/ 18.06.2013
Armin Nassehi / Markus Schroer (Hrsg.)
Der Begriff des Politischen
Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2003 (Soziale Welt Sonderband 14); 640 S.; brosch., 59,- €; ISBN 3-8329-0335-6Die moderne Gesellschaft operiert ohne Spitze und Zentrum, sie versteht sich nicht mehr als politisch konstituierte Einheit und ein angemessener (post-aristotelischer) Politikbegriff setzt die Unterscheidung von Politik und Gesellschaft (d. h. eine entpolitisierte Gesellschaft) voraus. Hat sich die Politikwissenschaft auf konzeptionelle Herausforderungen, die die Systemtheorie mit diesen oder ähnlichen Postulaten darstellt, ernsthaft eingelassen? Folgt man den Autoren des Sammelbandes - mit wenigen Ausnahmen (Leggewie, Meyer, Münkler) durchweg Soziologen - dann wären aus der Sicht der Politischen Soziologie (als Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, nicht der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft) erhebliche Zweifel angebracht. Und so ist es gewiss keine bloße Beiläufigkeit, dass die Herausgeber gerade in diesem Zusammenhang die Differenzen der beiden Disziplinen betonen, gilt ihnen doch die Politikwissenschaft als etatistisch fixiert auf „das klassische Bild nationalstaatlicher, i. e. politischer Selbstgenügsamkeit" (11). Wie könnte demgegenüber die spezifisch soziologische Perspektive in der Behandlung des Politischen aussehen? Dafür bietet der Band in der Tat ein breites Spektrum sehr anregender Artikel, die die im Zuge von Globalisierung und Transnationalisierung beobachtbare Transformation und Entdifferenzierung des Politischen unter vier Gesichtspunkten diskutieren. Die erste Gruppe der Beiträge bemüht sich um (neue?) theoretische Zugänge jenseits der Staatsfixierung, in der zweiten Gruppe geht es um Abgrenzungen des politischen Feldes von anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen, neue Akteure und Institutionen werden in der dritten und Fragen symbolischer Politik in der vierten Gruppe erörtert. Für die neuere Debatte des Politischen gewiss ein unverzichtbarer Band; aber vielleicht hätte im Titel auf den bestimmten Artikel verzichtet werden sollen, verspricht er doch eine übereinstimmende „theoretische und begriffliche Neubestimmung" (12), die die Beiträge nicht leisten können - und vermutlich auch nicht leisten wollen.
Aus dem Inhalt:
I. Zugänge
Zygmunt Bauman:
The Great Separation Mark Two or Politics in the globalising and individualising society (17-43)
Ulrich Beck:
Das Meta-Machtspiel der Weltpolitik. Kritik des methodologischen Nationalismus (45-70)
Hauke Brunkhorst:
Politik der Menschenrechte. Zur Verfassung der Weltgesellschaft (71-87)
Amitai Etzioni:
What is political? (89-99)
Christian Lahusen:
Die Kontraktualisierung des Politischen (101-116)
Richard Münch:
Politik in der globalisierten Moderne (117-131)
Armin Nassehi:
Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der „soziologischen" Moderne (133-169)
Uwe Schimank / Stefan Lange:
Politik und gesellschaftliche Integration (171-186)
II. Dimensionen
Alfons Bora:
Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts (189-216)
Regine Gildemeister / Günther Robert:
Politik und Geschlecht. Programmatische Gleichheit und die Praxis der Differenzierung (217-239)
Georg Kneer:
Politik und Umwelt (241-261)
Thomas Meyer:
Politik und Medien (263-279)
Gerd Nollmann:
Politik und Wirtschaft. Ungleichheitsforschung und Differenzierungstheorie zwischen nationalem Pakt und globaler Konkurrenz (281-307)
Gertrud Nunner-Winkler:
Politik und Moral (309-323)
Markus Schroer:
Politik und Raum. Diesseits und jenseits des Nationalstaats (325-356)
Monika Wohlrab-Sahr:
Politik und Religion. „Diskretes" Kulturchristentum als Fluchtpunkt europäischer Gegenbewegungen gegen einen „ostentativen" Islam (357-381)
Georg Vobruba:
Die sozialpolitische Selbstermöglichung von Politik (383-397)
III. Institutionen und Akteure
Kurt Imhof:
Politik im „neuen" Strukturwandel der Öffentlichkeit (401-417)
André Kieserling:
Makropolitik, Mikropolitik, Politik der Protestbewegungen (419-439)
Claus Leggewie:
Die Fraglichkeit politischer Repräsentation. Parlamentarische und außerparlamentarische Antworten (441-470)
Herfried Münkler:
Politik und Krieg. Die neuen Herausforderungen durch Staatszerfall, Terror und Bürgerkriegsökonomien (471-490)
Trutz von Trotha / Georg Klute:
Politik und Gewalt oder Beobachtungen und Anmerkungen über das ‚Kalaschsyndrom' (491-517)
Helmut Wiesenthal:
Konjunkturen des Machbaren - Beobachtungen auf der Fährte der rationalitätskritischen Theorie (519-536)
Helmut Willke:
Politik und Demokratie (537-553)
IV. Grenzen und Symbole
Mathias Albert:
Politik der Identität und Identität der Politik. Globale Politik und die Heterogenität des Politischen (557-570)
Elisabeth Beck-Gernsheim:
Namenspolitik. Zwischen Assimilation und Antisemitismus - zur Geschichte jüdischer Namen im 19. und 20. Jahrhundert (571-584)
Mathias Bös:
Zu den Grenzen der politischen Steuerung von Grenzen - nicht-intendierte Folgen von Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetzgebung (585-603)
Gabriele Klein:
Die Theatralität des Politischen (605-618)
Jörn Lamla / Sighard Neckel:
Das Praktische und das Symbolische der Politik. Am Beispiel politischer Konstruktionen von Ethnizität (619-637)
Thomas Mirbach (MIR)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.4 | 2.2
Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Armin Nassehi / Markus Schroer (Hrsg.): Der Begriff des Politischen Baden-Baden: 2003, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/20326-der-begriff-des-politischen_23688, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 23688
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
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