Wolfgang Kraushaar: Keine falsche Toleranz! Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss
Wolfgang Kraushaar fragt angesichts der inner- und außerparlamentarisch erstarkenden radikalen Rechten, wie die parlamentarische Demokratie besser verteidigt und das Konzept der wehrhaften Demokratie erneuert werden könne. Dazu beleuchtet er den deutschen Rechtsextremismus in dessen Kontinuitäten ebenso wie eine sich neuerdings in Teilen radikalisierende gesellschaftliche Mitte und plädiert für eine analytische Anpassung gängiger Radikalismustheorien. Im Ergebnis ein trotz einiger zu kritisierender Aspekte „überaus informatives und gut lesbares Geschichtsbuch“, bilanziert unser Rezensent.
Bedarf es in Deutschland angesichts eines ansteigenden Rechtsextremismus eines grundlegenden Umdenkens? Als Antwort auf diese Frage hat Wolfgang Kraushaar eine voluminöse Monographie von über sechshundert Seiten vorgelegt: „Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss“ lautet der Titel. Der durch seine zahlreichen Bücher als kenntnisreicher Experte für Linksterrorismus bekannt gewordene Politikwissenschaftler blickt darin auf die andere Seite des politischen Spektrums. Den Einstieg dafür wählt er mit einer Schilderung, nämlich der einer versuchten Reichstagserstürmung durch Querdenker, worin sich für die Demokratiegefährdung eine neue Dimension offenbart habe. Dies sei ein Angriff auf das Grundgesetz gewesen, womit sich für eine „radikale Rechte“ eine Zerstörungsvision offenbare. Dazu wird folgendes Anliegen von Kraushaar formuliert: Es gehe darum zu klären, „in welcher Form die Demokratie am besten verteidigt […]“ und „wie die parlamentarische Demokratie vor derartigen Gefährdungen besser geschützt werden“ kann (19). Hierzu blickt der Autor weit in die bundesdeutsche Geschichte zurück:
So erinnert er zunächst an die abgebrochene Entnazifizierung der Nachkriegszeit, aber dann auch an die Entstehung des Grundgesetzes, wobei insbesondere die Leistung von Carlo Schmid gewürdigt wird. Direkt danach werden die Ansätze für eine wehrhafte Demokratie vorgestellt, auch in Erinnerung an Hans Kelsen, Otto Kirchheimer oder Karl Loewenstein als deren Vordenker. Dabei trägt Kraushaar sein Anliegen noch einmal vor: „Aus der Perspektive der in dieser Form im Grundgesetz verankerten wehrhaften Demokratie soll [...] die Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfängen über die Zeit der 1990 vollzogenen deutschen Einigung hinweg bis hin zur Gegenwart resümiert werden, um herauszufinden, wo einerseits bislang die Schwächen in der Verteidigung von Demokratie, Rechtsstaat und Liberalität gelegen haben, wo andererseits aber auch ihre Stärken und ihre nicht ganz zu unterschätzende Bereitschaft zur Selbstkorrektur zu finden sind“ (51). Demgemäß hat man es mit einer Art besonderem Geschichtsbuch zu tun, welches mit dem genannten Denkansatz die historische Entwicklung beschreiben und untersuchen möchte.
Kraushaar präsentiert auch den dafür relevanten Stoff, verliert aber nicht selten den für sein eigentliches Erkenntnisinteresse relevanten „roten Faden“. So durchziehen Abschweifungen und Brüche die einzelnen Kapitel, was sie bezogen auf die Inhalte nicht uninteressant macht, gleichwohl wird dort das Gemeinte nicht systematisch erörtert. Der gesamte historische Hauptteil der Monographie passt auch formal nicht zur dafür nötigen Struktur. Es gibt Kapitel die über hundert Seiten füllen, es gibt Kapitel, deren Umfang unterhalb von 10 Seiten bleibt. Hier stimmt erkennbar etwas nicht in der Gewichtung des Stoffs, was durch die Arbeitsweise des Autors motiviert sein mag, aber inhaltlich mit einer Unwucht einhergeht. Außerdem fällt immer wieder eine ausschweifende Darstellung auf, welche nicht zum postulierten Kern passt. Dabei sind die jeweiligen Aussagen, etwa zu Behörden und Institutionen, Skandalen und Umbrüchen, sehr wohl von Relevanz, aber dann doch in einem anderen Zusammenhang. Eine stärkere Ausrichtung am eigentlichen Erkenntnisinteresse hätte der Monographie daher auch in diesem Sinne nützen können.
Um einen Eindruck von den gemeinten Inhalten zu vermitteln, seien einige Kapiteltitel zur Veranschaulichung angeführt: Da geht es um den „Post-Holocaust-Antisemitismus“ und den „Konflikt um die Wiederkehr des NS-Justizpersonals“, um die „Offensive der NPD“ und den frühen „Rechtsterrorismus“, um die „Quittung NSU“ und den „Rechtspopulismus“, um die „Anti-Corona-Demonstrationen“ und die „Unterminierung und Unterwanderung von Sicherheitsbehörden“. Häufig hat man es mit einer anschaulichen Darstellung zu tun, gelegentlich handelt es sich aber eher um kurze Fragmente. So werden etwa zur AfD nur wenige Gesichtspunkte thematisiert, gleiches gilt für den NSU mit seiner mörderischen Praxis.
Demgegenüber sind die Ausführungen zu den Anti-Corona-Protesten wiederum ausführlicher geraten: Hier findet man auch eine beachtenswerte Auflistung von Hauptmerkmalen, außerdem gute Einwände gegen dazu präsentierte Umfragen. Berechtigterweise macht Kraushaar etwa bezogen auf einschlägige Studien darauf aufmerksam, dass gegenüber deren postulierter Repräsentativität erhebliche Zweifel angebracht sind. So kursierte etwa die Aussage, wonach die Anti-Corona-Bewegung "eher von links" komme, sie war aber "von Anfang an eher rechts dominiert" (445). Darüber hinaus beanspruchte die hier gemeinte Baseler Studie gar keine Repräsentativität, was sowohl viele Journalist*innen als auch andere Wissenschaftler*innen ignorierten.
Die letzten Kapitel enthalten dann zunehmend allgemeine Reflexionen, etwa zur Frage der sogenannten Mitte als Ort der Radikalisierung. Der Autor referiert hierzu einige klassische Deutungen, neigt aber dazu, die politische und soziale Dimension von Mitte nicht stärker zu unterscheiden. So kann es etwa Gefahren aus einer sozialen Mitte geben, welche aber nicht im gleichen Ausmaß in einer politischen Mitte präsent sind. Mit der Formulierung „Radikalismus statt Extremismus – Plädoyer für einen Wechsel“ soll es um grundlegende begriffliche Veränderungen gehen. Bei den Ausführungen zum Extremismusverständnis fällt indessen auf, dass dort kaum neuere Fachliteratur zur Kenntnis genommen und so auch zu dieser Frage eher ein Zerrbild präsentiert wird. Kraushaar plädiert dann für ein Radikalismuskonzept, das „eine dynamische Signatur“ (510) besitzen soll. Dann gibt es aber keine genauen Ausführungen darüber, worin dessen analytischer Vorteil bestehen würde. Schließlich werden die angesprochenen ideologischen, politischen und sozialen Aspekte in der von ihm ignorierten neueren Extremismusforschung schon lange wahrgenommen.
Bilanzierend betrachtet handelt es sich um ein überaus informatives und gut lesbares Geschichtsbuch zum bundesdeutschen Rechtsextremismus und seinen politischen und sozialen Kontexten, worin aber immer wieder Abschweifungen vom einleitend erwähnten Erkenntnisinteresse auszumachen sind. Der Autor hält sich somit nicht an den von ihm selbst entwickelten "roten Faden". Gleichwohl verdienen auch diese Ausführungen immer wieder Interesse, etwa die Ausführungen über den "Mythos vom Antifaschismus" (vgl. 518-524), der von Kraushaar ebenso kurz wie treffend demontiert wird.
Außen- und Sicherheitspolitik
Externe Veröffentlichungen
Wolfgang Kraushaar, Christian Rabhansl / 04.02.2023
Deutschlandfunk Kultur