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/ 03.06.2013
Renate Mayntz

Historische Überraschungen und das Erklärungspotential der Sozialwissenschaft

Heidelberg: C. F. Müller Verlag 1995 (Heidelberger Universitätsreden 9); 18 S.; kart., 14,- DM; ISBN 3-8114-9495-3
Denjenigen Politikwissenschaftlern, denen ohnehin bewußt ist, daß die im engen Sinne "sozialwissenschaftliche" Auffassung des Faches - Erklärung und Prognose als Aufgabe - nicht der tatsächlichen Lage gerecht wird, hat die Autorin nichts grundsätzlich Neues zu bieten. Gleichwohl ist es für das Fach wichtig, daß nun eine angesehene Soziologin begründet, warum sozialwissenschaftlicher Prognose prinzipielle Hindernisse entgegenstehen. Ausgangspunkt des Vortrages ist die "verbreitete Meinung", daß sich die Reife einer wissenschaftlichen Disziplin in ihrer Prognosefähigkeit zeige. "Nach Auffassung der analytischen Wissenschaftstheorie verfügt jede reife Wissenschaft über einen festen Bestand praktisch bewährter Gesetzesaussagen, die es erlauben, nach dem bekannten Schema 'Immer wenn A, dann B' das Auftreten von B im Einzelfall durch das Vorliegen von A kausal retrospektiv zu erklären oder aber, was logisch aufs gleiche hinausläuft, vorherzusagen." (3) Richtige Prognosen bestätigen insoweit die Richtigkeit der zugrundeliegenden Theorien. "Die Brücke, die trägt, das Auto, das fährt, und die ballistische Rakete, die zielgenau einen Satelliten in die vorausberechnete Erdumlaufbahn bringt - sie alle sind praktische Bestätigungen theoretisch fundierter Voraussagen. Korrekte Vorhersagen sind insofern der entscheidende Test für unser Wissen." (1) Wissenschaftsfortschritt erfolgt in dieser Sichtweise durch das Erarbeiten bzw. Überarbeiten und Testen von Theorien. In der Physik zum Beispiel sind "Überraschungen, die theoretische Annahmen falsifizieren, [...] ein Anlaß zum Lernen: Dies ist der Weg, auf dem die Wissensgewinnung, die Theorieentwicklung fortschreitet." (1) Wie aber wird man dann mit "historischen Überraschungen" fertig? Als Beispiele nennt Mayntz den radikalen Wandel des italienischen Parteiensystems sowie die Wende in der DDR. "Sozialwissenschaftler reagieren auf derartige historische Überraschungen leicht mit einer Mischung aus Selbstvorwurf und Apologetik - als hätten sie es tatsächlich besser wissen und vorhergesehen haben sollen." Dem setzt die Autorin die These entgegen: "Bestimmte historische Ereignisse überraschen uns eben nicht, weil wir eine falsche Theorie hatten, sondern weil sie nicht vorherzusagen waren." (2) Die "geringe Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften", so Mayntz, liege "nicht an ihrer Unreife [...], sondern [ist] prinzipieller Natur". Es gebe "bestimmte objektive Eigenschaften der sozialen Wirklichkeit, die [...] die Prognostizierbarkeit sozialer Ereignisse grundsätzlich einschränken": Stichworte Multikausalität, Nichtlinearität, Interferenz (3 f.). Multikausalität: Die Autorin erörtert die unterschiedlichen Formen und Wirkungskonstellationen von Multikausalität im sozialen Bereich. Die Kernaussage: "Im Bereich sozialen Verhaltens haben wir es praktisch niemals mit deterministischen Zusammenhängen der Art 'Immer wenn - und nur wenn - A, dann B' zu tun, also mit Ursachen, die zugleich notwendig und ausreichend sind. Das hängt wesentlich mit der Offenheit menschlichen Handelns für vielfältige und variable äußere Einflüsse zusammen, die aus der geringen Instinktprägung des Menschen und dem großen Gewicht mentaler Faktoren herrührt. Menschen sind offene Systeme" (5). Hinzu komme das Problem mit der Ceteris-paribus-Klausel. Wahlprognosen zum Beispiel können nur "ceteris paribus" richtig sein, also unter der Voraussetzung, daß die Rahmenbedingungen gleich bleiben. Wer aber könnte dafür seine Hand ins Feuer legen? So ist die Ceteris-paribus-Klausel für den Sozialwissenschaftler "meist eine mit vielen Unbekannten gefüllte Black Box", die dazu verleitet, "sie bzw. ihren Inhalt ganz auszublenden" (6 f.). Nichtlinearität: "Typische Erscheinungsformen nichtlinearer Dynamik sind abrupte Trendwenden, plötzliche Zusammenbrüche oder Eskalationen", zum Beispiel in der Wirtschaft Konjunkturzyklen, in der Politik Revolutionen oder die "verschiedenen Formen des abrupten Regimewechsels" (8). An mehreren Beispielen verdeutlicht die Autorin mögliche Gründe von Nichtlinearität, etwa das nichtvorhersehbare "Eintreten eines symbolträchtigen Ereignisses (bei der Studentenbewegung z. B. [der] Tod des Studenten Ohnesorg)", oder die "Überzeugungskraft eines spontan auftretenden informellen Führers" (9). Der Begriff Interferenz zielt auf die "ungeplanten und von den handelnden Menschen nicht einkalkulierten Wechselwirkungen verschiedener Teilprozesse". Praktisch können wir unsere Aufmerksamkeit immer nur auf einen Ausschnitt der Wirklichkeit konzentrieren. So "vernachlässigen wir zwangsläufig alles, was zur gleichen Zeit auch noch geschieht" (10 f.). Am Beispiel von Adolf Hitler stellt Mayntz zu Recht fest: "Die historischen Umstände eröffnen Gelegenheiten, aber es kommt am Ende immer darauf an, ob es Menschen gibt, die sie nutzen." (11) Zufälle ("koinzidentielle Effekte") aber "sind nicht vorhersagbar". Wenn jemand von einem herabfallenden Dachziegel erschlagen wird, dann gibt es gute Gründe sowohl für das Fallen des Ziegels als auch dafür, daß die Person gerade zu jenem Zeitpunkt dort vorbeiging - "aber das Zusammentreffen von beidem ist zufällig - ein rein koinzidentielles Zusammenwirken" (12). (Weitergehend wäre hier zu fragen: Wo genau liegt die Grenze zwischen Interferenz und Multikausalität? Und: Bezeichnet "Nichtlinearität" – ebenso wie "Historische Überraschung" – nicht lediglich ein Phänomen, ein äußeres Erscheinungsbild, während doch eigentlich der kausale Kern von "Nichtlinearität" herausgefunden werden müßte? Handelt es sich also insoweit darum, eine Unbekannte durch eine andere Unbekannte zu ersetzen?) Aus alledem folgt nach Mayntz jedoch nicht, daß "wir als Sozialwissenschaftler [...] uns auf theoriefernes Nachzeichnen abgeschlossener Vorgänge, auf 'bloße Geschichtsschreibung' zu beschränken" hätten. Man könne durchaus "einzelne verallgemeinerungsfähige Kausalzusammenhänge, prozessuale Mechanismen oder Konstellationen identifizieren, die am Zustandekommen eines bestimmten historischen Ereignisses beteiligt waren" (14). Die Erarbeitung einzelner Theorien - z. B. einer Theorie politischer Steuerung oder einer Theorie des Institutionenwandels - erlaube sowohl die nachträgliche kausale Interpretation historischer Vorgänge als auch "den Raum des künftig Möglichen abzustecken: nicht zu sagen, was geschehen wird, aber doch, was unter diesen und jenen Umständen geschehen könnte" (17). Mit dieser Selbstbeschränkung wird der Tatsache Rechnung getragen, daß es im sozialen Bereich eben nicht nur um Autos, Brücken oder ballistische Raketen geht, sondern um Menschen. Diese Einsicht ist nicht neu. Erinnert sei nur an Max Webers Differenzierung zwischen (naturwissenschaftlichen) Gesetzen einerseits und sozialen Regelmäßigkeiten andererseits, oder an Karl R. Poppers engagierte Kritik am Prognose-Ziel: nicht nur in seinem Historizismus-Buch, sondern auch in vielen Aufsätzen und Vorträgen bis an sein Lebensende. Und wohl kein anderer Autor wie Popper hat so nachdrücklich auf die ethische Bedeutung des Sachverhaltes hingewiesen, daß die Zukunft nicht vorhersagbar ist. Weil die Zukunft offen ist, ist jeder Einzelne mitverantwortlich.
Eberhard Schuett-Wetschky (SW)
Prof. Dr., Institut für Sozialwissenschaften (Bereich Politikwissenschaft), Universität Kiel (www.politik.uni-kiel.de/prof_schuettwetschky.php).
Rubrizierung: 5.21.11.2 Empfohlene Zitierweise: Eberhard Schuett-Wetschky, Rezension zu: Renate Mayntz: Historische Überraschungen und das Erklärungspotential der Sozialwissenschaft Heidelberg: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/699-historische-ueberraschungen-und-das-erklaerungspotential-der-sozialwissenschaft_505, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 505 Rezension drucken
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