/ 11.06.2013
Hans-Jürgen Bieling
Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung - Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen
Münster: Westfälisches Dampfboot 2000; 273 S.; 48,- DM; ISBN 3-89691-472-3Diss. Marburg. - Wenn weithin die Dynamik der neueren gesellschaftlichen Entwicklung durch Schlagworte wie Globalisierung, Individualisierung oder etwa Desintegration beschrieben wird, so ist das nicht zuletzt ein Verdienst sozialwissenschaftlicher Bemühungen, Kernaussagen gesellschaftstheoretischer Analysen in das Medium von Zeitdiagnosen zu übersetzen. Allerdings scheint - angesichts der unübersehbaren Phänomene zunehmender sozialer Ungleichheiten - gerade das zeitdiagnostische Potenzial der Sozialwissenschaften gegenwärtig zu verblassen und von Deutungsangeboten ökonomischer Theorien verdrängt zu werden. Diese Schwäche sei - so der Verfasser - auch auf gewisse konzeptionelle Mängel zurückzuführen, die sozialwissenschaftliche Diagnosen der Tendenzen gesellschaftlicher Spaltung aufweisen. Bieling gibt im ersten Teil seiner sehr informativen Arbeit einen systematischen Überblick über sechs relevante Positionen (Systemtheorie, "Postmoderne", "reflexive Moderne", Theorie des kommunikativen Handelns, Kommunitarismus). Der zweite Teil bietet zunächst eine resümierende Kritik des zeitdiagnostischen Deutungspotentials der behandelten Theorien (166 ff.) und entwirft anschließend - vor allem mit Bezug auf den Regulationsansatz - weiterführende Perspektiven einer in der Tradition der kritischen politischen Ökonomie stehenden Gesellschaftstheorie.
Inhalt: 1. Problemaufriß: die Verfestigung der "sozialen Krise" - oder: "Das neue Gesicht der Arbeitsgesellschaft": 1.1 Die Wiederkehr sozialer Fragen und die Konjunktur der Begriffe; 1.2 Neue soziale Ungleichheiten; 1.3 Zur Krise am Arbeitsmarkt; 1.4 Armut im Wohlfahrtsstaat; 1.5 Soziale Desintegration und Entsolidarisierung; 1.6 Probleme der sozialwissenschaftlichen Diagnosen. I. Soziale Spaltung und Ausgrenzung - Theorien und Diagnosen der gesellschaftlichen Entwicklung: 2. Soziale Inklusion und Exklusion im Prozeß der funktionalen Differenzierung: 2.1 Leitdifferenzen im gesellschaftlichen Evolutionsprozeß; 2.2 Zur systemischen Reproduktion der Gesellschaft; 2.3 Dimensionen und Dynamiken der Inklusion und Exklusion; 2.4 Kritik des zeitdiagnostischen Potentials: Unklarheiten, Inkonsistenzen und "blinde Flecken". 3. Postmoderne und soziale Marginalisierung: 3.1 Postmoderne: zur Genese eines Begriffs; 3.2 Pluralität und Differenz jenseits der Spätmoderne; 3.3 Ambivalenzen der postmodernen Gesellschaft. 4. Soziale Ungleichheiten in der reflexiven Moderne: 4.1 Von der linearen zur reflexiven Modernisierung; 4.2 Zur Sozialstruktur der Risikogesellschaft; 4.3 Ein klassenloser Kapitalismus ohne Arbeit?; 4.4 Kritik der Überzeichnung des epochalen Strukturbruchs. 5. Soziale Desintegration aus Sicht der neuen kritischen Theorie: 5.1 Theorie des kommunikativen Handelns; 5.2 Zeitdiagnose: Kolonialisierung der Lebenswelt und Fragmentierung des Alltagsbewußtseins; 5.3 Dimensionen und Konsequenzen der sozialen Desintegration; 5.4 Analytische Defizite eines rationalisierungstheoretisch verengten Gesellschaftsbegriffs. 6. Zur kommunitaristischen Kritik zerfallender Gemeinschaften: 6.1 Wider den neuzeitlichen Individualismus; 6.2 Die Erosion der zivilen Gemeinschaft; 6.3 Die kulturalistisch verkürzte Wahrnehmung gesellschaftlicher Pathologien. II. Probleme und Perspektiven gesellschaftlicher Umbruchanalysen: 7. Zwischenbetrachtung: Zur Kritik des zeitdiagnostischen Deutungspotentials: 7.1 Gesellschaftsstrukturelle Umbrüche und zeitdiagnostische Tastversuche; 7.2 Analytische Irrelevanz materieller sozialer Ungleichheiten?; 7.3 Jenseits von Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung?; 7.4 Zum veränderten Selbstverständnis der Intellektuellen; 7.5 Dynamik und Kritik der Gesellschaftsstruktur. 8. Gesellschaftliche Strukturen im kapitalistischen Formationsbruch: 8.1 Zur kategorialen Konzeptionalisierung des Verhältnisses von Ökonomie, Politik und Gesellschaft; 8.2 Vom Fordismus zum "Post-Fordismus": sozialstrukturelle Konsequenzen der kapitalistischen Reorganisation; 8.3 Sozialtheoretische Unschärfen des Regulationsansatzes; 8.4 Gesellschaftliche Hegemonie und soziale Ausgrenzung: Strukturen, Kräfte und Projekte. 9. Zwischen Globalisierung und sozialer Desintegration: soziale Spaltung und Ausgrenzung in der "erschöpften Gesellschaft".
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.42 | 5.43 | 2.262
Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Hans-Jürgen Bieling: Dynamiken sozialer Spaltung und Ausgrenzung - Gesellschaftstheorien und Zeitdiagnosen Münster: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/12037-dynamiken-sozialer-spaltung-und-ausgrenzung---gesellschaftstheorien-und-zeitdiagnosen_14363, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 14363
Rezension drucken
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
CC-BY-NC-SA