Laura Dickmann-Kacskovics: Junge Salafitinnen in Deutschland. Biographische Verläufe, Orientierungs- und Handlungsmuster. Eine qualitativ-empirische Studie
Die Studie untersucht, warum sich junge Frauen hierzulande salafitischen Gruppierungen zuwendeten. Die Autorin besuchte von 2015 bis 2017 unter anderem Frühstückstreffen, Islamunterricht sowie Freitagsgebete in quietistisch-salafitischen Milieus. Der Arbeit gelinge es, „vielfältige Einsichten in die Lebenswelten“ der Interviewten zu geben, wie unsere Rezensentin Susanne Johansson lobend hervorhebt. Ein noch „unausgeschöpftes Potential“ sieht sie indes im Fehlen einer „systematische[n] Ausarbeitung einer Typologie“ der Ergebnisse bezüglich der Frage nach dem „subjektiven Sinn“ der sich neu orientierenden Frauen.
Eine Rezension von Susanne Johansson[1]
In ihrer Dissertation „Junge Salafitinnen in Deutschland. Biographische Verläufe, Orientierungs- und Handlungsmuster. Eine qualitativ-empirische Studie“, die am Institut für Religionswissenschaft in Bremen verfasst wurde, geht Laura Dickmann-Kacskovics den Haupt-Fragestellungen nach, „welcher subjektive Sinn […] hinter der Hinwendung junger Frauen zur salafitischen Gruppierung“ steht und „welche Implikationen der Anschluss an salafitische Gruppierungen für die Lebensführung der jungen Frauen“ mit sich bringt (16).
Insbesondere die erste Fragestellung macht deutlich, dass die Autorin sich methodisch im qualitativ-interpretativen Paradigma bewegt und eine „Verstehensperspektive“ einnimmt (14): Sie hat ihrer Arbeit einen ethnografischen Zugang, das heißt Feldforschung insbesondere mittels Beobachtung in den konkreten Lebenswelten der jungen Frauen, zugrunde gelegt[2]. In den Jahren 2015 bis 2017 bewegte sie sich teilnehmend beobachtend in salafitischen[3] Milieus, besuchte hierbei unter anderem „eine Schwesterngala, Hochzeiten, Frühstückstreffen, Islamunterricht [und] Freitagsgebete“ (18), um sich die sozialen Lebenswelten der Frauen sowie einen Zugang zu potenziellen Interviewpartnerinnen zu erschließen. Dieses Vorgehen ergänzt sie um biografisch-narrative Interviews mit acht jungen Frauen aus unterschiedlichen salafitischen Strömungen. Die darauf basierenden Fallrekonstruktionen stellen das Herzstück der Publikation dar.
Dickmann-Kacskovics betont, dass sie das Phänomen der Hinwendung junger Frauen zu salafitischen Milieus explizit nicht aus einer Sicherheitsperspektive betrachtet (22). Sie nähert sich ihrer Fragestellung unter Bezugnahme auf Perspektiven und Konzepte der Sozialen Arbeit sowie der Religionssoziologie und möchte sowohl Beiträge „zur religionswissenschaftlichen Forschung zur religiösen Praxis und Lebensführung in fundamentalistischen Bewegungen als auch zur sozialwissenschaftlichen Mädchen- und Weiblichkeitsforschung“ leisten (10). Ihr forscherischer Fokus liegt hierbei auf Hinwendungsprozessen junger Frauen in der Adoleszenz und Post-Adoleszenz; ein zentrales Bezugskonzept der Autorin stellt das Konzept der „Lebensbewältigung“ von Lothar Böhnisch dar. Zentrales Ziel ist auch die Ableitung von Handlungsempfehlungen für die sozialarbeiterische Praxis (ebd.).
1. Zentrale Stärken und Verdienste der Studie
Mit ihrer Fragestellung und ihrem methodischen Vorgehen antwortet Dickmann-Kacskovics auf eine dezidierte Forschungslücke. Forschung zu salafitischen Frauen, die nicht auf Dokumentenanalysen, sondern auf Primärdaten basiert, stellt immer noch eine Seltenheit dar. Dies gilt insbesondere für Studien, die biografieanalytisch vorgehen und auf das Jugendalter fokussieren (vgl. Glaser/Johansson 2023: 127).
Neben der Bearbeitung der genannten Forschungslücke aus transdisziplinärer Perspektive liegen Hauptverdienste der Untersuchung zum einen in der Zugangserschließung zu Frauen, die sich in salafitischen Milieus bewegen, der transparenten Beschreibung der Herausforderungen in der Erhebung und Auswertung des Datenmaterials sowie den vorliegenden acht Fallrekonstruktionen.
a) Zugangserschließung zum Feld
Dickmann-Kacskovics ist es gelungen, sich Teile der Lebenswelt junger salafitischer Frauen zu erschließen und biografisch-narrative Interviews mit Salafitinnen zu führen. Sie beschreibt nachvollziehbar, dass sich der persönliche Zugang zu den jungen Frauen im Rahmen der Studie insofern sehr herausforderungsvoll gestaltete, als dass es sich um eine Gruppierung handelt, die „sich in private Räumlichkeiten zurückzieht und sich absichtlich von der Umwelt isoliert“ (17). Darüber hinaus kommt zum Tragen, dass im Erhebungszeitraum djihadistische Anschläge stattfanden, die bei den Frauen zu Befürchtungen führten, im Rahmen von Studien mit dem Salafismus djihadistischer Prägung assoziiert zu werden (19). Der ethnografische Zugang und die hierüber hergestellten persönlichen Kontakte dienen der Verfasserin vor diesem Hintergrund explizit auch zur Akquise von Interviewpartnerinnen. Letztlich erklärten sich acht von 25 kennengelernten jungen Frauen zu einem biografisch-narrativen Interview und dessen Aufzeichnung bereit. In zwei Fällen wird das Interview nicht face-to-face geführt, sondern erfolgt als versendete Sprachnachricht (Fall „Züleyha“) und als Interview via E-Mail (Fall „Klara“). In einem weiteren Fall beeinflusst das Interviewsetting („Nour“ wird von einer Glaubensschwester begleitet) mutmaßlich den Interviewverlauf. Die genannten Aspekte verändern den Charakter der Interviews (vgl. 228) und zeugen zugleich von der Notwendigkeit flexibler Herangehensweisen. Darüber hinaus sind die Interviews durch klassische Topoi von Konversionserzählungen sowie die Wiederholung von Inhalten salafistischer Prediger gekennzeichnet (165 ff., 236) – diesem Aspekt muss in der Interpretation des Interviewmaterials spezifisch Rechnung getragen werden. Insgesamt drücken sich hier Spezifika des Felds „Frauen in salafitischen Gruppierungen“ aus; die transparente und detaillierte Darstellung der Zugangserschließung zum Feld sowie der Erhebungssituationen liefert dabei wertvolle Ansatzpunkte für weitergehende methodologische Reflexionen.
b) Detaillierte Fallrekonstruktionen auf der Basis von biografisch-narrativen Interviews
Die auf der Auswertung der biografisch-narrativen Interviews basierenden Fallrekonstruktionen bilden den Kern der Studie. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Hinwendung zu salafitischen Milieus als Bewältigungsversuch von Krisenerfahrungen und starker emotionaler Belastung in der (Post)Adoleszenz eingeordnet werden kann. Die Hinwendung bzw. Konversion zu einem Islam salafitischer Prägung und die Zugehörigkeit zu entsprechenden Strömungen wird in bestimmten Lebensphasen bzw. auch längerfristig funktional für die interviewten jungen Frauen; sie erfüllt einen subjektiven Sinn. Aus den Fallrekonstruktionen geht hervor, dass diese Funktionalitäten in den analysierten Fällen – wie ähnlich auch in anderen Studien aufgezeigt (vgl. Glaser/Johansson 2023) – zum Beispiel in der Wahrnehmung von sozialer Anerkennung, Wertschätzung und der Zugehörigkeit zu einer „elitären“ und/oder Geborgenheit versprechenden Gemeinschaft (zum Beispiel Fall „Saida“, Fall „Filiz“) sowie in der Identitätsfindung und Distanzierung vom Elternhaus (Fall „Saida“) liegen. Hochfunktional im Hinblick auf Lebens- und Krisenbewältigung kann auch die Orientierung an strengen, vermeintlich eindeutigen religiösen Regeln und Ritualen und/oder die religiöse Umdeutung von Erfahrungen des Scheiterns werden (Fall „Filiz“). Im Zusammenhang mit Lebensbewältigung kommt insbesondere auch der Funktion der Verantwortungsabgabe (hier an Gott und/oder einen Ehemann), zum Beispiel im Zusammenhang mit religiösen Legitimierungen von Schulabbruch, sozialem Rückzug oder Weltflucht eine besondere Bedeutung zu (Fall „Jasmin“, Fall „Züleyha“). Gerade die Exploration der letztgenannten subjektiven Funktionalität ist meines Erachtens mit einem hohen Erkenntniszugewinn verbunden.
Insgesamt liefert die Studie vielfältige Einblicke in die Lebenswelten von jungen Frauen in salafitischen Gruppierungen, die auf drei Auswertungsebenen dargestellt werden. Allerdings liegt mit dem Fehlen einer systematischen Ausarbeitung einer Typologie, die auf die Frage nach dem subjektiven Sinn der Hinwendung der jungen Frauen zu salafitischen Gruppierungen antwortet, zugleich ein unausgeschöpftes Potential der Studie vor (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 222).
2. Spannungsthemen und Brüche
Neben den klaren Verdiensten der Studie fallen einzelne Spannungsthemen, Disparatheiten und kleine Brüche in der Leser*innenführung auf, die sich teilweise aus der Genese der Studie erklären: Zwischen dem Dissertationsexposee und Publikation liegen insgesamt zehn Jahre, in denen auch die konkreten Fragestellungen auf der Basis des erhobenen empirischen Materials entwickelt wurden. Zusätzlich kommt hier möglicherweise aber auch eine Themen- und Forschungsfeldspezifik zum Tragen, die in Form spezifischer Herausforderungen auch andere Forschungsvorhaben im Feld prägen kann. Ausdrücklich ohne die Verdienste der Studie schmälern zu wollen, sollen sie daher an dieser Stelle kurz angerissen werden.
a) Spannungsthemen „Grundlagen- vs. Anwendungsorientierung“ und „Bezugnahme auf vs. Distanz zu Diskursen rund um ‚Extremismus‘“
Zu Beginn des Forschungsvorhabens, so die Autorin, stand „die offene Frage nach den Orientierungs- und Handlungsmustern junger Salafitinnen mit dem Ziel, eine grundlagentheoretische Studie vorzunehmen“ (10). Diese Ausrichtung änderte sich im Verlauf hin zu einer stärkeren Anwendungsorientierung der Studie: In einem Abschlusskapitel werden Empfehlungen für die Präventions- und insbesondere die Distanzierungsarbeit formuliert. Mit der Anpassung der Ausrichtung geht auch eine leichte Spannung zwischen einem Verzicht vs. einer Bezugnahme auf die Themen „Extremismus“ und „Extremismusprävention“ einher, was im Folgenden an zwei Beispielen aufgezeigt werden soll: So leitet die Autorin ein, dass es im Rahmen der Studie „bewusst nicht primär um religiös begründeten Extremismus gehen“ soll (22), während die Veröffentlichung gleichzeitig durch ein Beispiel zu einer IS-Anhängerin, die einen Polizisten in Hannover niedersticht, eingeleitet und gerahmt wird (9, 269 f.), wodurch die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf Gewalt bzw. Terrorismus gelenkt wird. Zum anderen bewegte sich die Autorin im Rahmen ihrer Feldforschungsphase insbesondere im von ihr als quietistisch, das heißt apolitisch, eingeordneten salafistischen Milieu. Vor dem Hintergrund der gerade in diesem Bereich vorliegenden ausführlicheren Fallrekonstruktionen ist es bedauerlich, dass im Rahmen der Handlungsempfehlungen inhaltlich vorrangig unter extremismuspräventivem Blickwinkel auf diese Gruppe eingegangen wird – hier abgrenzend argumentierend in dem Sinne, dass die entsprechenden Perspektiven und Begrifflichkeiten keine Anwendung auf quietistische Gruppierungen finden sollen. So führt Dickmann-Kacskovics aus, dass „man die quietistischen Gruppierungen nicht gemeinsam mit den anderen, demokratiefeindlichen und gar gewalttätigen salafistischen Gruppierungen kategorisieren“ und der Salafismus-Begriff hier nicht zur Anwendung kommen solle (253). Kritisch zu hinterfragen sei, ob sich Präventionsarbeit gegen die rein quietistische Salafi-Strömung richten dürfe; lohnenswert sei die Überlegung, sie als Präventionsakteure in die Tertiärprävention einzubeziehen (ebd.). Unabhängig von der Frage, ob man diese Einschätzung und Schlussfolgerung generalisierend teilt (der Text weist hier kleine innere Widersprüche auf)[4], ergeben sich aus den entsprechenden Fallrekonstruktionen Hinweise auf kritische biografische Erfahrungen sowie auf Einstellungsfragmente, die in ähnlich gelagerten Fällen durchaus Anknüpfungspunkte für Soziale Arbeit (oder psychologisch-therapeutische Unterstützungsangebote) bieten könnten.[5] An dieser Stelle soll ausdrücklich kein defizitorientierter Blick auf die Frauengruppe gerichtet werden, sondern vor allem betont werden, dass das von der Autorin präsentierte empirische Material Potential für weitere Auswertungen und Forschung, die über das Thema „Extremismusprävention“ – bzw. die Abgrenzung hiervon – hinausgeht.
b) Das Spannungsfeld „Terminologie“: Eigen- vs. Fremdbezeichnung
Anstelle des Begriffs des Salafismus verwendet die Autorin in ihrer Studie größtenteils die Bezeichnungen “Salafitinnen“, „Salafi-Musliminnen“ oder „Salafi“ (9, 12, 18, 21, 207). Dickmann-Kacskovics begründet ihre Entscheidung damit, dass sie sich dem Phänomen aus einer Binnen- und einer Verstehensperspektive heraus annimmt und „die Akteur:innen selbst das Suffix -ismus“ entschieden ablehnen, es gar als Beleidigung und Angriff auffassen“ (9). Die Bezeichnung „Salafit:in“ sei somit neutraler (ebd.). Es erscheint unmittelbar nachvollziehbar, dass die Autorin im Rahmen ihrer ethnografischen und biografieanalytischen Forschung als „neutral“ wahrgenommene Begriffe bzw. Eigenbezeichnungen der untersuchten Milieus verwendet: Es ist stark davon auszugehen, dass die Verwendung der Fremdbezeichnung „Salafismus“ das Risiko geborgen hätte, die ohnehin schwierigen Feldzugänge zu verunmöglichen. Darüber hinaus ist es das dezidierte Ziel der Autorin, die jungen Frauen selbst zu Wort kommen zu lassen und den subjektiven Sinn ihrer Hinwendungen zu den Milieus zu erfassen bzw. herauszuarbeiten. Auch in diesem Sinne liegt die Orientierung an „neutralen“ bzw. an Eigenbezeichnungen im Rahmen der Feldforschung sehr nahe. Gleichzeitig werden beim Lesen der Gesamtstudie Herausforderungen deutlich, die (auch) mit der Orientierung an den Bezeichnungen „Salafit:in“, „Salafi“ oder „Salafiyya“ einhergehen. Diese sind auf mehreren unterschiedlichen Ebenen verortet: So wird zum einen im Rahmen der Studie deutlich, wie viele Binnenperspektiven und Eigenbezeichnungen es für das Phänomen (bzw. die Phänomene) es letztlich gibt -die Nutzung einer vermeintlich übergreifend neutralen Bezeichnung löst Akzeptanzfragen daher nicht zwangsläufig auf.
Da die Autorin zum anderen neben dem Begriff „Salafit*in“ bzw. Eigenbezeichnungen wie „Salafi“ und „Salafiyya“ auch den Begriff „religiöser Fundamentalismus“ (248) sowie – häufiger – die Fremdbezeichnung „Salafismus“ nutzt (16, 248), bleibt etwas intransparent, ob die unterschiedlichen Bezeichnungen im Rahmen der Studie synonym oder aber mit (in der Fachliteratur teilweise diskutierten) Bedeutungsunterschieden verwendet werden, die für das Verständnis der Studie von Bedeutung wären. Etwas verwirrend wirken auch Begriffskombinationen aus unterschiedlichen Diskursen, wie zum Beispiel “quietistische Salafiyya“ (252). Da schließlich auch in Teilen der Ergebniskapitel sowohl Eigen- als auch Fremdbezeichnungen verwendet werden, konnte ich als Leserin insbesondere nicht erfassen, welche Begrifflichkeit die Autorin als geeignete analytische Bezeichnung bzw. Analysekategorie ausmacht: Offen blieb für mich zunächst, ob die Eigenbezeichnungen für die Autorin eine vorrangig funktionale Bedeutung im Rahmen der Feldforschungsphase innehatten, oder ob sie für sie eine analytische, die Auswertung und Ergebnisdarstellung orientierende Qualität aufwiesen.[6] Gegen eine Verwendung der Selbstbezeichnungen in der Analyse spricht u.a., dass die Nutzung des Begriffs „Salafiyya“ die Gefahr in sich birgt, historisch zu unterscheidende Phänomene, hier die als Salafiyya bezeichnete ägyptische Reformbewegung des 19. Jahrhunderts und den zeitgenössischen Salafismus, zu vermischen (Nedza 2014: 102)
Anmerkungen
[1] Lars Wiegold und Isabelle Stephanblome danke ich für wertvolle Hinweise während der Erarbeitung der Rezension.
[2] Für nähere Ausführungen zur Ethnografie als sozialwissenschaftliche Methode vgl. u.a. Lüders 2017.
[3] Laura Dickmann-Kacskovics verwendet in ihrer Arbeit vorrangig die – als neutraler als den Begriff „Salafistinnen“ wahrgenommenen – Bezeichungen „Salafitinnen“ bzw. (für die Strömung) „Salafiyya“. Gleichzeitig nutzt sie auch den Salafismusbegriff (vgl. hierzu auch Abschnitt 2b der vorliegenden Rezension). Um diesbezüglich nicht zu verfälschen, verwende ich an den Stellen, an denen ich mich direkt auf die Studie beziehe, analog den Begriff „Salafitinnen“, spreche aber von „Salafismus“, wenn ich auf gängige Kategorisierungen des Phänomens eingehe.
[4] Ob man diese Einordnung teilt, ist vermutlich stark von den jeweils eigenen Konzepten von „Politik“ und „Religion“ abhängig. In der Publikation von Laura Dickmann-Kacskovics wird hier ein gewisses Spannungsfeld zwischen dem Konstatieren eines apolitischen Charakters der Interviewpartnerinnen im quietistischen Spektrum (252) und Einschätzungen, dass die Grenzen zwischen den einzelnen salafistischen Strömungen sehr fließend seien (35, 267), deutlich. Insbesondere schätzt die Autorin auch eine Definition des Begriffs „radikaler Islam“ von Frank/Glaser, die das „Favorisieren einer Gesellschaftsordnung, deren sämtliche soziale und politische Strukturen nach göttlichen, islamischen Prinzipien ausgerichtet sind“ (ebd. 2017: 2) umfasst, ausdrücklich auch als auf ihre Interviewpartnerinnen aus dem quietistischen Spektrum zutreffend ein (Dickmann-Kacskovics 2023:34), was gegen einen rein apolitischen Charakter der Glaubensüberzeugungen sprechen kann.
[5] Hierzu gehören vor der Hinwendung zur Schwesterngruppierung erlebte Beziehungsabbrüche und emotionale Vernachlässigung in der Herkunftsfamilie, biografisch verankerte starke Ängste und Sicherheitsbedürfnisse sowie als traumatisierend erlebte Vorfälle, die zum Beispiel einen (nun religiös legitimierten) Rückzug in den häuslichen Kontext motivieren. Zugleich werden in einzelnen Interviews auch aktuelle Abwertungstendenzen gegenüber anderen Muslimen oder eine Ablehnung der Einordnung weiblicher Beschneidung als Verstümmelung deutlich, die gegebenenfalls kritische Einstellungsfragmente aufzeigen. Darüber hinaus können Erfahrungen mit kurzen Ehen und teils mehreren Scheidungen im salafistischen Milieu, Bedürfnisse nach „Verantwortungsabgabe“ zum Beispiel an Gott oder einen Ehemann, Orientierung an Gehorsam und einem patriarchalen Männerbild, eventuell neue genderspezifische Vulnerabilitäten schaffen.
[6] Erst zu einem späteren Zeitpunkt – und in der Zusammenfassung der Ergebnisse – formuliert Dickmann-Kacskovics, dass ein Grund für den (letztlich allerdings nicht durchgängigen) Verzicht auf den Begriff des Salafismus durch die Autorin auch darin besteht, dass sie ihn als ungeeignet für das quietistische, das heißt apolitische bzw. politisch nicht aktive, Spektrum ansieht. Hier verweist sie erneut auf die Eigenbezeichnung „Salafi“.
Literatur
- Glaser, Michaela / Johansson, Susanne (2023): „Die haben mit Plastik gespielt, und ich hab‘ einen Diamanten“. Potenziale eines biografieanalytischen, gendersensiblen Blicks auf Hinwendungen und Distanzierungen im Feld des islamistischen Extremismus, in: Langner, Joachim/Zschach, Maren/Schott, Marco/Weigelt, Ina (Hg.), Jugend und islamistischer Extremismus. Pädagogik im Spannungsfeld von Radikalisierung und Distanzierung. Leverkusen-Opladen: Barbara Budrich, 127–146.
- Lüders, Christian (2017): Beobachten im Feld und Ethnographie. In: Flick, Uwe/von Kardoff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 384-401.
- Nedza, Justyna (2014): „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung einer Analysekategorie, in: Said, Behnam T./Fouad, Hazim (Hg.): Salafismus. Auf der Suche nach dem wahren Islam. Freiburg: Herder, S. 80-105.
- Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg Verlag.
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