/ 21.06.2013
Cengiz Günay
Die Geschichte der Türkei. Von den Anfängen der Moderne bis heute
Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2012 (Uni-Taschenbücher 3301); 387 S.; 24,99 €; ISBN 978-3-8252-3301-3Die Türkei als konservativen, eher abgeschotteten und vor allem eigensinnigen Staat zu betrachten, lässt sich aus der Geschichte des Osmanischen Reiches heraus kaum erklären. Cengiz Günay, Senior Fellow am Österreichischen Institut für Internationale Politik, zeigt mit seinem weitsichtigen Kompendium die zunehmende Offenheit der Sultane für alles Westliche – meist aus Schwäche. Im Jahr der Stationierung von Bundeswehrsoldaten im NATO‑Partnerland Türkei ist auf die Entsendung Helmuth von Moltkes hinzuweisen, der 1835 eine Militärreform bei der Hohen Pforte anschob. Diese und weitere gesellschaftliche Neuerungen schrieb das 1839 erlassene Rosengarten‑Edikt fest. Dennoch prägten die Ära der Reorganisation („Tanzimat“) gewaltige innere Konflikte. Gegen Personenbeförderung in der ersten U‑Bahn von Istanbul wurde 1875 noch eine Fatwa verhängt – die Stadt erlebte indes einen von armenischen, griechischen und jüdischen Händlern getragenen wirtschaftlichen Aufschwung (eine Erwähnung der Bankiersfamilie Camondo sucht man vergebens). Minderheiten hatten es schwer. Die Jungtürken wollten durch eine „Türkifizierungspolitik“ einen starken Staat errichten. Günay spricht von einer Vernichtungspolitik gegen die Armenier im Ersten Weltkrieg. Die Verträge von San Remo und Sèvres knebelten die Türkei (der Vergleich mit dem Weimarer Deutschland ist augenfällig). Instabilität überwand Mustafa Kemal („Atatürk“) durch die Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei und die laizistische Kulturrevolution. Beamte sollten Anatolien modernisieren. Eine politische Liberalisierung wurde immer wieder durch die Armee eingeschränkt, ein Putsch folgte dem nächsten. Dass die Türkei heute als konservativer Staat gilt, sieht Günay zuerst in der rasanten Modernisierung bei demografischem Aufschwung begründet. Den Türken wird dabei schwindlig; sie besinnen sich – parteiübergreifend – auf scheinbare Traditionen. Anstatt sich Europa anzunähern, konstatiert der Politologe eine Vorbildrolle des wirtschaftsfreundlichen islamischen Konservativismus der Türkei in der übrigen islamischen Welt.
Sebastian Liebold (LIE)
Dr., Politologe und Zeithistoriker, wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.63 | 2.21 | 2.22 | 2.1
Empfohlene Zitierweise: Sebastian Liebold, Rezension zu: Cengiz Günay: Die Geschichte der Türkei. Wien/Köln/Weimar: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/31250-die-geschichte-der-tuerkei_37173, veröffentlicht am 28.02.2013.
Buch-Nr.: 37173
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Dr., Politologe und Zeithistoriker, wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz.
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