Jürgen Peter Schmied (Hrsg.): Kriegerische Tauben. Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart
Sind Liberale wirklich friedliebender? Dieser Frage geht der von Jürgen Peter Schmied herausgegebene Sammelband aus historischer Perspektive nach. Analysiert wird die Außenpolitik von acht europäischen und US-amerikanischen Staatsmännern. In den Blick kommen neben Thomas Jefferson und David Lloyd George auch Joschka Fischer und Barack Obama. Rainer Lisowski hat den Band mit Gewinn gelesen. Angetan ist er von Dieter Langewiesches theoretischer Reflexion zu Liberalismus und Krieg und lobt das Bestreben aller Autoren und Autorinnen, mit Klischees aufzuräumen.
Liberale Demokratien sind anders. Sie führen keine Kriege. Von dieser Idee waren viele Liberale lange Zeit überzeugt. Auch heute noch werden liberale Staatsmänner und -frauen gerne in diese Schablone gepresst. Man erinnere sich nur an Barack Obama und die präventive Verleihung des Friedensnobelpreises an diesen. Doch nicht selten stellte sich heraus, dass die Tauben unter Umständen zu krallenbewehrten Falken wurden. Der Sammelband von Jürgen Peter Schmied versucht in acht Miniaturen diese Falken im Taubenkleid, ihr Handeln und ihre Motivation zu analysieren.
Dabei handelt es sich um acht historische Einzelfallstudien, die nur in groben Zügen von einem analytischen Rahmenwerk umfasst werden. In der Einleitung von Jürgen Peter Schmied und in dem Beitrag „Liberale und Krieg“ (25-36) von Dieter Langewiesche werden zwar einführende Überlegungen gebündelt. Ebenso wird der Versuch unternommen, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Es handelt sich aber nicht um einen belastbaren analytischen Rahmen, auf dem die acht Fallbetrachtungen aufsetzen.
Untersucht wird – in chronologischer Reihenfolge – die Außenpolitik von Thomas Jefferson, William Gladstone, David Lloyd George, Woodrow Wilson, John F. Kennedy, Joschka Fischer, Tony Blair und Barack Obama. Wer auf analytische Strenge bedacht ist, kann an dieser Stelle bereits doppelt einhaken: Es werden Präsidenten, Premierminister und Außenminister miteinander verglichen; zudem passen die Begriffe „liberal“ und „linksliberal“ zwar irgendwie auf alle der genannten Personen. Doch trennen Jefferson, Kennedy oder Fischer nicht nur die Lebensumstände verschiedener Jahrzehnte und Jahrhunderte, sondern auch fundamentale Grundüberzeugungen. Hier hätte dem Buch seitens des Herausgebers etwas mehr Detailorientierung zur politischen Einordung der untersuchten Personen gutgetan. Allerdings werden auf Seite 21 ff. einige Aspekte benannt, die besagte acht Personen aus Sicht des Herausgebers als ähnlich auszeichnen und deren Auswahl begründen. An dieser Stelle ist vor allem ein gewisser universalistischer Idealismus zu erwähnen. Doch gleich zu Beginn dieser Rezension sei noch ein dritter Kritikpunkt angeführt: Es fehlt die Gegenprobe. Der Blick auf solche Progressiven, die nicht interveniert haben, auch wenn Anlass dazu bestand, hätte vielleicht zusätzliche Einsichten bringen können.
Dennoch handelt es sich um einen sehr lesenswerten Sammelband. In der Einleitung versucht Schmied nachzuzeichnen, wie die Idee „friedlicher“ liberaler Politik von zwei Leitgedanken geprägt wurde: Frieden durch Demokratie und Frieden durch Handel. Dabei zieht er eine theoretische Linie von Immanuel Kant und seiner Idee des ewigen Friedens über den Gedanken von Frieden durch Freihandel bis zu Francis Fukuyama und dem „Ende der Geschichte“ (10-16). Sodann kommt Schmied gleich von der Theorie auf die Praxis zu sprechen: So recht funktioniert haben all diese Ideen nicht. Zahllose Kriege – nicht nur die beiden Weltkriege – konnten weder durch zunehmende Demokratisierung noch durch mehr Handel verhindert werden.
Dieter Langewiesche bemüht sich um eine grundsätzliche Einordnung von Liberalen und ihrem Verhältnis zum Krieg. Um den wichtigsten Aspekt vorwegzunehmen: Liberale Überzeugungen verpflichten weder in der Theorie noch in der Praxis zu Pazifismus. Nicht einmal Kant, auf den sich viele an dieser Stelle berufen, habe Verteidigungskriege abgelehnt. Lediglich Angriffskriege habe er kategorisch zurückgewiesen (25). Die den Nationalstaat anstrebenden Liberalen der vorangegangenen Jahrhunderte hatten nach Einschätzung von Langewiesche auch stets die kriegerischen Randbedingungen ihrer Politik klar vor Augen: Nur ein starker, mächtiger Nationalstaat verhinderte nach ihrer Einschätzung die Einmischung fremder Mächte im eigenen Territorium. In der Regel musste dieser Nationalstaat blutig in Revolutionen erkämpft werden (27 ff.). Ohne eine gewisse Bereitschaft zur Gewalt wäre eine Gründung der Nationalstaaten kaum gelungen. Doch auch nach der Schaffung von Nationalstaaten schworen Liberale der Gewalt nie ganz ab. John Stuart Mill etwa sah auf der Welt ein großes Zivilisationsgefälle und leitete aus dem Völkerrecht, wie er es verstand, eine paternalistisch-erzieherische Pflicht zu Eroberungskriegen ab (33). Mit dem Ringen um die Nationalstaaten und dem „Zivilisierungsauftrag“ arbeitet Langewiesche also zwei theoretische Grundgedanken heraus, wieso Liberale niemals Pazifisten waren – selbst wenn sie der Gewalt kritisch gegenüber standen.
An dieser Stelle hätte man dem Aufsatz von Langewiesche noch ein paar Seiten mehr gewünscht, denn hier ließe sich problemlos eine dritte Idee anschließen: die „Verhinderung von Schlimmeren“. Unter diesen Aspekt ließen sich zum Beispiel die Interventionen von Kennedy (Eindämmung eines aggressiven Kommunismus), Obama (Eindämmung von Terrorismus), Blair (Regimewechsel im Irak) und Fischer (Verhinderung weiterer Massaker im ehemaligen Jugoslawien) subsumieren.
Damit wären wir schon bei den inhaltlichen Skizzen. Exemplarisch sollen die drei der jüngsten Vergangenheit herausgegriffen und kurz vorgestellt werden (wenngleich insbesondere die Analysen Jeffersons und Gladstones ausgesprochen interessant zu lesen sind).
Hans Kundnani analysiert zunächst Joschka Fischer und die deutsche Beteiligung am Kosovokrieg gegen Serbien (141-157). Von Beginn an versucht der Autor Fischers „hochmoralisch aufgeladene Argumentation“ (141), die sich insbesondere an die eigene Partei richtete, nachzuzeichnen. Er macht dabei deutlich, wie es Fischer gelang, die alte Formel „Nie wieder!“ (man ergänze das Wort „Krieg“) in ein neues „Nie wieder!“ (man ergänze das Wort „Völkermord“) umzuformen. Indem immer wieder Bezug zu Auschwitz genommen und Srebrenica in eine Reihe zu diesem Menschheitsverbrechen gestellt wurde, konnte Fischer seine ehemals klar pazifistische Partei umstimmen. Kundnani ist indessen davon überzeugt, dass Fischer selbst nie Pazifist gewesen sei (145). Vier historische Stationen zeichnet Kundnani nach, die Fischers interventionistische Überzeugungen über viele Jahre formten: Entebbe (1976), die Eskalation in Bosnien (1993), Srebrenica (1995) und schließlich der Kosovokrieg (1998/1999), bei dem sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen aktiv an der Waffengewalt beteiligten. Damit erreichte die Zugkraft dieser „etwas narzisstischen Diskussion“ (153) über die deutsche außenpolitische Identität aber ihren Höhepunkt: „Auch in Deutschland ist seit dem Kosovokrieg die Bereitschaft, humanitäre Interventionen zu unterstützen, zurückgegangen“ (153). Für den zweiten Krieg zwischen den USA und dem Irak reichte es dann trotz 9/11 nicht mehr. Kundnani zitiert an dieser Stelle Wolfgang Ischinger: „They overplayed the argument in order to win domestic support“. Die alte Formel ist somit für die deutsche Öffentlichkeit wieder zu ihrer Ursprungsform: „Nie wieder – Krieg!“ zurückgekehrt.
Victoria Honeyman sieht in Tony Blair einen Politiker, der wie seine Amtsvorgängerin Margaret Thatcher dazu neigte, komplexe Frage auf Schwarz-Weiß-Muster zu reduzieren. War Blair also ein „Überzeugungstäter“, der ohne jeden Zweifel zur Waffengewalt griff, um das Gute zu erzwingen? Verfolgte Blair, wie er es lautstark kommunizierte, also eine ethisch fundierte Außenpolitik, ausgerichtet an Menschenrechten und stärker normativ als machtpolitisch geprägt (162)? War Tony Blair ein Idealist, der leider Realist sein musste? Die Autorin zeigt sich skeptisch. Zwar ist sie überzeugt, Tony Blair habe unerschütterlich und stets daran geglaubt, das Richtige zu tun – selbst dann, wenn ihm empirische Beweise fehlten. Dennoch skizziert sie seine interventionistische Außenpolitik als „Realismus mit einem Anstrich von Idealismus“ (166). Und sie macht deutlich, welchen Preis er dafür zahlen musste: Ohne den Irakkrieg – so ist sie überzeugt – würde er bis heute als erfolgreicher Premier gelten. Sie vermutet aber, dass die Auswirkung seiner Irakintervention das gesamte politische System Großbritanniens nachhaltig geprägt habe. Künftige Regierungschefs und -chefinnen würden vermutlich sehr, sehr gründlich darüber nachdenken, ob sie ihre außenpolitischen Ziele wie Blair ethisch begründen würden (176).
Oft wurde darüber gesprochen, dass es zwischen Europa und den USA bei der Wahl Barack Obamas ein großes Missverständnis gegeben habe. Thomas Freiberger kommt im Falle von Obamas Drohnenkrieg zu demselben Ergebnis. Der in Europa so wahrgenommene „linksliberale Erlöser“ (176) sei in Wirklichkeit niemals ein Friedenskandidat gewesen. Freiberger arbeitet zunächst die ethische Fundierung von Obamas Außenpolitik heraus. Dieser sei durch (den in Europa weitgehend unbekannten) Reinhold Niebuhr stark geprägt. Dessen Überzeugungen stellten einen wesentlichen Pfeiler von Obamas intellektuellem politischen Kapital dar. Niebuhrs Kernwerk „The Children of Light and the Children of Darkness” (1944) sei in seiner Essenz „christlicher Realismus“ (180) – und eben dies sei Obamas Politik auch. Den Irakkrieg lehnte er (nur deshalb) ab, weil er ihn für eine immense Verschwendung amerikanischer Ressourcen hielt – und nicht, weil er ihn ethisch unbegründbar fand, wie viele in Europa hofften und wie das Nobelpreiskomitee scheinbar irregeleitet vermutete. In Obamas Amtszeit fallen vermutlich über 500 Drohnenangriffe auf Ziele in Pakistan, Jemen und Somalia. Obama habe klar eine Politik des „Töten, nicht verhaften“ verfolgt (185). Die Verlagerung der Verantwortung für diese Angriffe von den regulären Streitkräften zur CIA legt zumindest den Gedanken nahe, dass er sich der (völker)rechtlichen Schwierigkeiten seines Tuns mehr als bewusst war. Zentrale Checks-and-Balances der amerikanischen Verfassung wurden von ihm damit umgangen (194). Obama wirkte auf die Europäer aus der Ferne wie eine Taube, weil sie ihn als solche sehen wollten. Wer genau genug hinschaute, erkannte bei ihm (wie auch bei anderen Liberalen) klar die Krallen des Falken.
Außen- und Sicherheitspolitik
Rezension / Vincent Wolff / 07.04.2021
Barack Obama: Ein verheißenes Land
In diesem Teil seiner Autobiografie gewährt Barack Obama Einblicke in die ersten zwei Drittel seines Lebens. Er will den Leser*innen einen Eindruck davon vermitteln, „wie es sich anfühlt, Präsident der Vereinigten Staaten zu sein“. Sein Buch richtet sich auch an junge Menschen, die er motivieren will, an sich und Amerika zu glauben. Das Einräumen eigener Fehler und seine Fairness bei der Beurteilung politischer Gegner hält Rezensent Vincent Wolff für beeindruckend. Die Ausführungen tragen zum Verständnis von Obamas Präsidentschaft bei, ein möglicher zweiter Teil könnte die Autobiografie spannend ergänzen.
Analyse / Axel Gablik / 27.07.2018
"Don't do stupid shit“. Die Obama-Doktrin oder die Suche nach einem außenpolitischen Erbe
Gibt es eine Obama-Doktrin, mit der sich das Denken und Handeln des damaligen US-Präsidenten nachvollziehbar erklären lässt? Axel Gablik analysiert die Interviews, die Jeffrey Goldberg unter dem Titel „Obama Doctrine“ in The Atlantic zusammengefasst hat, und sichtet weitere Veröffentlichungen zur US-amerikanischen Außenpolitik. Im Ergebnis erkennt er vor allem eine pragmatische, Verbündete einbeziehende Herangehensweise, mit der unter Wahrung der Führungsrolle der USA neue Konflikte und Kriege, die auch wieder nicht zu gewinnen gewesen wären, vermieden werden sollten.
Rezension / Florian Weber / 01.01.2006
Michael Schwelien: Joschka Fischer. Eine Karriere
Schlaglichter einer ungewöhnlichen Politikerbiographie: revolutionärer "Sponti", der die Arbeiter bei Opel zu Streik und Aufruhr anstachelt; Hausbesetzer im Frankfurter Westend; Fundamentaloppositioneller im Bundestag; Minister in Turnschuhen; leibesfülliger Realpolitiker; graumelierter Außenminister im Nadelstreifen-Anzug. Der Autor, der Fischer aus der gemeinsamen Zeit in der Frankfurter Anarchoszene kennt, beginnt seine Biographie mit einem Daumenkino, dessen Durchlauf er an einigen Stellen unterbricht, um wenige Augenblicke bei den einzelnen Entwicklungsstationen Fischers zu verharren. Anekdotenreich, mit Liebe zum Detail und Wissen aus dem Nähkästchen führt er den Leser an eine Lebensgeschichte heran, die er seit 30 Jahren, mal aus unmittelbarer Nähe, mal aus der Ferne, verfolgt hat.
Rezension / Matthias Lemke / 24.01.2013
Dieter Senghaas: Weltordnung in einer zerklüfteten Welt. Hat Frieden Zukunft?
Die Welt, so lautet Senghaas’ eingangs formulierte Annahme, ist lediglich für knapp ein Fünftel ihrer Bewohner jene OECD-Welt, aus der heraus seit Ende des Kalten Krieges Weltordnungspolitik im Sinne des so schillernden Konzepts der Global Governance formuliert worden ist. Für den Rest gilt ein ganz anderer, verstörender Befund.
Externe Veröffentlichungen
Klaus Schwabe / 15.03.2021
sehepunkte 21 (2021)
Wilfried Hinsch / 17.09.2020
Soziopolis