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Rezension / 24.07.2017

Hans-Jürgen Burchardt / Stefan Peters / Nico Weinmann: Entwicklungstheorie von heute – Entwicklungspolitik von morgen

Baden-Baden, Nomos 2017

Angesichts der eher bescheidenen entwicklungspolitischen Erfolge der vergangenen Dekaden wollen die Herausgeber Hans-Jürgen Burchardt, Stefan Peters und Nico Weinmann mit diesem Band neue Horizonte für die künftige internationale Zusammenarbeit aufzeigen. Zum einen werden verschiedene entwicklungstheoretische Diskurse aufgegriffen, zum anderen Stärken und Schwächen bisheriger Entwicklungspolitik an länderbezogenen Fallbeispielen und für relevante Themenfelder wie Arbeit, informelle Ökonomie und soziale Ungleichheit sowie Rohstoff- und Umweltpolitik erörtert. Unter anderem wird gefordert, endlich den Eurozentrismus in der Entwicklungsforschung abzulegen.

Den Herausgebern Hans-Jürgen Burchardt, Stefan Peters und Nico Weinmann geht es in diesem Band darum, „aktuelle Kenntnisse aufzunehmen, innovative Impulse darzustellen und neue Horizonte aufzuzeigen, wo die internationale Zusammenarbeit hingehen kann und muss, wenn sie von gegenseitigem Verständnis und Unterstützung geprägt sein soll“ (7). Dieses Ziel ist hochgegriffen, denn Entwicklungspolitik und vor allem Entwicklungstheorie ist ein heiß umkämpftes Feld. Während die Vereinten Nationen ihren Millenniumszielen (MDGs) einen großen Erfolg bescheinigen und diesen 2016 auch die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) beigefügt haben, scheinen die globalen Problemlagen wie Dürre, Hunger, Krieg und Flucht nicht weniger zu werden. Auch die kritischen Stimmen zu Zielen und Methoden der internationalen Zusammenarbeit werden nicht leiser und die Statistiken können unterschiedlich gelesen werden. „Ohne Chinas und Indiens Entwicklungserfolge sähe beispielsweise die gesamte Millenniumsbilanz wesentlich bescheidener aus.“ (18) Die Vorwürfe an die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sind Legion. Ihr wird „eine allgemeine ‚Überforderung‘ [...] oder eine ‚Systemkrise‘ [...] bescheinigt, sie wird auch als ‚Fehlentwicklungshilfe‘ [...], ‚Tyrannei der Experten‘ [...] oder ‚institutionalisierte Besserwisserei‘ [...] tituliert.“ (19) Ganz fundamental wird kritisiert, die EZ sei Erfüllungsgehilfin der Politik oder einfach nur Geschäftemacherei.

Auch das theoretische Fundament ist brüchig. Bereits in der Frage, was eigentlich Entwicklung sei, ist die Fachwelt uneinig: „Denn der Begriff bzw. ein Verständnis von Entwicklung ist vor allem eine Projektionsfläche, auf der sehr unterschiedliche Werte, Leitbilder und Erfahrungen abgebildet werden. [...] Trotz dieser scheinbaren Unübersichtlichkeit bleibt sich die Entwicklungsforschung in einem zentralen Punkt stets treu: Sie will die Welt nach westlichem Antlitz gestalten.“ (20 f.) Dabei sei Wachstum bis heute der wichtigste Maßstab für Entwicklung. Mit den SDGs wurde 2016 ein wenig die Richtung geändert und auch von den Ländern des globalen Nordens Anpassungen im Bereich Konsum und Stadtentwicklung gefordert.

Vor diesem Hintergrund vertritt Heidemarie Wieczorek-Zeul die These, dass die SDGs eine zentrale Rolle bei einer neu ausgerichteten EZ spielen können und sollten und diese als globale Strukturpolitik verstanden und als solche praktiziert werden müsse. Alexandra Bechtum und Bernd Overwien plädieren für eine stärkere Verankerung postkolonialer Ansätze in der Lehramtsausbildung, mit der aber auch ein erhöhter Praxisbezug der entsprechenden Ansätze einhergehen müsse. Stefan Peters betrachtet die Varianz entwicklungsstaatlicher Arrangements am Beispiel von China, Ecuador sowie den Malediven und geht auf Stärken und Schwächen der zugrundeliegenden Modelle ein. Anhand empirischer Untersuchungen über Ungleichheit in Brasilien, Kenia und Laos kommen Boike Rehbein und Florian Stoll zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte zu sehr unterschiedlichen Mittelschichts-Formationen führen können und dass die bestehenden wissenschaftlichen Modelle von begrenztem analytischem Nutzen seien. Claudia von Braunmühl befasst sich mit dem Genderaspekt und führt aus, dass trotz einer Allgegenwart des Gender-Mainstreamings bisher keine Geschlechterdemokratie erreicht worden sei und Geschlechterrollen nicht hätten aufgebrochen werden können.

Der Erkenntnis folgend, dass Wirtschaftswachstum als alleiniger Marker für Entwicklung zu kurz greift und nicht zwingend armutsmindernd ist, wurde ab der Jahrtausendwende der Fokus zunehmend auf den Faktor Arbeit gelegt, dem mehrere Beiträge gewidmet sind. Entsprechend findet sich auch in den SDGs die Forderung nach mehr produktiver und menschenwürdiger Arbeit. „Letztlich würden – so die Hoffnung – über positive Beschäftigungs- und Einkommenseffekte nicht nur Wachstum, sondern auch die soziale Kohäsion und politische Stabilität von Gesellschaften gesteigert werden.“ (33) Die Entwicklungspolitik hat sich entsprechend auch dem Problem der informellen Arbeit (Überlebens-, Sklaven-, oder Zwangsarbeit) zugewandt. Da auch der Begriff der Informalität letztlich ein Sammelbecken für nicht-westliche Arbeitsmodelle darstellt, besteht hier ebenfalls ein Desiderat für die Entwicklungsforschung, das Verständnis dieser Ökonomien weiter zu schärfen. Johanna Neuhauser, Johanna Sittel und Nico Weinmann legen in ihrem Beitrag den Finger in diese Wunde und verdeutlichen, dass die konventionellen Perspektiven auf das Thema zumeist erwerbs-, andro- und eurozentriert sind. Sie präsentieren zudem neue Ansätze einer kontext- und geschlechtersensibleren Analyse.

Florian Butollo und Stefan Schmalz konzentrieren sich auf das chinesische Beispiel der Industrialisierung und Urbanisierung sowie deren Folgen für das Arbeitsumfeld der Menschen. Die Gleichzeitigkeit hochmoderner Produktionsanlagen an der Küste steht der billigen Arbeitskraft auf dem Land gegenüber und verschafft China so einen spezifischen Wettbewerbsvorteil – der aber zunehmend zu inneren Unruhen führt. Carmen Ludwig betont die politische (gewollte) Komponente informeller Arbeit am Beispiel der Müllsammlung in Südafrika.

Rohstoffe und die Abhängigkeit der Länder des globalen Südens von deren Export sind ein weiteres zentrales, entwicklungsrelevantes und zugleich konfliktträchtiges Zukunftsthema. Kristina Dietz spricht sich für eine stärkere Fokussierung auf Interaktionen zwischen Staaten und Regionen bei der Analyse globaler Rohstoffgovernance aus. Einen einzelnen Staat als Black Box zu behandeln, helfe analytisch nicht weiter. Auch Melanie Pichler, Alina Brad und Anke Schaffartzik stützen diesen Befund über räumliche Dynamiken am Fallbeispiel Indonesiens.

Almut Schilling-Vacaflor und Christoph Steinert betrachten am südamerikanischen Beispiel die sozioökonomischen Folgen und die Auswirkungen der Proteste gegen die Rohstoffausfuhr. Kritisch konstatieren sie eine Aushöhlung der Rechte indigener Bevölkerungsgruppen zugunsten wirtschaftlicher Interessen. Auch Stefan Peters betont am Beispiel Angola, dass die soziokulturellen Folgen einer Abhängigkeit von Rohstoffrenten stärker in den Blick genommen werden müssen. Auch dieser Teil schließt mit einem eindeutigen Forschungsdesiderat ab: „Zwar gibt es eine Reihe von Einzelfallstudien zu verschiedenen Extraktionsmodellen, aber es mangelt [...] an systematischen transregionalen Vergleichen rohstoffbasierter Entwicklungsmodelle“ (40).

Burchardt schließt die Reihe der Beiträge mit einer theoretischen Überlegung und fordert eine stärkere Berücksichtigung der Akteurs- und Affektebene in der Entwicklungsforschung. Insgesamt fordern die Autor*innen eine stärker kontextbezogene und dezentrierte Forschung, die den Eurozentrismus ablegt, ohne „in Kulturrelativismus oder kleinteilige Betrachtungen zurückzufallen“ (29). Entwicklungspolitik dürfe nicht mehr allein als Anforderung an den globalen Süden verstanden werden und müsse sich mit den zentralen Themen soziale Ungleichheit, Sozialreformen, informelle Ökonomie, Rohstoffpolitiken, Umweltschutz und Nachhaltigkeit befassen.

Die Herausgeber schließen ihre Einleitung mit dem Satz: „Dieses Buch wendet sich darum sowohl an Entwicklungstheoretiker und -kritiker, an Skeptiker der Entwicklungspolitik als auch an entwicklungspolitische Praktiker, die in ihren Überzeugungen oder ihrer Arbeit für neue Impulse offen und bereit sind [...].“ (42) Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

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