Worin besteht die Bedeutung des Nawalny-Phänomens?
Die Genese Aleksej Nawalnys zu einer zeithistorischen Figur Russlands hat weltweite Aufmerksamkeit für dessen Biografie entfacht. Obwohl der Antikorruptionsaktivist für viele Ost- und Westeuropäer keine ideale Alternative zu Putin darstellt, ist seine politische Relevanz für die Zukunft Europas hoch. Sein jüngster Aufstieg untergräbt das System Putin und birgt die Chance auf eine Wiederherstellung von politischem Pluralismus in Russland. Übergroßer Argwohn gegenüber der Ideologie der russischen Opposition laufe Gefahr, die transformative Kraft des Nawalny-Phänomens zu übersehen.
Eisbrecher für das russische politische Regime
Obwohl Nawalny für viele Ost- und Westeuropäer keine ideale Alternative zu Putin darstellt, ist seine politische Relevanz für die Zukunft Europas hoch. Der Aufstieg Nawalnys in den letzten Monaten untergräbt das System Putin und birgt die Chance auf eine Wiederherstellung von politischem Pluralismus in Russland.
Die Verwandlung des Moskauer Antikorruptions-Aktivisten Aleksej Nawalny in eine zeithistorische Figur Russlands hat seit Mitte 2020 weltweite Aufmerksamkeit für seine Biografie entfacht. Die Beschäftigung mit Nawalnys Vergangenheit veranlasst jedoch viele Beobachter dazu, dem russischen Oppositionspolitiker skeptisch gegenüber zu stehen. Eine Reihe älterer, eindeutig nationalistischer Äußerungen Nawalnys werden in Presseberichten und politischen Kommentaren immer wieder zitiert. Unter ukrainischen Kommentatoren führt Nawalnys unklare Position zur Unabhängigkeit der Ukraine und Zukunft der von Russland annektierten Krim etwa zu Pessimismus hinsichtlich der Auswirkungen seines möglichen weiteren politischen Aufstiegs.
Nicht nur in Kiew, sondern auch in vielen westlichen Hauptstädten gibt es heute zwar eine allgemeine Sympathie, jedoch weniger politische Unterstützung für Nawalny. Er wäre – so heißt es oft – sicherlich ein besserer russischer Präsident als Putin. Doch angesichts der ambivalenten politischen Biografie Nawalnys als Nationalist würde Russland unter seiner möglichen künftigen Führung weiterhin keine liberale Demokratie darstellen. Ausländische Unterstützung für Nawalny kann unter diesem Gesichtspunkt lediglich von allgemeiner Sorge um die Rechte politischer Opposition in Russland motiviert sein. Sie würde und sollte aber nicht von weitergehenden illusorischen Hoffnungen auf ein grundlegend anderes Russland unter Nawalny bestimmt werden.
Es gibt – angesichts früherer nationalistischer und imperialistischer Äußerungen Nawalnys – gute Gründe, ihn auf diese Weise wahrzunehmen. In der Ukraine besagt ein altes politisches Sprichwort: „Der russische Liberalismus endet dort, wo die ukrainische Unabhängigkeit beginnt." Viele russische Politiker und Intellektuelle unterstützen Demokratie und Freiheit für das russische Volk. Doch einige werden weniger tolerant, wenn es um die Rechte und Selbstständigkeit anderer Völker in und um Russland geht. Kommt es hart auf hart, so eine bittere Lehre aus der russischen Geschichte, geht das Imperium häufig der Freiheit vor – ob nun in der Innen- oder Außenpolitik des Kremls.
Generelle Skepsis nicht nur gegenüber Nawalny, sondern auch bezüglich der gesamten russischen Opposition mag daher angebracht sein. Doch kann dies auch eine klare Wahrnehmung und angemessene Würdigung der heutigen politischen Relevanz des Phänomens Nawalny behindern. Zwar ist unklar, wie genau seine politische Zukunft aussehen wird. Im schlimmsten Fall könnte er im Gefängnis sterben, und im für ihn günstigsten Fall könnte er Russlands nächster Präsident werden. Unabhängig von diesen polaren Perspektiven, hat der jüngste Anstieg seiner Popularität jedoch in jedem Fall einen mehr oder minder destruktiven Effekt für das derzeitige russische politische Regime. Eine übergroße Vorsicht gegenüber der Ideologie der russischen Opposition läuft Gefahr, (a) den spezifischen Kontext, (b) das Entwicklungspotenzial und (c) die transformative Kraft des Nawalny-Phänomens zu übertünchen.
Erstens: Während eine Reihe von Nawalnys nationalistischen Äußerungen – zum Beispiel in Bezug auf Georgien – unentschuldbar sind, müssen andere im heutigen Kontext Russlands gesehen werden. Zum Beispiel ist Nawalnys Ablehnung einer sofortigen Rückgabe der Krim an die Ukraine, sollte er Russlands Präsident werden, für viele Ukrainer inakzeptabel. Der Kontext solcher Aussagen ist jedoch die weit verbreitete neoimperiale Tagträumerei vieler Russen im Ergebnis der Putin‘schen Propaganda der letzten zwanzig Jahre.
Unmittelbar nach dem russischen Anschluss der Krim erklärte Nawalny in einem Gastbeitrag für die „New York Times“ am 19. März 2014, dass „Putin auf zynische Weise die nationalistische Aufwallung [in Russland] auf einen Fieberpegel gebracht hat; die imperialistische Annexion ist eine strategische Entscheidung, um das Überleben seines Regimes zu sichern.“ Nawalnys Plan, auf der Krim ein zweites Referendum über die Zukunft der Halbinsel abzuhalten, ist ein unbefriedigender Vorschlag für Kiew. Doch allein der Plan delegitimiert Putins Landnahme von 2014, da diese sich auf ein Pseudo-Referendum berief, welches die Satrapen des Kremls im März jenes Jahres auf der Krim durchgeführt hatten. Nawalnys Idee eines weiteren, nunmehr echten Referendums ist im politischen Kontext des heutigen Russlands schon als solche blasphemisch. Andere ambivalente Äußerungen Nawalnys wirken ebenfalls weniger besorgniserregend, wenn sie richtig im aktuellen öffentlichen Diskurs Russlands kontextualisiert betrachtet werden.
Zweitens: Nawalny durchläuft derzeit eine rasante Evolution von einem bloßen Antikorruptionsaktivisten zu einer nationalen Führungspersönlichkeit. Es ist zwar bislang schwer vorherzusagen, in welche Richtung und wie weit ihn diese Entwicklung schließlich bringen wird. Aber er könnte – so darf man hoffen – allmählich reifer, gemäßigter und ausgewogener werden. Zwar geben seine verschiedenen frühen nationalistischen Äußerungen Grund zur Sorge. Doch könnte ihn seine künftige politische Entfaltung trotzdem nicht zu einem zweiten Putin oder Lukaschenka werden lassen, so denn er jemals die russische Präsidentschaft übernimmt.
Putins Aufenthalt in Ostdeutschland in den Jahren 1985-1990 hat den künftigen Präsidenten nicht dazu gebracht, ein politischer Liberaler zu werden. Dagegen könnte Nawalnys unfreiwilliger Aufenthalt als ein Patient im vereinten Deutschland im Jahr 2020-2021 andere Auswirkungen haben. Da er sich Russland eher als Teil des europäischen denn des eurasischen Raums vorstellt, ist zu erwarten, dass Nawalnys weitere politische Entwicklung – sollte er je in hohe Positionen aufsteigen – von EU-Normen und -Standards beeinflusst sein wird.
Drittens ist der politisch wichtigste Aspekt des Nawalny-Phänomens weniger sein ideologischer Inhalt. Entscheidend sind die bereits heute subversiven Auswirkungen einer politischen Figur wie Nawalny auf Putins System staatlicher Macht, persönlicher Patronage, öffentlicher Dominanz und sozialen Einflusses. Der Aufstieg Nawalnys in den letzten Monaten hat ein aufkeimendes alternatives politisches Zentrum geschaffen, welches nicht den allgegenwärtigen Klientelbeziehungen innerhalb des Putin-Regimes entsprungen ist. Stattdessen hat Nawalny beträchtliche populäre Unterstützung außerhalb russischer Regierungsstrukturen aufgebaut, sich parallel zu den Netzwerken der herrschenden Elite entwickelt und seine Bewegung völlig unabhängig von Putin geschaffen.
Nawalnys Aufstieg ist somit verschieden von der palliativen Präsidentschaft Dmitri Medwedjews in den Jahren 2008-2012. Obwohl Nawalny Medwedjew scharf angegriffen hat, sind die politischen Visionen der beiden Politiker von Russland als einem europäischen, modernen und demokratischen Land nicht weit voneinander entfernt. Medwedjew ist zwar auch ein Reformer, aber er ist ein Produkt und eine Geisel des Putin‘schen Systems, das ihn nicht über sich hinauswachsen ließ. Das außersystemische Phänomen Nawalny hingegen ist ein potenziell tödlicher Virus für das System Putin – selbst wenn Nawalny nie Präsident wird.
Indem das Phänomen Nawalny die Logik von Putins Machtpyramide und Methoden sozialer Kontrolle unterläuft, birgt es die Chance, substanziellen Pluralismus in der Parteienlandschaft, den Massenmedien und dem politischen Leben Russlands im Allgemeinen wiederzubeleben. Die Bedeutung einer solchen Transformation der Beziehung zwischen russischer Elite und Gesellschaft kann kaum überschätzt werden. Sobald beispielsweise die nationalen Fernsehsender wieder zu Plattformen für wirklichen Journalismus und politische Debatten werden, dürften viele entscheidende Episoden in Putins Biografie und Herrschaft von neuem unter die Lupe geraten – von seinem anfänglichen Aufstieg in den späten Neunzigern bis hin zu Russlands Auslandseskapaden in den letzten fünfzehn Jahren.
Zurückhaltung gegenüber Nawalny wird daher angebracht sein, sollte er jemals aus dem Gefängnis entlassen werden und staatliche Macht erlangen. Heute jedoch fungiert sein politischer Aufstieg und die um ihn entstehende Bewegung als Eisbrecher für das korrupte russische politische Regime im Allgemeinen und Putins zunehmend repressive autoritäre Herrschaft im Besonderen. Ein pluralistischeres und demokratischeres russisches System würde das innen- und außenpolitische Verhalten jeder künftigen russischen Regierung mäßigen – auch einer, die von Nawalny selbst geführt wird. In Ermangelung eines alternativen Weges zu tiefgreifenden Reformen in Russland, verdient Nawalny nicht nur unsere rhetorische Sympathie. Er und seine entstehende landesweite Oppositionsbewegung sollten die volle politische Unterstützung aller haben, die auf eine neue russische Demokratisierung hoffen.
Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte am 12. Februar 2021 auf der Website „Russland verstehen“ des Zentrums Liberale Moderne Berlin.
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