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Rezension / 15.01.2018

Olivier Roy: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors

München, Siedler Verlag 2017

Olivier Roy befasst sich mit den Hintergründen und Motivationen islamistischer Terroristen. Dabei folgt er seinem aus vorangegangenen Publikationen bekannten Argumentationsstrang, der die Bedeutung der Religion oder sozio-ökonomischer Probleme als überbewertet betrachtet und stattdessen auf psychologische Faktoren fokussiert. Für ihn sind islamistische Terrorakte nicht zwangsläufig aus der islamischen Lehre hervorgegangen. Die Täter „werden nicht radikal, weil sie bestimmte Texte falsch verstanden haben oder sie manipuliert wurden: Sie sind radikal, weil sie radikal sein wollen“.

Der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy befasst sich erneut mit den persönlichen Hintergründen und der Motivation islamistischer Terroristen. Dabei folgt er seinem bereits aus vorangegangenen Publikationen bekannten Argumentationsstrang, der die Bedeutung der Religion oder sozio-ökonomischer Probleme als überbewertet betrachtet und stattdessen auf psychologische Faktoren fokussiert. Für ihn sind die aktuell zunehmenden islamistischen Terrorakte nicht zwangsläufig aus der islamischen Lehre hervorgegangen. Die Täter „werden nicht radikal, weil sie bestimmte Texte falsch verstanden haben oder sie manipuliert wurden: Sie sind radikal, weil sie radikal sein wollen, weil sie die schiere Radikalität verlockend finden.“ (70)

Hierbei erkennt er ein psychologisches Grundmuster für einen typischen Täter, das er anhand verschiedener Fallbeispiele herausarbeitet. In diesem Kontext sieht Roy Überschneidungen mit dem Linksterrorismus von 1968 bis in die 1990er-Jahre und vergleicht zudem die Tätercharaktere mit denen von Amokläufen an Schulen. So kommt er zu dem Schluss, dass die Täter zumeist verschiedene Versatzstücke einer Ideologie – so eben aktuell die der islamischen Religion – für eine reine Selbstinszenierung nutzen und damit die eigene charakterliche Radikalität zu rechtfertigen suchen. Häufig gehe es dabei auch um einen Bruch mit Konventionen und den eigenen Wurzeln. Dabei stehe am Ende eines solchen Radikalisierungsprozesses ein geschlossenes und (nicht im religiösen Sinne) nihilistisches Weltbild, in dem der Wunsch zum Selbstopfer zu einem festen Bestandteil werde.

Gleichzeitig entlässt er indes die theologischen Vertreter des Islam nicht aus der Verantwortung und stellt – entgegen vieler politisch korrekter Politikeraussagen – fest, dass die Gewalt der Täter sehr wohl auch etwas mit dem Islam zu tun habe, weil sich die Täter ausdrücklich als gläubige Muslime verstehen und selbst definieren. Diese Feststellung ist wichtig und sollte mehr Gehör finden. Auch wenn nach Roys grundsätzlicher These die Religion nicht den primären Faktor der Radikalisierung ausmacht, bietet die islamische Geschichte – auch die des islamischen Propheten – durchaus Kristallisationspunkte für das von Roy beschriebene Bedürfnis der Täter nach einer Rechtfertigung ihrer Gewalt.

Den Abschluss bildet eine Analyse des gegenwärtigen Konfliktkontextes im Nahen Osten, Roy definiert sehr deutlich die divergierenden Interessen der involvierten Mächte und daraus abgeleitet die Rolle des Islamischen Staates und al-Qaidas. Nur aus dem Verständnis der diffusen Allianzen und gegensätzlichen Politiken – auch innerhalb der Anti-IS-Koalition – lässt sich der lange Erfolg des IS erst erklären. In seiner Betrachtung des IS kommt er zu einer beinahe positiven Einschätzung, da dieser mittelfristig an seinen inneren Widersprüchen und Streitigkeiten zerbrechen werde. Roy vertritt die Auffassung, dass bei al-Qaida theologische Fragen eine geringere Rolle spielten als beim Islamischen Staat: „Bei al-Qaida spielen religiöse Texte eine untergeordnete Rolle, in der Propaganda des IS sind sie zentral, und die Radikalen gebrauchen sie zum Zwecke der Beschwörung. Gelesen werden sie hauptsächlich im Internet. Al-Awlaki ist bei ihnen sehr beliebt, weil er auf Englisch publiziert.“ (73) Dieser Einschätzung kann man widersprechen, sie ließe sich genau andersherum fassen, denn gerade Al-Awlaki war einer der wichtigsten Vordenker von al-Qaida und die Organisation hat sich Jahre damit beschäftigt, wann die Grundlagen für die Wiedererrichtung des Kalifates gelegt sein würden – der IS hat dagegen sehr praxisorientiert die Möglichkeiten genutzt, die sich boten.

Insgesamt argumentiert der Autor mit der hohen sprachlichen und analytischen Präzision, für die er bekannt ist. Ebenso bekannt ist seine klare Frontstellung gegen andere Forscherkollegen wie beispielsweise Gilles Kepel. Die Gegenargumente seiner Kollegen greift Roy zwar auf, allerdings nicht, um diese mit neuen eigenen Ansätzen in einer Synthese zusammenzuführen, sondern um sie erneut zurückzuweisen. Auch wenn die Betrachtung der Biografien, die Roy vornimmt, tatsächlich eine sehr geringe theologische Kompetenz der Täter aufzeigt, beweist dies noch keine komplette Beliebigkeit. Sein zuvor genanntes Argument, dass islamistische Anschläge eben doch mit dem Islam zu tun haben, ist hier zentral. Daher wäre es wünschenswert gewesen, den Aspekt, dass die islamische Geschichte Kristallisationspunkte für Radikalität bietet, deutlicher herauszuarbeiten. Dieses Buch wird sicher nicht den Abschluss der Kontroverse zwischen Roy und Kepel und Co. bilden.

Auch wenn also nicht allen Thesen und Folgerungen ohne Weiteres zuzustimmen ist, ist Roys Buch wichtig und notwendig. Aus der Zusammenschau seiner und Kepels Thesen ließen sich wichtige Synthesen für das Verständnis des Phänomens entwickeln und daher sei allen Lesern von Roy auch die Beschäftigung mit den Thesen von Kepel und Co. angeraten.

Empfohlen sei dieses Buch indes nicht nur zur akademischen Lektüre, sondern auch den politischen Entscheidungsträgern, für die es allein wegen Aussagen wie dieser lesenswert ist: „Radikalisierung hat viele und komplexe Ursachen, aber letztlich ist sie eine Wahl, eine persönliche Entscheidung, die zu einer politischen wird, und es ist zwecklos und kontraproduktiv, diese Entscheidung zu Gehirnwäsche und Umnachtung zu erklären. [...] Ich verstehe nicht wie eine ‚Deradikalisierung’ aussehen könnte.“ (151)

 

CC-BY-NC-SA
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