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/ 30.05.2013
Gerhard A. Ritter

Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung

München: C. H. Beck 2013; 263 S.; geb., 26,95 €; ISBN 978-3-406-64495-5
„Während die bisherige Literatur überwiegend dazu tendiert, die [...] Differenzen zwischen Kohl und Genscher und die Rivalität zwischen dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt [AA] zu betonen, ergibt sich insgesamt doch eher das Bild einer Arbeitsteilung zwischen dem Kanzler und seinem Außenminister.“ (182) – Diese interessante und so manche Perspektive korrigierende Feststellung basiert auf einer Auswertung nunmehr zugänglicher Akten des AA und den Veröffentlichungen neuer Dokumente aus britischen, französischen und russischen Archiven. Ursprünglich als Zeitschriftenaufsatz geplant, erweiterte Ritter seine Darstellung des knappen Jahres politisch‑diplomatischer Neuorientierung zwischen November 1989 und September 1990 zu einem Buch. Seinen Ansatz der Untersuchung hat er nicht geändert: die bekannte Chronologie der Ereignisse mit den Erkenntnissen aus den Akten zu ergänzen, um so die Rolle des AA und des zuständigen Ministers fokussieren zu können. Oberflächlich gesehen hält sich Ritter sehr mit Bewertungen zurück und präsentiert eine Art Chronik von bekannten Verhandlungen, weniger bekannten Telefongesprächen und persönlichen Äußerungen nicht nur Genschers, eingepasst in den vielfach analysierten historischen Rahmen. Wenn man sich auf diese Methode einlässt, dann ist der Erkenntnisgewinn überraschend groß; er führt zwar nicht zu einer grundlegenden Neubewertung der Ereignisse sowie der Akteure und ihrer Motive, aber er profiliert doch die eine oder andere Entwicklung der Monate vor dem 3. Oktober 1990 deutlich anders als bislang dargestellt. Es wird u. a. deutlich, dass das Kanzleramt und das AA erst spät die Möglichkeit einer Wiedervereinigung in Betracht zogen und auch nach der Wahl zur Volkskammer im März 1990 war diese für viele DDR‑Politiker nicht vorrangig. Die spätere PDS (Gysi) lehnte sie zudem grundsätzlich ab und DDR‑Außenminister Markus Meckel zielte auf eine Reform der DDR, denn eine Wiedervereinigung sei doch niemals Ziel der Volksbewegung gewesen. Aus westlicher Sicht gerierte er sich bis zu seinem Rücktritt im August 1990 allerdings wie ein diplomatischer Geisterfahrer. Bis Mitte Juni/Juli 1990 konnte keiner der Beteiligten an den intensiven Gesprächen, die vor allem durch das AA auf Beamtenebene bestritten wurden, eindeutig prognostizieren, wie der sich rasant entwickelnde Prozess enden würde. Abgesehen von der Relativierung der bisherigen Darstellung eines den Vereinigungsprozess dominierenden Kanzleramtes zeigt Ritter ein AA, das sich inklusive seines Ministers als kompetent und durchhaltefähig in diplomatischen Konflikten erwies.
Axel Gablik (AG)
Dr., Historiker.
Rubrizierung: 2.3152.3222.3132.3142.612.624.1 Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die deutsche Vereinigung München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/196-hans-dietrich-genscher-das-auswaertige-amt-und-die-deutsche-vereinigung_43606, veröffentlicht am 16.05.2013. Buch-Nr.: 43606 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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