVID-19-Pandemie. Triebwerke der sozial-ökologischen Transformation
Der Autor bezweifelt, dass die vom Weltwirtschaftsforum als Antwort auf die Covid-19-Pandemie gestartete Initiative eines „Great Reset“ des Kapitalismus hilft, die aktuellen Krisen tatsächlich zu überwinden. In dem von einer globalen Koalition von Organisationen der Zivilgesellschaft, u. a. dem Global Policy Forum, herausgegebenen Bericht „Spotlight on Sustainable Development 2020“ wird stattdessen eine Agenda formuliert, die für acht Politikbereiche Reformen und auch Veränderungen in den zugrunde liegenden Narrativen vorsieht, wie Jens Martens schreibt. Hierzu zähle etwa die Durchsetzung der Klimagerechtigkeit.
Analyse / Bodo Ellmers, Jens Martens / 14.05.2020
Globale Reaktionen auf die Coronakrise. Solidarität darf nicht an Ländergrenzen enden
Die globale Corona-Pandemie habe nicht nur gravierende Auswirkungen auf die Gesundheitssituation in vielen Ländern der Welt, sondern werde laut Bodo Ellmers und Jens Martens auch den Welthandel, die Finanzmärkte und die Verwirklichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) beeinflussen. Es sei zu befürchten, dass die Menschen in vielen Ländern des Globalen Südens die Ausläufer der Krise noch stärker zu spüren bekommen als die in den reicheren Industrieländern. Um zu verhindern, dass die Coronakrise zu einer globalen Entwicklungskrise wird, dürfe Solidarität nicht an Ländergrenzen enden.
Analyse / Wolfgang Obenland / 05.06.2018
Ökonomische Ungleichheiten verringern. SDG 10 als Schlüsselziel der Agenda 2030
Die Tatsache, dass die Reduzierung von Ungleichheiten explizit in den Katalog der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung aufgenommen worden ist, stellt nach Meinung von Wolfgang Obenland eine der größten qualitativen Neuerungen der Agenda gegenüber vorherigen Entwicklungsstrategien der Vereinten Nationen dar. Die Aufnahme nicht nur von klar definierten Vorhaben für Länder des globalen Südens, sondern auch für solche am oberen Ende der Einkommensverteilung, wie etwa Deutschland, liefere die politische Grundlage für die angestrebte „Universalität“ der Agenda.