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/ 03.06.2013
Hans Dietrich Genscher

Erinnerungen

Berlin: Siedler Verlag 1995; 1088 S.; geb., 78,80 DM; ISBN 3-88680-453-4
Genscher legt in seinen lange angekündigten Erinnerungen vor allem Rechenschaft ab über seine Arbeit als Außenminister. Etwa eine Hälfte des Buches ist seiner Jugend und beruflichen Entwicklung sowie wichtigen Aspekten der deutschen Außenpolitik während seiner Amtszeit gewidmet. Der fünfte Teil "Zeitenwende mit neuen Partnern" stellt nach Umfang und Gehalt den Schwerpunkt der Memoiren dar. Auf über vierhundert Seiten beschreibt Genscher detailliert den Umbruch in Europa seit Mitte der achtziger Jahre und die Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands und stellt vor allem seinen Beitrag dazu heraus. In Ergänzung zu den vielen, überwiegend positiven Besprechungen anderenorts seien hier einige kritische Punkte hervorgehoben. Im Kontrast zu den wiederholten besonderen Würdigungen der Rolle des amerikanischen Präsidenten Bush durch Bundeskanzler Kohl ist es sehr bemerkenswert, daß Genscher Bush nur im Zusammenhang mit Nebensächlichkeiten oder Ereignissen namentlich nennt. Zwar erwähnt er, daß Bush die deutsche Einheit unterstützt hat, aber eine seiner persönlichen politischen Rolle angemessene Würdigung erfolgt nicht. Dafür wiederholt Genscher unkommentiert, aber aussagekräftig, daß Bush in den USA dafür kritisiert worden sei, sich nicht lautstärker zur Öffnung der Mauer geäußert zu haben. Unerwähnt und ungewürdigt bleibt, daß Bush früh von der Möglichkeit der Einheit Deutschlands gesprochen hat und den Vereinigungsprozeß mit seinem politischen Gewicht gegenüber Mitterand, Thatcher und Gorbatschow und deren zeitweilig ausgeprägten Vorbehalten entscheidend unterstützt hat. Der Schlüssel für die Erklärung dieser demonstrativ unterlassenen Geste der Dankbarkeit, die er gegenüber vielen anderen bereitwillig erbringt, liegt in der Schilderung Genschers vom deutsch-amerikanischen Streit über die Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen, der Genscher breiten Raum einräumt, und dessen politische Bedeutung an vielen Stellen des Textes immer betont wird. Diese Schilderung macht eindrucksvoll deutlich, daß selten ein Konflikt zwischen den Regierungen dieser beiden Partner so verbissen ausgetragen wurde. Genscher hat vielen seiner amerikanischen Kontrahenten, allen voran Bush, offensichtlich nicht verziehen, daß er mit der Bezeichnung "Genscherismus" - zu unrecht - als unsicherer Kantonist im Bündnis gebrandmarkt wurde. Er überhöht aber seine eigene Rolle, und es ist sachlich falsch, wenn er die Lösung dieser Kontroverse dem Treffen der Außenminister beim NATO-Gipfel im Mai 1989 zuschreibt. Während hier im wesentlichen Genscher das Einverständnis abgerungen wurde, eine dritte Null-Lösung so eindeutig wie möglich auszuschließen, wurde der grundsätzliche Konflikt über die Modernisierung der Kurzstreckensysteme und die Aufnahme von Verhandlungen über diese Systeme durch den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten, die Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte (KSE) zu beschleunigen, gelöst. Es war Bushs Initiative beim Gipfel, die bereits in der Woche vorher von den USA ausgearbeitet wurde, welche eine Lösung herbeigeführt hat und die auch die bedeutsamen KSE-Verhandlungen (die Genscher fast nicht erwähnt) so beschleunigte, daß die wichtigsten Elemente des KSE-Vertrages noch vor dem Umbruch ausgehandelt waren. Dies hat auch die Verhandlungen über die deutsche Vereinigung wesentlich erleichtert. Genscher hätte seine eigenen großen Verdienste nicht im mindesten geschmälert, wenn er die Initiative Bushs so gewürdigt hätte. Genschers Verhältnis zur Bush-Administration und zum Präsidenten persönlich scheint auch belastet durch den Versuch vor allem des Weißen Hauses, den Außenminister in kontroversen Fragen mittels eines direkten Kontaktes zum Kanzleramt und zu Kohls außenpolitischem Berater Teltschik zu umgehen, was Genscher mehrfach anspricht. Genschers Retour auf die "Genscherismus"-Demütigung, die er zeitweilig erfahren hatte, und auf den Versuch, ihn auszuschalten, ist eine diplomatische, in der Sache aber äußerst scharfe Spitze gegen die Bush-Administration, mit der aber auch der Bundeskanzler und Teltschik gemeint sind: "Die neue amerikanische Administration hatte schnell erkannt, daß in der Bundesrepublik Verfassungsrecht und -wirklichkeit die Zuständigkeit und Verantwortung der Regierungsmitglieder eindeutig regeln. Danach leitet jeder Minister, auch der Außenminister, sein Ressort in eigener Verantwortung. Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland konnte man nicht ohne Schaden am Auswärtigen Amt vorbei haben. Wenn ein ausländischer Missionschef diesen Umstand nicht erkannte, beeinträchtigte er dadurch seine Wirkungsmöglichkeiten." (755) Auch an einer anderen wichtigen Stelle gerät Genschers Darstellung so einseitig, daß man sie als sachlich falsch bezeichnen muß. Mitte Februar 1990 sprach sich Genscher unzweideutig gegen die Ausdehnung der NATO auf das Gebiet der DDR aus und setzte sich mit Hilfe des Bundeskanzlers gegen Verteidigungsminister Stoltenberg vorübergehend durch. Dieser hatte dafür plädiert, daß die Beistandsgarantie der NATO für ganz Deutschland gelten muß. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag hat sich dann die Position Stoltenbergs, die von den USA nachdrücklich unterstützt wurde, im vollen Umfang durchgesetzt. Genscher verschleiert seinen Fehler in dieser Sache, indem er diesen Vorgang so schildert, als hätte er, entgegen belegten Aussagen, nie etwas anderes gewollt. Leider fehlt dem Buch ein Sachregister. Angesichts des nicht immer chronologisch strukturierten Stoffes wäre es gerade hier sinnvoll gewesen. Dafür gibt es aber ein Glossar, daß dem Nicht-Experten wertvolle Erklärungen bereithalten soll. Allerdings enthält es eine Vielzahl von Lücken und gravierenden sachlichen Fehlern. Der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), der im Text auch schon mal fälschlicherweise als KSZE-Vertrag bezeichnet wird, erhält hier die Abkürzung VKSE, die der Autor aber auch synonym als Abkürzung für die Verhandlungen zu diesem Vertrag verwendet. Statt der eingeführten Bezeichnung LRINF für die weitreichenden nuklearen Mittelstreckenwaffen wird die schon 1980 veraltete Abkürzung LRTNF verwendet und als "Tactical" statt "Theater" Nuclear Forces bezeichnet. Die Warschauer Vertragsorganisation wird mit WHO abgekürzt, was bislang für Weltgesundheitsorganisation stand. Alle Erläuterungen zur Europäischen Union, zum Europäischen Parlament und zur Europäischen Kommission sind noch auf dem veralteten Stand von 1994. Erstaunlich ist auch die Feststellung des ehemaligen Außenministers, daß die Ostverträge durch den Zwei-plus-Vier-Prozeß "abgelöst" worden seien. In der Erläuterung zu den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 wird nur auf drei der vier Verträge Bezug genommen. Das Saar-Statut bleibt unerwähnt. Peinlich ist es schließlich, wenn in den Erinnerungen des deutschen Außenministers zu lesen ist, Frankreich sei 1966 und Griechenland 1974 aus dem Bündnis wieder ausgetreten! Beide Staaten hatten lediglich nicht mehr an der militärischen Integration teilnehmen wollen, blieben aber Bündnismitglieder, und Griechenland hat seit 1980 seine Streitkräfte auch wieder in die militärischen Bündnisstrukturen integriert. Spanien dagegen, das auch nicht an der integrierten Verteidigung teilnimmt, wird sich glücklich schätzen, von diesem "Ausschluß" aus dem Bündnis verschont geblieben zu sein. Insgesamt gesehen sind die Erinnerungen eine spannende Lektüre, in der auch für die wissenschaftliche Forschung eine Vielzahl von politisch interessanten Aspekten deutscher Außenpolitik thematisiert werden. So stellt Genscher heraus, daß die Entspannungspolitik die Rahmenbedingungen für den Wandel in Europa und damit für die Einheit geschaffen hat (490) und widerspricht damit der These derjenigen, die in der Einheit eine Bestätigung der Adenauerschen Ost- und Deutschlandpolitik sehen, die Kohl nach zwischenzeitlichen Irrwegen vollendet hat. Auch seine Darstellung der drei Säulen deutscher Verantwortungspolitik (KSZE-Prozeß, UNO-Politik und Europäische Einigung) vermitteln, wie die Memoiren insgesamt, ein klares Bild vom außenpolitischen Credo eines großen Außenministers, dessen außenpolitische Leistung mit der europäischen Einigung und der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung von der Geschichte mit bleibenden Gütesiegeln versehen wurde.
Michael Broer (MB)
Dr., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.34.214.1 Empfohlene Zitierweise: Michael Broer, Rezension zu: Hans Dietrich Genscher: Erinnerungen Berlin: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/742-erinnerungen_586, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 586 Rezension drucken
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