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Rezension / 27.08.2020

Till van Rahden: Demokratie. Eine gefährdete Lebensform

Frankfurt a. M., Campus 2019

Der Historiker Till van Rahden betrachtet verschiedene Aspekte des demokratischen Zusammenlebens. Seiner Disziplin entsprechend entfaltet er anhand einer Rückschau auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte die Bedingungen, Praktiken und Räume der Demokratie. Er beschreibt die Deutschen auf ihrer Suche nach Demokratie als leidenschaftlich, aber unbeholfen. Zentral für ihn ist, Demokratie als Lebensform zu begreifen, denn dies bedeute, dem Dissens und Widerspruch einen sicheren Raum zu geben und so die als unlösbar wahrgenommenen Konflikte aushalten zu können.

Die Krise der liberalen Demokratie verbreitet sich zunehmend als gängige Diagnose der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland. Für manche scheint die Demokratie gar im Begriff des Niedergangs zu sein. Till van Rahden stellt sich in seinem Werk daher die Frage, wie dieser Krise begegnet werden kann. Auf erfrischende Weise betrachtet der deutsche Historiker dabei verschiedene Aspekte des demokratischen Zusammenlebens. Seiner Disziplin entsprechend entfaltet er anhand einer historischen Rückschau die Bedingungen, Praktiken und Räume der Demokratie. Anstatt in unkonstruktiver Panikmache oder zehrendem Pessimismus zu verharren, gelingt ihm vielmehr eine wirksame Betrachtung ihrer sozialen und kulturellen Voraussetzungen.

Die Auffassung von Demokratie als Lebensform erweist sich für van Rahden dabei als unabdingbar. Geteilte moralische Werte oder gesellschaftliche Homogenität allein hält er als Fundament einer intakten Demokratie für zu kurz gegriffen. Ihre Grundlage bestehe hingegen darin, einen Konsens über die Art und Weise des Streits zu finden und Spielregeln der Auseinandersetzung festzulegen, denen die Bürgerinnen und Bürger als Träger*innen der Demokratie auch in ihren Konflikten untereinander bereit sind zu folgen. Demokratie als Lebensform zu begreifen bedeute, dem Dissens und Widerspruch einen sicheren Raum zu geben. Dieser eröffne die Chance, die als unlösbar wahrgenommenen Konflikte aushalten zu können und „Freiheit und Gleichheit im Alltag sinnlich zu erfahren“ (22).

Um Wege aus der Krise aufzuzeigen, beginnt der Autor im ersten Kapitel, die Geschichte Westdeutschlands zu erzählen. Anhand ungewöhnlicher Quellen, wie etwa Artikeln aus der Tabak-Zeitung oder aus Die Parole. Illustrierte Zeitschrift für den Bundesgrenzschutz, nähert er sich der Frage an, wie um die Umsetzung der Demokratie seit 1945 in Deutschland diskutiert wurde. Dabei stehen neben alltagspraktischen Beispielen auch die vielfältigen Facetten und Widersprüche dieser Kämpfe im Vordergrund. Zeitlich unterteilt er die Suche nach der Demokratie ab 1945 in drei Phasen, von Ratlosigkeit nach dem Krieg über eine intensivierte und zugleich mannigfaltige Suche ab den 1950er-Jahren bis zu den Grabenkämpfen um 1968 herum. Im Anschluss daran habe sich im Westen eine „siegestrunkene wie sorglose Selbstgewissheit eines marktliberalen Effizienzdenkens“ (41) etabliert, welches auf der Demokratie als selbstverständlicher Prämisse beruhe.

Selbstverständlich war und ist die Demokratie van Rahdens Argumentation zufolge jedoch nie. Zweifel, ob eine liberale Demokratie tatsächlich umsetzbar sei, hätten die Deutschen nach 1945 beständig begleitet. Die Besonderheit der deutschen Nachkriegsgeschichte liegt darin, dass ihr in Form der NS-Zeit eine moralische Katastrophe vorausgegangen war, die große Unsicherheiten ausgelöst habe. Auf der Suche nach Demokratie beschreibt der Autor die Bürgerinnen und Bürger daher als leidenschaftlich, aber dennoch unbeholfen. Die Sehnsucht nach moralischer Harmonie sei zu groß gewesen, als dass Konflikte in dieser Hinsicht leicht auszuhalten waren. Auseinandersetzungen um moralische Werte gehören für van Rahden demnach unweigerlich zu einer Auffassung von Demokratie als Lebensform dazu. Im zweiten Kapitel beleuchtet er anhand des Begriffes der Moralgeschichte, inwiefern die Umsetzung der Demokratie in den Nachkriegsjahrzehnten durch Diskussionen um Tugenden und Selbstverständnis, Moral und Vertrauen geprägt wurde.

Als bedeutsames Beispiel für diese Diskussionen führt van Rahden im dritten Kapitel die Debatte um den väterlichen Stichentscheid an, der 1959 durch das Verfassungsgericht in Karlsruhe als verfassungswidrig erklärt wurde. Diese Entscheidung berührte Fragen der Autorität und Emanzipation sowie Neuaushandlungen von Geschlechterrollen, Familienmodellen und Kindererziehung gleichermaßen. Das Symbol des Vaters sei zu einem Symbol der Debatte um die Vereinbarkeit von Autorität und Demokratie geworden. Aus der Erkundung dessen, welche Rolle der Vater in Familie, Erziehung sowie als Partner einnehmen kann und soll, habe sich ein neues Familienideal entwickelt, in welchem seine Beteiligung als demokratisch verstanden wurde. Ein neues Verständnis von Autorität habe den Weg für die demokratische Gesellschaft freigemacht.

Familie erweist sich nicht nur im dritten Kapitel, sondern das gesamte Werk hindurch als Schlüsselbegriff für van Rahdens Analyse. Das Streben nach der idealen Familie erlebte 1968 eine Zäsur durch die antiautoritäre Bewegung. Galt die Familie ab den 1950er-Jahren als einziges Mittel, um eine demokratische Lebensform umzusetzen, sei diese Auffassung in den Sechziger- und Siebzigerjahren zunehmend kritisch betrachtet worden. Van Rahden zeigt im vierten Kapitel das Ringen um die Demokratie anhand entstehender Gegenentwürfe zur bürgerlichen Kleinfamilie auf. Insbesondere Institutionen wie der Kommune 2 in Berlin-Charlottenburg und Kinderläden wie dem 1970 eröffneten Bremer Kinder-Centrum widmet er seine Aufmerksamkeit. Er betont jedoch auch, dass in der heutigen Zeit zunehmend aus dem Blick gerate, wie Demokratie durch Familie und Autorität gelebt wird. Zwar würden Debatten um Fragen der Erziehung nach wie vor geführt, aber sie seien nicht mehr zwangsläufig an die Überzeugung geknüpft, dass davon die Demokratie abhinge.

Außerhalb der familiären und erzieherischen Sphäre sind es für van Rahden insbesondere öffentliche Räume, die eine Grundvoraussetzung für intakte Demokratie bilden. Im fünften Kapitel konstatiert er deren zunehmenden Verlust. Dies stelle einen schweren Einschnitt in die Demokratie als Lebensform dar, der zugleich die Herrschaftsform riskiere. Schwimmbäder, Parks und Bibliotheken seien nur einige von vielen unbedingt notwendigen Räumen, in denen es „die demokratische Tugend der ungeselligen Geselligkeit zu pflegen“ (138) gilt. Als zunächst exaltiert wirkendes Exempel führt van Rahden die ausführlich recherchierte Geschichte des 1961 eingeweihten und 1992 endgültig geschlossenen Parkbads in Offenbach an. Er plädiert dafür, Räume wie diesen zu erhalten und übt Kritik an rein marktgesteuerter Politik in diesem Bereich. Außer Acht lässt er allerdings die signifikanten Fragen, wer Zugang zu diesen Einrichtungen hat und welche sozialen Strukturen damit verknüpft sind. Soll die Demokratie aus der Krise geführt werden, so schließt van Rahden, müsse in ihre Grundvoraussetzungen investiert werden.

Wie dies abgesehen von Investitionen in öffentliche Räume konkret aussehen kann, bleibt teilweise offen. Anstelle ausformulierter Handlungsanweisungen legt van Rahden zumeist implizit dar, welcher Änderungen die Demokratie als Lebensform bedarf, um auch als Herrschaftsform weiter Bestand zu haben. Abgesehen von diesem Mangel an prägnanten Schlussfolgerungen sowie wenigen inhaltlichen Wiederholungen bietet van Rahdens Werk eine komprimierte, aber dennoch umfangreiche und lesenswerte Betrachtung der Demokratie als Lebensform in Deutschland. Die Stärke des Buches liegt in der Gründlichkeit der Analyse der teilweise unüblichen und überraschenden Quellen. In einem zugänglichen wie lebendigen Stil hinterfragt er nicht nur die oftmals „allzu klaren Urteile der normativen Demokratietheorie“ (23), sondern auch die gedanklichen Selbstverständlichkeiten seiner Leserinnen und Leser gegenüber der Demokratie. Allerdings lässt das Werk zugleich eine klare Bezugnahme auf den Kontext der Demokratietheorie entgegen des eigenen Anspruchs vermissen. Der Autor leitet die Auffassung von Demokratie als Lebensform aus einer politischen Tradition ab, welche er mit David Hume, John Dewey oder auch Sydney Hook verbindet. Es wird jedoch nicht näher thematisiert, was Demokratie als Lebensform oder eine demokratische Kultur über die Form der Auseinandersetzung hinaus bedeuten kann. So werden beispielsweise Fragen danach, welche Rolle Hegemonien oder die jeweilige Repräsentation verschiedener Gruppen in der gegenwärtigen parlamentarischen Demokratie im hier gezeichneten Bild spielen, nicht adressiert.

 

CC-BY-NC-SA
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Zwar gibt es gegenwärtig eine Vielzahl von Demokratien, aber zunehmend solche, die von der Forschung eher als „defekte“ oder „unvollkommene“ Ausprägungen dieser Herrschaftsform verstanden werden. Hiervon ausgehend befassen sich die Autoren des Bandes mit den systemimmanenten Schwächen und Fehlern, die Demokratien anhaften können. Auf die Frage nach möglichen Reformen finden sich kreative Vorschläge wie die Einsetzung von Volkstribunen oder mit Vetomacht ausgestatteten Zukunftsräten. Auch wird der schon klassische Rat gegeben, stärker auf Konsens denn auf Konkurrenz zu setzen.