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Rezension / 20.02.2024

Ora Szekely: Syria Divided. Patterns of Violence in a Complex Civil War

New York, Columbia University Press 2023

Ora Szekely will die Komplexität des Syrienkrieges anhand der Perspektiven der beteiligten Akteure beleuchten und dabei insbesondere die Diskrepanz zwischen den gewaltbegründenden Narrativen und dem tatsächlichen Gewalthandeln der zahlreichen Konfliktparteien in den Blick nehmen. Während es Szekely gelinge, die Gewaltnarrative zu dekonstruieren, indem sie aufzeigt, welche strategischen Kalküle tatsächlich für die „Muster der Gewalt“ verantwortlich seien, vernachlässige ihre Analyse die Rolle von Ideologie und die Konkretisierung der Machtstrukturen in Syrien, kritisiert Rezensent Sascha Ruppert-Karakas.

Die informativsten Sach- und Fachbücher über die Gewalt in Syrien sind jene, die sich auf syrische Stimmen stützen, um die Komplexität des seit zehn Jahren andauernden Konflikts zu verdeutlichen. In diesem Kontext erhebt die Monographie von Ora Szekely den Anspruch, den Verlauf des syrischen Krieges aus den Perspektiven der beteiligten Subjekte zu beleuchten. Die Einleitung der Abhandlung stellt unmittelbar die beiden zentralen Leitfragen vor: Wie verstehen und erklären Syrer*innen - sowohl Zivilist*innen als auch Kämpfer*innen - den Konflikt, der ihr Land überzogen hat? Und wie beeinflussen diese konkurrierenden Erzählungen und der Konflikt zwischen ihnen das Verhalten im Krieg? (1)

Die Autorin unterstreicht die Relevanz dieser Fragestellungen durch drei Argumente. Erstens verstünden die verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Teilnehmer eines Bürgerkriegs, einschließlich Syriens, den Krieg, den sie führen, auf sehr unterschiedliche Weisen. Zweitens wiesen solche Kriege oft mehrere konkurrierende Spaltungen auf, die ideologisch, gemeinschaftlich, geografisch oder anderweitig ausgerichtet sein können. In diesem Zusammenhang habe jede involvierte Partei ‚key audiences, both at home and abroad, whom they seek to convince that their preferred narrative of the war is correct’. Drittens beeinflusse der Drang, eine spezifische, bevorzugte Erzählung des Krieges an diese Zielgruppen zu vermitteln und sie von deren Richtigkeit zu überzeugen, das Verhalten der Kriegführenden (2). Szekely versucht sich dabei nicht nur an einer grundlegenden Dekonstruktion des Narrativkomplexes der unterschiedlichen Gewaltakteure, sondern möchte verstehen, ‚why the various combatants in Syria say they are fighting and what they are actually doing‘ (S. 7). Insbesondere die Frage nach dem Handeln der Gewaltakteure verweist auf die bestehende Diskrepanz zwischen den deklarierten Begründungen für den Konflikt und dem tatsächlichen Einsatz von Gewalt, die nach Ansicht der Autorin selbst einen stark performativen Charakter annimmt.

Szekely leistet damit einen zentralen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion um den Syrienkonflikt, die die Relevanz des sogenannten ‚meta-conflict‘ betont (14) – also die Deutungshoheit über die Ursachen und Ziele des Krieges, die für die Konfliktbeteiligten von entscheidender Bedeutung sind. Ihre arbeitsleitende These ist, dass die Narrative die Gewalt zwar grundlegend prägten, die tatsächliche Durchführung militanter Aktionen jedoch immer wieder von den Rechtfertigungen abweiche. Neben der vernichtenden Intention militärischer Gewalt hebt die Autorin deren kommunikatives Potenzial hervor, welches von allen beteiligten Kriegsakteuren dazu eingesetzt werde, eine spezifische Botschaft gegenüber heimischen oder internationalen Beobachtern zu übermitteln (14-15). Zur Prüfung ihrer Thesen nutzt die Autorin die qualitative Methode der Narrativanalyse, die auf Interviews mit Syrer*innen verschiedener politischer und religiöser Ausrichtungen in Berlin und Jordanien basiert. Die Theorie der Soft Power von Joseph Nye, insbesondere sein Fokus auf die Narrative eines politischen Akteurs, dient als Inspirationsquelle für Szekelys Analyse. Hierbei liegt ihr Schwerpunkt auf der Betonung des strategischen Werts von Narrativen in Konfliktsituationen, der als methodischer Leitfaden fungiert (11-12 & 22-24). 

Um den umfassenden Zusammenhängen der syrischen Tragödie gerecht zu werden und die Aussagen ihrer Interviewpartner*innen zuordnen zu können, beginnt die Autorin ihre Analyse mit einer Betrachtung der historischen Hintergründe (27-71). Diese bildeten das Fundament für identitätsspezifische und politische Diskurse, die den syrischen Krieg geprägt hätten – von den letzten Tagen des Osmanischen Reiches über das französische Mandat, den Übergang zur Unabhängigkeit und den Aufstieg der Baath-Partei bis hin zu Hafiz al-Assads dreißigjähriger Herrschaft und schließlich der seines Sohnes Bashar (29-45). Nachdem Szekely versucht hat, die soziale, politische und regionale Komplexität zu veranschaulichen, in der die jüngste syrische Nationalgeschichte konstruiert werde, beschreibt sie die Etappen des syrischen Konflikts von der Revolution im März 2011 bis zur autoritären Reconquista Assads im Jahr 2022. Hierbei stellt sie die verschiedenen Akteure und ihre Ziele vor. Neben den Überlebensstrategien des Regimes werden insbesondere die konflikthaften Beziehungen innerhalb der syrischen Opposition, ihr Verhältnis zur PKK-Schwester PYD und das Erstarken eines radikalen Islamismus diskutiert (46-67). Das Kapitel schließt mit der zunehmenden Einflussnahme externer Akteure auf den syrischen Konflikt. Dabei werden die USA und Russland neben regionalen Akteuren wie der Türkei, den Golfstaaten und dem Iran besonders hervorgehoben (67-70).

Vor dem Hintergrund dieses historischen Abrisses kategorisiert die Autorin die Begründungen, mit denen die verschiedenen Akteure den Konflikt gegenüber einem heimischen und internationalen Publikum rechtfertigten. Hierbei definiert sie mit ‚Dignity and Democracy‘ (75-84), ‚Sectarianism‘ (85-93), ‚Containing Terrorism‘ (94-100), ‚Ethnonationalism‘ (100-105) sowie ‚Proxy War‘ (105-109) fünf Narrativstränge, die von den relevanten Akteuren als Ursachen für den Krieg angegeben und als Begründung für den Einsatz von Gewaltvorgeschlagen würden. Die Autorin betont dabei nicht nur, wie mit sektiererischen und ethnonationalistischen Narrativen klare identitätsspezifische Abgrenzungen zwischen den Parteien konstruiert würden, sondern auch, wie zugleich selbst zwischen den verfeindeten Parteien gemeinsame Ziele oder Feinbilder existieren könnten. So wird am Beispiel des Kampfes für Demokratie oder zur Eindämmung von Terrorismus beschrieben, dass alle beteiligten Akteure für ihre jeweiligen Version von demokratischer Emanzipation einstünden oder beispielsweise die PYD und das Assad-Regime in der sunnitischen Opposition ein gemeinsames terroristisches Feindbild identifiziert hätten (97-100).

Diese Narrative versteht Szekely als ein grobes Raster der zahlreichen Konfliktdimensionen und kontrastiert im dritten Kapitel, inwieweit diese Rechtfertigungen den tatsächlichen Gewaltmustern entsprechen. Dem Ziel folgend, den Konflikt in seiner Komplexität zu erfassen, argumentiert die Autorin, dass ‚the choices made by the various participants are in line with their respective narratives of the war [...], they are not always‘(113). Durch eine akribische Analyse des dokumentierten Gewaltverlaufs macht Szekely die äußerst aufschlussreiche Feststellung, dass die syrischen Konfliktparteien ihre militärischen Ziele nicht zwangsläufig ihrem Kriegsnarrativ entsprechend aussuchten, sondern immer auch danach, ob es einen Akteur gebe, ‚who offers a different narrative, especially one that might prove to be compelling to important audiences‘ (115). Was das konkret bedeutet, macht Szekely am Verhältnis des Assad-Regimes zu ISIS („Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien) deutlich: Obwohl sich beide Akteure in ihren Narrativen als Erzfeinde markieren würden, sei die tatsächliche militärische Auseinandersetzung zwischen ihnen stets auf ein Minimum beschränkt geblieben. Szekelys Analyse zeigt, dass das Assad-Regime trotz seines Bekenntnisses, den Terrorismus zu bekämpfen, seine Feuerkraft bis 2017 überwiegend gegen moderate Teile der syrischen Opposition gerichtet habe, während ISIS den sektiererischen Kampf gegen das alawitische Regime der Assads immer wieder hinter einen Hegemoniekampf mit anderen Oppositionsparteien oder mit der PYD/YPG zurückstellt habe (116-129). Relevant seien hier strategische Entscheidungen der jeweiligen Akteure gewesen, vor allem jene Konkurrenten auszumerzen, deren alternatives Narrativ besonders gefährlich für die weitere Unterstützung aus der heimischen und internationalen Arena sein könnte. Insbesondere militärische Aktionen gegenüber zivilen Akteuren versteht die Autorin dabei in einer strategischen Dimension als „performative Gewalt“, um spezifische Rezipienten zu adressieren (145-151). Das militante Vorgehen der PYD gegen arabische Stämme in Deir-Ez-Zor wird entgegen dem demokratischen Anspruch der Gruppe als repressive Kommunikationsform interpretiert, die darauf abziele, jegliche Zivilisten zu bestrafen, die sich gegen ihr ideologisches Projekt stellten (142-144).

Im letzten Kapitel untersucht Szekely wiederum mit Hilfe einer Narrativanalyse die Internetpräsenzen aller beteiligten Akteure, die die Autorin zu Recht als zentrales Schlachtfeld des syrischen Konfliktes identifiziert (153-192). Es folgt eine Diskussion darüber, wie die sozialen Medien die Kommunikationsmöglichkeiten verändert haben und wie das Internet von Gewaltakteuren als Infrastruktur genutzt wird, um sich am narrativen Krieg zu beteiligen oder den Krieg mit virtuellen Mitteln zu unterstützen. Neben einer gelungenen Darstellung der historischen Relevanz der sozialen Medien für die syrischen Revolution zeigt die Autorin, wie die Konfliktparteien Gewalt funktional ausrichteten, um Propagandamaterial zur Bedrohung von Gegnern zu produzieren, neue Kämpfer zu rekrutieren und Einnahmen zu generieren. Soziale Medien dienten demnach als zentrale Infrastruktur ‚for disseminating propaganda, threatening adversaries, recruiting new members, and connecting with donors‘ (154). So zeigt sie vor allem am Beispiel der hochprofessionellen Videoaufnahmen von ISIS von brutalen Gefangenenszenen, wie diese als Drohgebärde gegenüber Feinden eingesetzt oder wie Videos von militanten Gruppierungen unter dem Dachverband der Freien Syrischen Armee allein zum Zweck der Geldakkumulation aus der Golfregion gedreht würden (176-177, 180 & 188-191).

Obwohl Szekely mit vielen interessanten Beobachtungen und insbesondere der Klärung der tatsächlichen und fiktiven Relevanz von Narrativen als Katalysatoren für anhaltende Gewalt einen wichtigen Beitrag zur Konfliktanalyse in Syrien leistet, gibt es Anlass zur Kritik. Insbesondere bei der Anwendung einer diskursanalytischen Methodik muss die Frage gestellt werden, wie der unterschiedlichen Qualität der Quellen Rechnung getragen wird und inwieweit das untersuchte Material nicht „objektiv“, sondern durch das unterschiedliche Machtpotenzial der jeweiligen Akteure geprägt ist. Schließlich ist die Fähigkeit, Narrative zu konstruieren, kontrollieren und zu replizieren zwischen den unterschiedlichen Akteuren in Syrien höchst ungleich verteilt. Gleichzeitig ist es entscheidend zu untersuchen, inwiefern dieses Machtpotential gegenüber einem Publikum genutzt wird und wie sich dieses Potenzial durch ideologische Elemente in Normen, Werten und institutionalisierten Prozessen zum Ausdruck kommt.

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem der Analyse zugrundeliegenden Verständnis von Ideologie und ihrer Manifestation im militärischen Apparat, dem Straf- und Zivilrecht sowie den wirtschaftlichen Institutionen hätte zweifellos zur Tiefe der Analyse beigetragen. Der Eindruck, dass die Autorin zwischen ideologischen und rational-strategischen Dimensionen des Handelns deutlich unterscheidet, wird besonders in der Schlussfolgerung des zweiten Kapitels ersichtlich. Dort behauptet sie, dass es weniger wichtig sei, zu wissen, ‚whether those articulating a particular narrative genuinely believe it‘ (112). Die tatsächliche Erfassung des ideologischen Hintergrunds sozialen Handelns ist jedoch von grundlegender Bedeutung, wie allgemeine Überlegungen zu sozialen Konflikten zeigen (Freeden 2003). Die Internalisierung einer Ideologie kann fundamentale Auswirkungen auf strategische Entscheidungen haben. Diverse Analysen zum Syrien-Krieg, darunter von Salwa Ismail (2018), Yassin al-Haj Saleh (2017) und Üngör (2022), verdeutlichen den Einfluss der Internalisierung von Feindbildern auf die Intensität der Gewalt. Die Autorin erwähnt wiederholt die zugrundeliegenden Feindbilder und Bedrohungen in ihrer Dekonstruktion der Narrative, bleibt in ihrem konkreten Rückschluss jedoch hinter dem zurück, was auf Basis vorhandener Literatur feststellbar wäre. Gerade im Hinblick auf die Konstruktion der Feinbilder des Assad-Regimes und von ISIS könnte auf ein dialektisches Verhältnis beider Gruppen hingewiesen werden. Schließlich stehen sich Assad und ISIS zwar äußerlich als Feinde gegenüber, sind nach meiner Auffassung in ihrer inneren Logik aber vollständig miteinander verbunden. Dies zeigt sich bei beiden Gruppen in einem überhöhten Selbstverständnis, klaren Freund/Feind-Unterscheidungen, einem selbstzugesprochenen Recht auf Gewalt sowie in der geteilten Auffassung, es gebe für sie eine Notwendigkeit zu genozidalen Maßnahmen.

Die Vernachlässigung der Rolle der Ideologie zeigt sich auch in Bezug auf Szekely Umgang mit der Rolle von Macht in Diskursen (Foucault 2019), die insbesondere bei der Betrachtung eines Krieges zwischen konkurrierenden Narrativen um die Gunst verschiedener Publika relevant wird. Obwohl es offenkundig ist, dass der Verlauf des Konflikts sowie die Motivation zu Kämpfen durch multikausale Zusammenhänge geprägt sind, bleibt die Macht, im Sinne der Fähigkeit, die eigene Deutung gegenüber einem Publikum durchzusetzen, im syrischen Fall extrem ungleich verteilt: eine Erkenntnis, die besonders in der historischen Rezeption des Autoritarismus der Assads eine größere Beachtung finden müsste. Was den syrischen Fall in all seinen Facetten durchzieht, ist der seit mehr als 50 Jahren im Land herrschende Autoritarismus und die Auswirkungen, die dieser Umstand auf alle sozialen Interaktionen und Identitäten hat. Eine tiefere Beschäftigung mit den asymmetrischen Machtverhältnissen in Syrien wird besonders dann signifikant für eine Analyse, wenn es darum geht, zu verstehen, wie Narrative über den Konflikt auf breiter Ebene repliziert werden, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen und welche Relevanz sie im Verlauf des Konflikts haben.

Dieses Argument wird vor allem bei Szekely Gegenüberstellung der Diskurskategorien deutlich. Diese gibt einen grundlegenden Überblick über die Komplexität, macht jedoch leider nicht deutlich genug, wie diese Bedrohungsnarrative mit der jeweiligen Identität verknüpft sind und inwiefern konkrete Einflüsse der beteiligten Akteure hier Verschiebungen in deren Relevanz bewirkt haben. Die Autorin informiert zwar immer wieder über den Autoritarismus der Assads sowie dessen herausragende Rolle bei der Organisation von Gewalt. Gerade für uninformierte Leser*innen könnte die gleichzeitige Gegenüberstellung der Gewaltnarrative jedoch suggerieren, dass das Narrativ des Regimes faktisch gleichwertig zu dem der freiheitlichen Opposition sei. Abgesehen davon, dass gerade der Kult um die Assads ein epistemisches Paralleluniversum entwickelt hat, sollte explizit betont werden, auf welche materiellen Kapazitäten das syrische Regime als staatlicher Akteur zurückgreifen kann, um jene antagonistischen Realitäten zu beeinflussen, die wir nun in der syrischen Tragödie beobachten können. Dass der Konflikt vom politischen Befreiungskampf zu einem sektiererischen Bürgerkrieg wurde, bei dem sich die Akteure gegenseitig als terroristische Subjekte im Auftrag ausländischer Mächte diffamieren, ist nicht zuletzt auf die vom Autoritarismus durchzogenen ideologischen Fragmente zurückzuführen, die maßgeblich auf alle strategischen Entscheidu gen einwirken. Die gleichwertige Gegenüberstellung der Narrative übersieht nicht nur den machtpolitischen Fußabdruck der Assads im sozialen Raum der Gewalt Syriens und damit dessen Prägung auf alle anderen Gewaltakteuren, sondern verkennt die fundierten Erkenntnisse zum autoritären Management des Regimes, dem es gelingt, jene Realitäten, vor denen es warnt, erst selbst zu erzeugen.

Die Leerstelle in der Analyse wird bereits in der historischen Rezeption evident, die betonen sollte, dass die vermeintliche Pragmatik der Assad-Politik seit Hafiz al-Assad stets auch eine aktive Ideologieproduktion im Sinne der Herstellung eines neuen Ordnungsparadigmas vor dem Hintergrund eines kolonialen Traumas beinhaltet hat (32). Hierbei wähnt sich der repressive Staatsapparat der Assads seit den 1970er Jahren als Bollwerk der Befriedung eines vermeintlichen gesellschaftlichen Naturzustands, dessen Variablen das Regime selbst bestimmt. Forschungsbeiträge von Lina Khatib (2012 & 2018), Yassin al-Haj Saleh (2017), Charles Lister (2023) oder Laila Alrefaai (2021) verdeutlichen, wie das Regime sowohl in den 1980er Jahren als auch ab 2011 gleichzeitig als Brandstifter und Feuerwehrmann fungierte. Die etablierte Forschung über die Nutzung radikalmilitanter Gruppen durch das Assad-Regime für die Förderung eigener Ziele zu ignorieren und die gezielte Freilassung radikaler Jihadisten durch Assads Amnestie im Sommer 2011 als ‚a concession meant to calm public sentiments‘ zu interpretieren (43-44), offenbart ein Missverständnis über die Realitätskonstruktion sowie diese Realität unterstützenden Machtstrukturen, in die das autoritäre System Syriens eingebettet ist. Gestaltungsmacht über die Machtstrukturen meint hierbei vor allem die Möglichkeit, den sozialen Raum zu präparieren und damit über Normen, Gesetze, Institutionen und Denkstrukturen Einfluss auf Subjektivierungen zu nehmen. In Bezug auf das Assad-Regime bedeutet dies zu verstehen, wie es Antagonismen in der Bevölkerung gezielt kultiviert, reproduziert und potenziert, um die Notwendigkeit des repressiven Staatsapparats zu untermauern. Relevant wird das nicht zuletzt, wenn man die Kerker des Regimes als eine disziplinarische Institution versteht, in der sowohl Täter als auch Opfer auf ein brutalisiertes Interaktionsverhältnis von entmenschlichendem Terror und rachsüchtigem Gegenterror identitätsspezifischer Feindschaft getrimmt werden.

Das Buch ist kein Einsteigerwerk, sondern setzt ein vertieftes Wissen über die Hintergründe des Konflikts voraus. Trotz der nachlässigen Berücksichtigung der genannten Ideologieaspekte und der unzureichenden Konkretisierung von Machtbeziehungen ist die Lektüre jedoch eine gewinnbringende Erfahrung für jede*n, der*die nach einer Methodik zur Erschließung komplexer Gewaltkonflikte sowie insbesondere der Diskrepanz zwischen der Begründung und der tatsächlichen Durchführung organisierter Gewalt sucht.


Literatur

Al-Haj Saleh, Yassin (2017): The Impossible Revolution: Making Sense of the Syrian Tragedy, London: Hurst.

Alrefaai, Laila (2021): How the Assad Regime Helped Create, Support, and Perpetuate ‚ISIS‘, in: Rowaq Arabi, No. 26, Issue 2, S. 39-46.
Foucault, Michel (2019): Analytik der Macht, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Freeden, Michael (2003): Ideology: A Very Short Introduction, Oxford: Oxford University Press.
Ismail, Salwa (2018): The Rule of Violence: Subjectivity, Memory and Government in Syria, New York: Cambridge University Press.
Khatib, Lina (2012): Image Politics in the Middle East: The Role of the Visual in Political Struggle, London/New York: I.B. Tauris.
Khatib, Lina 2018: Tutelary Authoritarianism and the Shifts Between Secularism and Islam in Syria, in: The Syrian Uprising: Domestic Origins and Early Trajectory, (Hrsg.) Raymond Hinnebusch/Omar Imady, New York: Routledge, S. 92-105.
Lister, Charles (2023): The al-Assads Regime’s Sordid History of Weaponising Jihadists. In: Al-Majalla, online unter: The al-Assad regime's sordid history of weaponising jihadists | Al Majalla [letzter Zugriff: 04.02.2024].
Üngör, Ü. Uğur (2022): The Specter of Sectarian Violence in Syria. In: New Lines Magazine, online unter: The Specter of Sectarian Violence in Syria - New Lines Magazine [letzter Zugriff: 04.02.2024].
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