Josef Braml: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können
Josef Braml zeichnet ein kritisches Lagebild der transatlantischen Partnerschaft, deren Herausforderungen und Probleme durch den Angriffskrieg auf die Ukraine lediglich akzentuiert, aber nicht völlig verändert worden seien: Im Fokus stünden dabei einerseits die hegemonialen USA und Europa, dann die inneren und äußeren Dimensionen ihres (Nicht-)Handelns sowie die Verflechtungen mit Herausforderern und Partnern, so Wahied Wahdat-Hagh. Staatsinteressen wolle der Autor ohne Verklärungen analysieren und so verdeutlichen, was die Europäer*innen für ihre Souveränität in Angriff nehmen sollten.
Josef Braml will in diesem Buch der Politik und Öffentlichkeit Denkanstöße geben. Besonders kritisch geht er mit den USA ins Gericht: Es sei eine Illusion, dass Washington in Zukunft in „derselben Weise wie früher“ (8) deutsche Interessen mitvertreten könne. „Illusionslos“ (14) will er die Interessen befreundeter Staaten analysieren.
Der Autor kritisiert den Koalitionsvertrag der Bundesregierung, da man darin das Wort „Interessen“ (7) beinahe vergeblich suche. Die Bonner Republik habe vor dem Hintergrund der desaströsen deutschen Geschichte eine Verantwortungspolitik betrieben, jedoch keine Machtpolitik. Dabei sei das „Denken in nationalen Interessen“ (8) tabuisiert worden. Die nationale Sicherheit wurde der Sieger- und Schutzmacht USA anvertraut. Die „Interessen der „vermeintlichen“ (11) Schutzmacht USA seien nicht mehr mit den deutschen Interessen identisch und kompatibel. Diese veränderte Interessenlage werde aber von Regierungsverantwortlichen nicht verstanden.
Es gehe darum, den „Weg in Richtung einer von den USA unabhängigen Verteidigungsfähigkeit Europas einzuschlagen“ (14). Das USA-Bild, das Braml propagiert, ist düster: Die amerikanische Demokratie sei existenziell bedroht und seit dem Globalen Krieg gegen den Terror haben die Vereinigten Staaten ihre Werte „auf dem Altar der Sicherheit geopfert (131). US-Präsident Joe Biden schätze die Verbündeten mehr als Trump, sofern diese „Russland in Schach halten“ (31). Die USA seien mit China als Hauptbedrohung im Systemwettbewerb beschäftigt. Daher sei zu befürchten, dass die USA ihre Eigeninteressen „noch rücksichtsloser“ (32) durchsetzen und auch Deutschland massiv belasten würden.
China ordne kraft der Seidenstraßen-Initiative und wirtschaftlicher Investitionen „den Welthandel in seinem Sinne“ (40) neu und finde europäische Partner wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland für seine Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB). Die Volksrepublik schaffe weltweit neue Absatzmärkte, könne sich so von den USA „emanzipieren“ (41) und sei auch nicht mehr bereit, mit ihren Devisenreserven den US-Staatshaushalt zu finanzieren. Das Land sei dabei, in „Ostasien eine exklusive Einflusssphäre“ (44) zu etablieren und wolle die US-amerikanische Interventionsfähigkeit verhindern. Australien, Indien und Japan fühlten sich in der Folge gedrängt, sich der „Schutzmacht“ (45) USA anzunähern. Gleichzeitig werde Japan, wegen Trumps Ausstieg aus dem Handelsabkommen Trans-Pacific Partnership (TPP), bei neuen wirtschaftlichen Aktivitäten – wie dem Abkommen Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) – eine Führungsrolle spielen, um von den USA unabhängiger zu werden. Braml schreibt, dass Japan, ebenso wie die NATO-Verbündeten Kanada und Deutschland von der „Schutzmacht mit Strafzöllen erpresst“ (47) worden seien und meint, dass Europa in Zukunft „wirtschaftlich noch mehr ins Hintertreffen geraten“ (48) könnte.
Die russische Führung betrachte die post-sowjetischen Staaten als „Puffer gegen Sicherheitsbedrohungen von außen“ (55). Man könne diesen Konflikt nur verstehen, wenn man die geostrategischen Interessen im Blick behalte, die auch Georgien, die Ukraine, die baltischen Staaten und Polen haben. Allerdings seien die NATO-Verbündeten nicht bereit, das „Leben ihrer Soldaten für die Ukraine zu riskieren“ (58). Russland wolle die Restukraine zur Neutralität zwingen und sich als „eigenständiger Pol behaupten“ (59). Braml vertritt die Meinung, dass Russland gegenwärtig keine imperialistische Expansionspolitik betreibe, wie die Achsenmächte in den 1930er-Jahren. Es gehe Russland „im Kern um die eigene Sicherheit und die Bewahrung seines Einflusses“ (60).
Europas Interesse bestehe darin, „eine stabile regionale Friedensordnung zu etablieren, die die Anwendung von Gewalt und Zwang zwischen Staaten ausschließt und Foren schafft, in denen widerstreitende Interessen auf dem Verhandlungsweg gelöst werden können“ (61). Vorgeschlagen wird ein Wandel durch diplomatische Annäherung und glaubwürdige militärische Abschreckung. Und gleichzeitig wird gefordert, dass die „NATO-Beitrittsperspektive der Ukraine und Georgiens“ (62) zurückgenommen wird, als Ergebnis eines Prozesses, an dessen Ende eine neue Sicherheitsarchitektur stünde. Wie diese gestaltet werden soll, bleibt offen. Gefordert wird eine Neuauflage des KSE-Vertrages, der im November 1990 unterzeichnet wurde, als der Warschauer Pakt aufgelöst wurde und Abrüstungsverträge tatsächlich einen Hoffnungsschimmer boten. Ungeklärt bleibt jedoch, wie innerhalb einer verhärteten Situation, in der Russland wieder durch Krieg eine Weltmacht werden will, ein KSE-Vertrag neu aufgelegt werden und man zu einem „kontrollierte[n] Miteinander“ (62) zurückkehren kann. Braml schreibt, dass Präsident Biden Russland und China nicht mit einer „moralisierenden Wertepolitik“ (66) zusammendrängen, sondern Russland in Richtung des Westens locken solle. Die Idee, dass Europa Russland von China „weglockt“ (64) bleibt verlockend, klingt aber wie eine Illusion.
Die Europäer seien in der Lage, „sich selbst zu verteidigen“ (67). Washingtons Garantie für die europäische Sicherheit sei nicht glaubwürdig, da sie sich auf „einen größeren und fähigeren Gegner, namentlich China einstellen“ (73). China habe zudem als Deutschlands Handelspartner die USA bereits hinter sich gelassen.
Biden bemühe den „äußeren Feind“ (82), um partei- und innenpolitische Probleme zu überwinden. Der US-Präsident wolle seine Machtbefugnisse in der Sicherheitspolitik ausbauen und investiere Steuergelder in den militärischen Sicherheitskomplex, statt diese für soziale Zwecke auszugeben. Die Europäer sollten in „Sicherheitsfragen selbstbewusster auftreten“ (86) und deutlich machen, dass ausländische Kreditgeber die Rüstungsausgaben der USA und die zunehmende Verschuldung privater und staatlicher Haushalte in den USA finanziert hätten. Die USA lebten über ihre Verhältnisse.
Braml problematisiert die nukleare Teilhabe. Der Austragungsort eines nuklearen Krieges sei weit weg von Amerika, „ohne dass Staaten wie Deutschland dafür selbst Atomwaffen erwerben“ (88) dürften. Deutschland werde angehalten, US-amerikanische Waffen zu erhalten, um unter dem „[US-]amerikanischen Nuklearschirm“ (89) zu bleiben. Deutschland solle, wie der ehemalige deutsche Botschafter in Washington Peter Ammon vorgeschlagen habe, sein sicherheitspolitisches Gewissen „hinterfragen“ (90). Es solle sich sicherheitspolitisch an Frankreich binden, zumal sich Frankreich aus der „militärstrategischen Abhängigkeit von den USA lösen“ (91) wolle. Es sei völkerrechtlich möglich, „Frankreichs Atomwaffen mitzufinanzieren, um am französischen Schutzschild teilzuhaben“ (92). Der Autor fordert mitnichten die Ächtung der Atombombe. Vielmehr geht es ihm um die Frage, wer Europa politisch und militärisch führt. Ein europäisches Bündnis mit Frankreich biete den Vorteil, dass „beide Länder ähnliche geostrategische Interessen haben“ (93).
Europäer sollten durch Systeme, wie das Future Combat Air System (FCAS), ihre militärische Abhängigkeit von den USA verringern und dem Ziel ihrer „technologischen Souveränität“ (95) näherkommen. Die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union müsse verbessert werden. Nur ein „einiges Europa, ein supranationaler Rahmen“ (100) gewährleiste die nötige Souveränität. Im Wettkampf zwischen den USA und China seien „Deutschland und Europa zwischen die Fronten geraten“ (101). Während die US-amerikanischen Unternehmen versuchten, sich wirtschaftlich hier zu entkoppeln, sei Japan eher bereit, seinen „Tribut für den amerikanischen Schutz zu leisten“ (103).
Chinas neo-merkantilistische Wirtschaftspolitik müsse mit dem multilateralen Regelwerk der WTO begrenzt werden. Der Autor geht davon aus, dass China sein eigenes „autoritär-digitales“ (131) Modell über Teile Asiens und Afrikas implementieren werde, was europäische Versuche, globale Standards durchzusetzen, untergrabe. Es klingt sehr relativistisch und zynisch, wenn es in der Diskussion über Produkte des chinesischen Unternehmens Huawei heißt, dass Deutschland vor die Wahl gestellt werde, „entweder von den Chinesen oder den USA selbst ausspioniert zu werden“ (134). Die USA unter Biden würden hingegen eine „unilaterale Wirtschaftspolitik mit dem Recht des wirtschaftlich und militärisch Stärkeren“ (106) durchsetzen.
Braml weiß, dass die Europäer sicherheitspolitisch gegenwärtig von den USA abhängig seien, daher sei zwar eine „Äquidistanz“ (108) für Europa keine Option, aber Europa werde angehalten, für die Pax Americana „Tribut“ (111) zu zahlen, was der Autor nicht befürworten könne. Dabei ist die Frage der Tributzahlung an die USA ein alter Kampfbegriff, der spätestens seit den 1980er-Jahren in der kritischen politikwissenschaftlichen Literatur auftritt – und nicht unumstritten ist. Auch als Europa mit Geschäften „im Iran rechnete“ (113), sei der Einfluss der Militär- und Wirtschaftsmacht USA unterschätzt worden. Europa habe seine Iran-Geschäfte und den Zahlungsverkehr mittels INSTEX (71) schon aufgrund der US-Sanktionen nicht aufrechterhalten können. Die Frage an dieser Stelle wäre, ob ein souveränes Europa tatsächlich eine totalitäre Diktatur, wie die der Islamischen Republik Iran, wirtschaftlich stärken würde.
Braml fordert, dass Deutschland „auf ein handlungsfähiges Europa“ (141) setzen müsse. Deutschland solle gar weniger sparen, mehr konsumieren und investieren. Gleichzeitig solle die „Fremdfinanzierung“ (143) der USA gesenkt werden, damit sie besser haushalten. Zudem sollten die europäischen Staaten ihre Kapitalreserven in den Euro investieren, um Europa ökonomisch und militärisch zu ertüchtigen und um die europäische Marktmacht sicherzustellen. Europa brauche eine Central Bank Digital Currency. Der chinesische Juan und der Euro könnten in Zukunft im globalen Finanzsystem „dem US-Dollar Marktteile streitig machen“ (144).
Eine „Äquidistanz“ mit USA und China (146) würde indes nicht infrage kommen, wegen der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Europas von den USA. Gleichzeitig habe das NATO-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung an „Plausibilität“ (146) verloren, da das Geld schließlich für US-amerikanische Rüstung ausgegeben würde. Deutschland sollte gemeinsam mit Frankreich eine Strategie verfolgen, die, wie eingangs beschrieben, eine „nukleare Abschreckung“ (148) beinhalte.
Die Idee eines Kerneuropas, die hier implizit verfolgt wird, ist nicht neu. Es bleiben viele offene Fragen, wie Europa tatsächlich diese, an sich positiv-konnotierte, Souveränität erlangen kann: mit mehr transatlantischer Kooperation oder mit weniger? Offen bleibt ferner die Frage, ob die demokratischen Institutionen in den USA doch nicht stabiler sind, als Braml glaubt, trotz der inneren Widersprüche, welche die kapitalistische Weltmacht aktuell beschäftigen.
Außen- und Sicherheitspolitik
Analyse / Peter Eitel / 09.09.2022
One man’s surprise is another man’s analysis: Warum Regierungen überrascht werden und was man dagegen tun kann
Außenpolitisch schien der Westen zuletzt wiederholt von Ereignissen übermannt. Peter Eitel diskutiert daher für SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen die von der Forschung zu eruierenden Einflussgrößen, damit Staaten in ihren strategischen Planungen künftig ihre Anfälligkeit für Erschütterungen des Internationalen Systems verringern und ihre Resilienz erhöhen können.
Rezension / Rainer Lisowski / 30.04.2020
Niall Ferguson / Fareed Zakaria: Ist die freiheitliche Weltordnung am Ende? Ein Streitgespräch
Die im Buch nachträglich abgebildete Diskussion zwischen Zakaria und Ferguson fand im April 2017 statt: Ferguson habe die These vertreten, die internationale freiheitliche Weltordnung sei weder freiheitlich noch international und ein „chaotischer Haufen konservativer Staaten“. Zakaria habe entgegnet, dass das vom Westen nach dem Weltkrieg geschaffene System internationaler Ordnung nicht am Ende sei, allen seinen Schwächen zum Trotz.
Externe Veröffentlichungen
Elbridge Colby / 09.11.2022
UnHerd
Christine Lambrecht / 12.09.2022
Bundesministerium für Verteidigung
Aaron David Miller, Katherine Tai / 09.09.2022
Carnegie Endowment for International Peace
Carlo Masala / 05.09.2022
Jung & Naiv
Mark Leonard, Carl Bildt, Karoline Edtstadler, Thomas Wieser / 02.09.2022
European Council on Foreign Relations (ECFR)
Ashley Tellis / September 2022
Center for Strategic and International Studies (CSIS)
Europäische Union / 10.01.2022
Bundesministerium für Verteidigung
Oliver Meier / 13.03.2021
ZEIT-Online