Jahrbuch „Extremismus & Demokratie" 2019 und 2020. Bewährtes Forum der vergleichenden Extremismusforschung
Rezensent Thomas Mirbach widmet sich zwei Ausgaben des Jahrbuches „Extremismus & Demokratie". Für die des Jahres 2019 werde angesichts des Inkrafttretens der Weimarer Reichsverfassung ein vergleichender Blick auf die erste und zweite deutsche Demokratie geworfen und gefragt, inwieweit Strukturschwächen der Verfassung zum Zusammenbruch der Republik geführt haben. Bei den Analysen des Bandes für das Jahr 2020 dominierten Partialstudien. Zwar stellten die Jahrbücher ein bewährtes Forum für die vergleichende Extremismusforschung dar, doch sollten sie, so Mirbach, stärker für neuere sozialwissenschaftliche Konzepte geöffnet werden. (ste)
Das von Uwe Backes und Eckhard Jesse gegründete Jahrbuch (JB) „Extremismus & Demokratie“ fördert dem eigenen Selbstverständnis nach „die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Problemkreis des politischen Extremismus in seinen verschiedenen Ausprägungen“ (https://www.tu-chemnitz.de/phil/politik/pti/jahrbuch/jahrbuch.php). Dies geschieht bekanntlich auf der Basis einer dualen Konzeption, bei der Extremismus grundsätzlich als Negation des demokratischen Verfassungsstaates gesehen und mit seinen unterschiedlichen (linken, rechten, islamistischen) Spielarten als externe, von ihren Rändern ausgehende Bedrohung der Normalgesellschaft verstanden wird. Bekannt sind auch die von sozialwissenschaftlicher Seite aus formulierten konzeptionellen und methodischen Einwände gegenüber den Prämissen der vergleichenden Extremismusforschung (Wippermann 2010; Prüwer 2010; Forum 2011; Salzborn 2020, 108 ff.).
Das Jahrbuch weist mit den vorliegenden 31. (2019) und 32. (2020) Jahrgängen eine beachtliche Tradition auf; die einzelnen Bände haben eine übersichtliche dreiteilige Struktur. Eröffnet wird jeder Band mit Analysen zu einigen übergreifenden Themen. Unter der Rubrik „Daten, Dokumente, Dossiers“ werden, überwiegend mit aktuellem Jahresbezug, eher kurze Darstellungen über Entwicklungen (Wahlen, Organisationen) und unterschiedliche Aspekte des als Extremismus klassifizierten Spektrums (Gruppierungen, Einrichtungen, Publikationsformen, Länder) gegeben. Etwa die Hälfte des jeweiligen Bandes – das sind 200 bis 250 Seiten – entfällt auf den Literaturteil (Literaturberichte, Rezensionen, kommentierte Bibliografie). Diese Struktur eröffnet unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten.
Bei den Analysen werden teils zeitgeschichtlich-komparative und teils konzeptionelle Themen behandelt. Für den 31. Band bot, mit hundertjährigem Abstand, der Rückblick auf das Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung Anlass, einen vergleichenden Blick auf die erste und zweite deutsche Demokratie zu werfen. Alexander Gallus diskutiert anhand neuerer Studien zur Revolution von 1918/19 das Verhältnis von kollektiver Gewalt und Demokratiebegründung. Peter Graf Kielmansegg geht der Frage nach, inwieweit Strukturschwächen der Verfassung zum Zusammenbruch der Republik geführt haben. Beide Autoren heben in der Deutung der Ereignisse die Rolle des spezifischen historischen Kontextes gegenüber strukturellen oder institutionellen Logiken hervor; explizit Kielmansegg: „Es gibt keine Verfassung, die eine Demokratie vor dem Untergang retten könnte, wenn eine Mehrheit der Wähler […] für Parteien stimmt, die die Demokratie zu zerstören entschlossen sind.“ (2019, 58). Ausdrücklich dem Ansatz der „Extremismusschule“ verpflichtet (2019, 62), interpretiert Rudolf van Hüllen ideologische Umbrüche im revolutionären Linksextremismus als Diffusions- und Verfallsprozess, der perspektivisch zur Annäherung von „linken[n] und rechte[n] Identitätskonstrukte[n]“ führen werde.
Bei den Analysen des 32. Bandes überwiegen Partialstudien. Roland Sturm stellt differenziert die prozeduralen Schwierigkeiten dar, mit denen sich die Schottische Nationalpartei in der Verfolgung eines zweiten Unabhängigkeitsreferendums konfrontiert sieht. Anknüpfend an Chantal Mouffes Plädoyer für einen linken Populismus untersucht Isabelle-Christine Panreck den Anspruch der – faktisch gescheiterten – Sammlungsbewegung #aufstehen, dem Repräsentationsdefizit des hegemonialen Parteiensystems einen anderen Politikmodus entgegenzusetzen, der auch den ökonomisch Marginalisierten eine Stimme verleiht.
Als Typus einer theokratischen Ideokratie stellt Evelyn Bokler-Völkel den Islamischen Staat dar und geht dabei ausführlicher auf dessen dschihadistischen Legitimationsanspruch ein. Immerhin enthalten beide Bände im Analyseteil auch Überlegungen zum konzeptionellen Status des Extremismusansatzes. Es spricht durchaus für die Herausgeber, dass sie Maximilian Fuhrmann Raum für seine kritische Auseinandersetzung mit begrifflichen Grundlagen der Extremismusforschung – hier vor allem mit dem Postulat der Äquidistanz, das eine mindestens formale Verwandtschaft von Links- und Rechtsextremismus behauptet – gegeben haben (2019, 81 ff.). Darauf entgegnet Eckhard Jesse mit einer teils normativ, teils empirisch ansetzenden Verteidigung des Postulats, das sich weigere, „einer linksextremistischen Haltung eine prinzipiell größere Nähe zum demokratischen Verfassungsstaat zu attestieren als einer rechtsextremistischen“ (2020, 18). Hält man dieses Statement neben Jesses pauschale Kritik an den Mitte-Studien (Universität Bielefeld; Universität Leipzig) – und seine durchaus bestreitbare Unterscheidung von sozialer und politischer Mitte (2020, 24 f.) –, dann entsteht der Eindruck, dass die Debatte über konzeptionelle und methodische Fragen zumal vonseiten der Verfechter des Extremismusansatzes eher problembezogen erfolgen sollte – und nicht primär als Verteidigung der eigenen Position.
Stärker noch als die Analysen sollten die Beiträge der Rubrik „Daten, Dokumente, Dossiers“ der Erwartung entsprechen, relevante Ereignisse des aktuellen Geschehens im Problemfeld abzubilden. Die Jahrbücher versuchen das teils durch jeweils jahresbezogene Darstellungen über „Wahlen“ (Eckhard Jesse) und „Organisationen“ (Uwe Backes). Dabei beschränkt sich die Beschreibung der Entwicklung von Organisationsformen weitgehend auf Daten der jeweiligen Verfassungsschutzberichte – hier bietet die sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung gewiss differenziertere Einschätzungen (Heitmeyer 2018; ZRex 2021). Teils werden von Alexander Gallus einzelne Ereignisse aufgegriffen, so die rechtsextremistische Inszenierung des sogenannten Chemnitzer „Schweigemarsches“ (2019, 133 ff.) oder die Einstufung der AfD-Teilorganisation der „Flügel“ durch den Verfassungsschutz als rechtsextremistisch (2020, 145 ff.). Legt man die Klassifikation der Extremismusforschung zugrunde, so gilt die Aufmerksamkeit der weiteren Beiträge erkennbar dem linken Spektrum. Phänomene des Linksextremismus sind fünf Mal Thema – im JB 2019 mit einem Beitrag über die „Rote Hilfe“, einem Zeitschriftenporträt (Marxistische Blätter) und einem biografischen Porträt, im JB 2020 mit einer Untersuchung zur interventionistischen Linken und einem Zeitschriftenporträt (Phase 2), einem Periodikum der autonomen Linken, deren interne Widersprüchlichkeiten Anna-Maria Haase herausarbeitet. Aktivitäten des Rechtsextremismus werden drei Mal aufgegriffen – im JB 2019 mit einer Analyse der deutschen Rechtsrockszene und einem biografischen Porträt, im JB 2020 mit einer Darstellung rechtsterroristischer Akteure in Deutschland. Auch der islamistische Extremismus schließlich wird drei Mal angesprochen – im JB 2019 mit einer Einschätzung der Bedrohungslage auf europäischer Ebene, im JB 2020 werden beispielhaft Radikalisierungsprozesse dschihadistischer Straftäter untersucht und ein biografisches Porträt verfolgt den Weg eines Linksterroristen zum Islamismus.
Der umfangreiche Literaturteil lässt sich weder nach Themen noch hinsichtlich der Rezensent*innen als Sprachrohr der Extremismusschule verstehen. Die behandelten Publikationen streuen inhaltlich sehr breit und betreffen zeithistorische und zeitdiagnostische Positionen, empirisch-analytische Arbeiten und auch Fragen der Demokratie- und Gesellschaftstheorie. Warum dieses breite Spektrum als „Literatur aus der ‚Szene’“ bezeichnet wird, erschließt sich allerdings nicht; hier wäre überdies eine Sortierung nach thematischen Schwerpunkten sinnvoll. Auch die speziellen Formate dieses Teils – Literaturbericht, Sammelrezensionen, Rezensionsessay und kontroverse Besprechungen – sind durchaus informativ und nicht auf die Sicht der Extremismustheorie begrenzt.
Fazit: Die Jahrbücher „Extremismus & Demokratie“ hinterlassen ein etwas zwiespältiges Bild. Einerseits sind sie zweifellos ein bewährtes Forum für jene, die sich aus der Perspektive der vergleichenden Extremismusforschung mit dem Thema beschäftigen und über einschlägige Entwicklungen und neuere Publikationen informiert werden wollen. Andererseits sollten sich die Jahrbücher – gerade auch angesichts der aktuellen Ausdifferenzierung, Dynamisierung und vielfältigen Überlagerungen im Phänomenenbereich – entschiedener als bisher für neuere sozialwissenschaftliche Konzepte öffnen; in diesen Zusammenhang würde ebenso die Berücksichtigung rassismuskritischer Analyseansätze gehören. Und hält man sich an den programmatischen Titel der Jahrbücher, der ja explizit auf den internen Zusammenhang von „Extremismus“ und „Demokratie“ abstellt, dann sollte auch der zweite Gegenstandsbereich – also Varianten von Demokratietheorien und -analysen – stärker zur Geltung kommen.
Literatur
Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.) (2011): Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismusmodells. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Heitmeyer, Wilhelm (2018): Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1. Frankfurt a. M. Suhrkamp
Prüwer, Tobias (2010): Tagungsbericht Ordnung. Macht. Extremismus. 20.11.2009-21.11.2009, Leipzig, in: H-Soz-u-Kult 19.03.2010
Salzborn, Samuel (2020): Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. Bonn Bundeszentrale für politische Bildung
Wippermann, Wolfgang (2010): Politologentrug. Ideologiekritik der Extremismus-Legende. In: standpunkte 10-2010. Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin (https://www.rosalux.de/publikation/id/3960/politologentrug; Abruf: 28.12.2021)
ZRex (2021) – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung. Jg. 1, Heft 2
Außen- und Sicherheitspolitik
Bibliografische Angaben
Uwe Backes / Alexander Gallus / Eckhard Jesse / Tom Thieme (Hrsg.)
Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E & D), 31. Jahrgang 2019
Uwe Backes / Alexander Gallus / Eckhard Jesse / Tom Thieme (Hrsg.)
Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E & D), 32. Jahrgang 2020
Essay / Klaus Schroeder / 17.10.2018
Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Ostdeutschland. Entstehung und Entwicklung
Die AfD habe ihre Hochburgen im Osten Deutschlands, dort gebe es eine aktive rechtsextreme Szene. Die Ursachen, seien, so Klaus Schroeder: die Nachwirkungen der politischen Sozialisation in der DDR sowie die durch die Wiedervereinigung entstandenen sozialen Umbruchprozesse. Zudem seien Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus auch in der DDR weit verbreitet gewesen.
Rezension / Vincent Wolff / 04.03.2020
Matthias Quent: Deutschland rechts außen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können
Wer den Rechtsradikalismus verstehen will, müsse seine Kontinuität berücksichtigen, so Matthias Quent. Doch die Qualität rechter Gewalt habe sich verändert. Er legt konkrete Vorschläge vor, wie die Rechte bekämpft werden könnte. Er fordere eine klare politische Abgrenzung, um die wehrhafte Demokratie vor ihren Feinden zu schützen, so Rezensent Vincent Wolff.
Rezension / Arno Mohr / 15.10.2018
Tom Mannewitz, Herrmann Ruch, Tom Thieme, Thorsten Winkelmann: Was ist politischer Extremismus? Grundlagen – Erscheinungsformen – Interventionsansätze
Die drei Erscheinungsformen des aktuellen Extremismus (links, rechts, islamistisch) werden in ihrem Erscheinungsbild, ihren inneren Strukturen, ihren Strategien und insbesondere in ihren gewalttätigen Praktiken gleich unmittelbar zur demokratisch ausgelegten Verfassungsstaatlichkeit bestimmt. Rezensent Arno Mohr hält diese Herangehensweise für nicht ausreichend.
Rezension / Tanja Thomsen / 10.02.2020
Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen – Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren
Laut Julia Ebner laufe die Politik Gefahr, einer toxischen Paarung aus ideologischer Vergangenheitssehnsucht und technologischem Futurismus anheimzufallen. Denn Extremisten seien beim Bau ihrer „Radikalisierungsmaschinen“ technisch auf dem neusten Stand, so Rezensentin Tanja Thomsen. Ebner veranschauliche, wie sich Radikalisierungsprozesse im Bereich der neuen Technologien vollziehen.
Rezension / Vincent Wolff / 03.03.2020
Samuel Salzborn (Hrsg.): Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen
„Antisemitismus ist eine Verbindung von Weltanschauung und Leidenschaft“ (9), eröffnet Samuel Salzborn diesen Sammelband. Das Werk ist einer Vielzahl von antisemitischen Vorfällen und Spielarten gewidmet. In Erinnerung gerufen werden unter anderem die Möllemann-Debatte und die Tabubruch-Kontroverse um Günter Grass; es geht um Antisemitismus aus der politischen Mitte, von rechts, von links und von islamischer Seite.