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/ 03.03.2016
Karl Heinrich Pohl

Gustav Stresemann. Biografie eines Grenzgängers

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015; 352 S.; 49,99 €; ISBN 978-3-525-30082-4
Karl Heinrich Pohl hat keine klassische Biografie vorgelegt, die einem zweifellos nicht einfach zu charakterisierenden Politiker wie Stresemann mehr oder weniger wohlwollend, aber ganz sicher konsequent durch die Lebensabschnitte zwischen Wiege und Bahre folgt, immer bereit, seine Rolle oder ein Ereignis anders zu interpretieren als andere Lebensbeschreibungen es tun. Der Historiker entwirft stattdessen ein „Gegenmodell“ (9 et passim) zu diesem klassischen Ansatz. Die Kernfrage lautet bei Pohl nicht, wie Stresemann diese oder jene politische und menschliche Krise gemeistert hat, wie er dieses oder jenes Ziel erreichte oder weshalb er hier und dort scheiterte. Im Mittelpunkt steht vielmehr eine interessante These: Stresemann hat sein Image als einer der wichtigsten Politiker seiner Zeit nicht dem Zufall überlassen wollen. Mehr als viele andere seiner Zeitgenossen hat er seine Biografie inszeniert und mitunter sehr offensichtlich versucht, seine Wahrnehmung durch seine Mitmenschen positiv zu gestalten. Um diese These fokussieren zu können, bedarf es eben dieses Gegenmodells einer Biografie, die sich nicht auf Lebensabschnitte, sondern auf die bewusste Entwicklung eines Images konzentriert. Pohl zeigt, wie Stresemann, der politische Aufsteiger aus kleinbürgerlichem Milieu, eben diesen Aufstieg in die großbürgerlich‑adelige Klasse absichern wollte, zum Beispiel als ausgewiesener Bildungsbürger, der Aufsätze zu Goethe publizierte, sich in Lyrik versuchte. Oder als Angehöriger verschiedener Burschenschaften, in denen er auch als Sprecher fungierte, um „kulturelles und soziales Kapital“ zu sammeln, was Stresemann für seinen „atemberaubenden ökonomischen und politischen Aufstieg“ (94) einsetzen konnte. In dem von Pohl lesenswert präsentierten Gegenmodell zu einer klassischen Biografie eröffnet sich das Bild des ambivalent denkenden und handelnden Politikers und Menschen Stresemann, der jedoch trotz aller Bemühungen aus Sicht des monarchisch‑bürgerlichen Milieus der „Emporkömmling“ (317) blieb, der sich selbst mehr militäraffin und monarchisch orientiert sah als demokratisch überzeugt, gleichzeitig aber so geschickt in der Republik agierte, dass er für die Nachwelt wenn nicht als ein idealtypischer Demokrat, so doch zumindest als ein idealtypischer Vernunftrepublikaner erscheint.
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Rubrizierung: 2.32.311 Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Karl Heinrich Pohl: Gustav Stresemann. Göttingen u. a.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/39480-gustav-stresemann_47822, veröffentlicht am 03.03.2016. Buch-Nr.: 47822 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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