Strategische Irrtümer, Fehler und Fehlannahmen der deutschen Energiepolitik seit 2002
Deutschlands verfehlte Russland- & Energiepolitik wurde innerhalb der Europäischen Union schon vor dem Ukrainekrieg oft kritisiert: In der Wahrnehmung vieler Nachbarstaaten habe Deutschland als größte und mächtigste Wirtschaftsmacht in Europa das Kernprinzip der politischen Solidarität wiederholt außer Acht gelassen und so Vertrauen verspielt. Frank Umbach, Forschungsleiter am European Cluster for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS) der Universität Bonn, analysiert in diesem Beitrag für „SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen“, was dazu führte und was es hier nun zu tun gilt: So müssten aus den Fehlern der Vergangenheit nun die richtigen Schlussfolgerungen für die deutsche „Zeitenwende“ gezogen werden, um weitere kostspielige Fehlentscheidungen und außenpolitische Kollateralschäden bei der anstehenden Energiewende zu vermeiden.
Deutschlands verfehlte Russland- & Energiepolitik wurde innerhalb der Europäischen Union schon vor dem Ukrainekrieg oft kritisiert: In der Wahrnehmung vieler Nachbarstaaten habe Deutschland als größte und mächtigste Wirtschaftsmacht in Europa das Kernprinzip der politischen Solidarität wiederholt außer Acht gelassen und so Vertrauen verspielt. Frank Umbach, Forschungsleiter am European Cluster for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS) der Universität Bonn, analysiert in diesem Beitrag für „SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen“, was dazu führte und was es hier nun zu tun gilt: So müssten aus den Fehlern der Vergangenheit nun die richtigen Schlussfolgerungen für die deutsche „Zeitenwende“ gezogen werden, um weitere kostspielige Fehlentscheidungen und außenpolitische Kollateralschäden bei der anstehenden Energiewende zu vermeiden. (tt)
Einleitung
Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat Deutschlands Russlandpolitik und ihre Narrative sowie Mythen von „gegenseitiger Abhängigkeit“ und „Wandel durch Handel“ nachhaltig erschüttert und als kollektive, strategische Fehlannahmen offengelegt. Dies trifft insbesondere auf die hohe Gasimportabhängigkeit von Russland zu, die von Politik, Wirtschaft und Ökonomen nie kritisch hinterfragt worden war. Bezeichnenderweise gab es Kritik an der Nord-Stream-2 Gaspipeline nur von wenigen außenpolitischen Experten im Bundestag, in den Medien und in den Think Tanks Deutschlands.[1] Die hohe Gasimportabhängigkeit ist aber auch ein Resultat der deutschen Energiewende und des Doppelausstiegs aus der Kernenergie und der Kohle sowie des Verbots der Nutzung der unkonventionellen Gasreserven Deutschlands durch die Fracking-Technologie. Diese unkonventionellen Gasreserven könnten mindestens 30 Jahre des deutschen Gasverbrauchs decken.[2]
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Energiewende Deutschlands und vor allem die stetig zunehmende Gasimportabhängigkeit von Russland zusammen mit der Marginalisierung der Versorgungssicherheit im Rahmen der deutschen Energiewende seit 2002 nicht ebenso als strategische Fehlannahmen sowie Fehlentscheidungen von Politik und Wirtschaft gewertet werden müssen wie die Russlandpolitik. So sind die derzeitigen Kostenexplosionen von Gas und Strom nur vordergründig auf den Ukraine-Krieg Russlands sowie die westlichen Sanktionen zurückzuführen. Die eigentlichen Ursachen liegen in den strategischen Fehlannahmen in der deutschen Russlandpolitik und in den Fehlern der Energiewende und der damit verbundenen Hervorhebung der Rolle russischen Erdgases als Übergangsenergieträger. Diese Politikversäumnisse müssen nun unter massivem Zeitdruck korrigiert und durch eine teure Gasimportdiversifizierung kurzfristig ausgeglichen werden.[3]
Die folgende Analyse soll die wesentlichen strategischen Fehlannahmen und kollektiven Fehlentscheidungen der deutschen Energiepolitik und der Energiewende von 2002 bis zum Ende der Merkel-Ära 2021 analysieren sowie zu einer kritischen Selbstreflexion der Fehler ermutigen, auch wenn dies noch immer weitestgehend dem gegenwärtigen Zeitgeist zuwiderläuft. Es muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass dies keine Generalkritik an den Zielsetzungen der Klima- und Energiepolitik Deutschlands und der EU ist, die auch der Autor stets begrüßt und unterstützt hat. Gleichwohl soll die kritische Analyse den drei Zielvorgaben des Energietrilemmas folgen, nämlich, dass die drei Ziele (1) Umwelt- und Klimaschutz, (2) Bezahlbarkeit und Bewahrung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit sowie (3) der Versorgungssicherheit gleichrangig verfolgt werden sollen.
1 Vgl. auch Umbach 2022a: Erdgas als Waffe. Der Kreml, Europa und die Energiefrage. Berlin: Edition.fotoTAPETA_Buchessay.
2 Die europäischen und deutschen Ressourcen werden auf etwa 30 Jahre des europäischen Verbrauchs geschätzt – zu einer Übersicht siehe Umbach 2014a sowie Kohn/Umbach 2011.
3 Vgl. hierzu Umbach 2022b: Die deutsche Gaskrise – Die Auswirkungen der Reduzierung russischer Gaslieferungen oder eines vollständigen Gasexportstopps, Europäische Sicherheit & Technik, (8), 28–31.
„Strategische Irrtümer, Fehler und Fehlannahmen der deutschen Energiepolitik seit 2002“
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Band 6, Heft. 4-2022, Seiten 373-393, https://doi.org/10.1515/sirius-2022-4003
Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte am 29. November 2022.
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