Christopher Daase / Nicole Deitelhoff / Ben Kamis / Jannik Pfister / Philip Wallmeier (Hrsg.): Herrschaft in den Internationalen Beziehungen
Die Autor*innen fragen nach unterschiedlichen Dimensionen der Herrschaft in den internationalen Beziehungen. Sie betrachten den Grad der Institutionalisierung von Machtverhältnissen, wie er durch die Zunahme von Entscheidungen auf überstaatlicher Ebene wahrgenommen wird. Daran anknüpfend werden auch grenzüberschreitende Formen des Widerstands in den Blick genommen. Durch die Annahme der Herausbildung struktureller Machtungleichgewichte auf der überstaatlichen Ebene soll das Bild der internationalen Beziehungen als „Sphäre struktureller Anarchie“ einer Prüfung unterzogen werden.
Machtverhältnisse und Formen des Widerstands
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes fragen nach unterschiedlichen Dimensionen der Herrschaft in den internationalen Beziehungen. Sie betrachten den Grad der Institutionalisierung von Machtverhältnissen, wie er durch die Zunahme von Entscheidungen auf überstaatlicher Ebene (zum Beispiel in der Europäischen Union; G7) wahrgenommen wird. Daran anknüpfend werden auch grenzüberschreitende Formen des Widerstands in den Blick genommen. Durch die Annahme der Herausbildung struktureller Machtungleichgewichte auf der überstaatlichen Ebene soll das Bild der internationalen Beziehungen als „Sphäre struktureller Anarchie“ (2) einer Prüfung unterzogen werden.
Christian May untersucht in diesem Kontext den sogenannten Aufstieg des Südens, und meint damit den Bedeutungsgewinn der auch als BRICS bekannten Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Im Rahmen der klassischen Herrschaftsanalyse nimmt May an, dass bei auf längere Dauer bestehenden Über-/Unterordnungsverhältnissen Widerstand entstehen müsste. Diesen erwartet er auch in der aktuellen Situation der Süd-Länder, die bis in die 1970er-Jahre hinein vom Norden ausgebeutet wurden (51), nun aber ökonomisch unabhängiger sind. Wären also Widerstandsprojekte der BRICS gegen ‚den Norden‘ nachzuweisen, könnte auf ein bestehendes Herrschaftsverhältnis geschlossen werden. May untersucht diese These mithilfe von drei theoretischen Konzepten, dem Hegemoniebegriff, der transnationalen Klasse und der Institutionenherrschaft. Er sieht hinsichtlich einer neuen Hegemonialmacht im 21. Jahrhundert keinen Staat, der die Vereinigten Staaten herausfordern könnte. Trotz deren Machtverlusts sei kein aufsteigender Zyklus Chinas zu beobachten. Kein Land werde mehr vom Prinzip der „Nichtintervention“ (62) geleitet als China (diese These würde allerdings angesichts der verstärkten Aktivitäten in Afrika, des Projekts Seidenstraße und des Verhaltens im Südchinesischen Meer einen zweiten Blick verdienen). Auch finde kein Kampf internationaler Klassen statt, schreibt May, diese seien mehr daran interessiert, in ihren Heimatmärkten Profite zu erwirtschaften. Hinsichtlich der internationalen Institutionen vermutet er, dass durch die Gründung des BRICS-Dialogs die gesunkene Abhängigkeit der Süd-Länder festgeschrieben werden soll. Schlussendlich finde jedoch kein Widerstand statt und May erhofft sich durch die Ausdifferenzierung dieses Begriffs weitere analytische Erkenntnisse der aktuellen Situation.
Einen Vorschlag für die Weiterentwicklung des Widerstandsbegriffs macht Doerthe Rosenow in ihrem Beitrag „Flucht vor ‚herrschender‘ Kritik? Occupy Wallstreet und Affektpolitik“. Herrschaft, argumentiert sie mit Bezug auf den existenzialistischen Philosophen Gilles Deleuze, bestehe nicht nur in Organisationen, sondern auch im Denken. Ein Beispiel dafür ist die von Kindheit an internalisierte Denkweise, Dinge, Geschehen oder Ereignisse als gut oder schlecht einzuordnen. Solche unbewussten Kategorisierungen der Herrschaft finden sich sowohl bei den Herrschenden als auch bei denjenigen, die gegen deren Herrschaft Widerstand leisten. Dieses dualistische Denken führe die Widerstands- teilweise mit den Herrschaftspraktiken zusammen (202), schreibt Rosenow. Am Beispiel von Occupy Wall Street sucht sie Praktiken, die sich dieser Vermischung und damit dem herrschenden Denken entziehen, etwas, dass sie zeitlich und wirkungsmäßig begrenzt als Affektpolitik bezeichnet (203). Dazu analysiert sie zuerst überblicksartig die Äußerungen von Protestbeteiligten, Befürwortern und Gegnern, die unter anderem in den USA während der Occupy-Wall-Street-Proteste durch verschiedene Veröffentlichungen hervorgetreten sind. Sie zeigt in den gewählten Beispielen, unabhängig von der Rolle der jeweiligen Personen, schlüssig binäre Argumentationsmuster, wie zum Beispiel innere und äußere Bewegung, Eingeweihte und Unverständige, Freund und Feind, Aktion und Wandel. Diesen Dualismus überwindet für sie die Affektpolitik am Beispiel des sogenannten Menschlichen Mikrofons, einer Reihe von spontanen Redebeiträgen, die während des Protest geäußert, aufgenommen und, nachdem die Polizei die Mikrofone an sich genommen hatte, weiter über eine Audioanlage verbreitet wurden (208). Sie sieht dies als Beispiel für die Flucht vor der Herrschaft, obwohl die affektive Verbundenheit der Protestierenden aufrechterhalten wird. Weitere Protestaktionen wie #werethe99% und Occupy Slovenia zeigen ihrer Meinung nach in dieselbe Richtung. Rosenow führt aus, und greift dabei wieder auf Deleuze zurück, wie Dualismen durch affirmative Differenz (215) überwunden werden können. Sie vollzieht jedoch ebenfalls nach, dass durch Deleuzes Betonung der Flucht vor den Dualismen der Herrschaft Begriffe wie Repräsentation und die Veränderung von Herrschaft nicht abschließend ausgeführt werden.
Der Sammelband, entstanden im Rahmen des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, enthält also eine Reihe kurzer Beiträge, in denen die Herrschaftsproblematik in den internationalen Beziehungen, Herrschaftskonzeptionen, Widerstand und Herrschaft aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Fallbeispiele wird die Bedeutung der Frage nach den internationalen Beziehungen als „Sphäre struktureller Anarchie“ deutlich, wenn auch die Ansätze zur Entwicklung eines begrifflichen und methodologischen Instrumentariums zur Analyse und Interpretation häufig nur angedeutet werden. Der aktuelle Bezug und die (kenntlich gemachte) normative Ausrichtung der einzelnen Beiträge machen den Band für Studierende im Fach der Internationalen Beziehungen zu einer in großen Teilen empfehlenswerten Lektüre.
Außen- und Sicherheitspolitik
Aus der Wissenschaft
Rassismus, (Gegen-)Macht und Emanzipation im politischen Denken. Zur Dekolonisierung der Internationalen Beziehungen
Ausgehend von dem Eindruck, dass rassistisches Gedankengut in politischer Theorie und Praxis der jüngeren Gegenwart – nicht nur, aber insbesondere in den USA unter Donald Trump – an Bedeutung gewonnen hat, beleuchtet Hendrik Simon aktuelle Debatten zur Dekolonisierung der noch heute zu weiten Teilen US-amerikanisch geprägten politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB). Der Beitrag führt in grundlegende Fragestellungen, Diskussionen und Geschichte(n) der Dekolonisierung in den IB ein, im Mittelpunkt stehen die Debatten am Centre for Advanced International Theory (CAIT).
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Aus der Annotierten Bibliografie
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