/ 01.09.2016

Wolfgang Fritz Haug
Jahrhundertwende. Werkstatt-Journal 1990 bis 2000
Hamburg: Argument 2016; 877 S.; 48,- €; ISBN 978-3-86754-503-7Wolfgang Fritz Haug, marxistischer Gegenwartsdiagnostiker und ‑kritiker, der Anfang der 1970er‑Jahre „das Märchen“ (871) der Warenästhetik begrifflich geprägt hat, legt mit dem Werkstatt‑Journal eine Retrospektive auf die Zeit nach dem Fall der Mauer vor. Dabei sei jedoch Vorsicht geboten: „In der Werkstatt regiert [...] das experimentelle Denken.“ (8) Und so ist das hier versammelte Material, das den Zeitraum von Juni 1990 bis Ende 2000 abdeckt, eher eine Einladung zu kritischem Entdecken denn zur durchgängigen Lektüre. An dem, was da zu entdecken ist, lässt Haug indes schon in seiner Einleitung keine Zweifel: Die zehneinhalb Jahre nach dem Ende der Sowjetunion seien eine Zeit des Verfalls und der Katastrophen, der Kriege und der Vernichtung gewesen, die, ausgelöst durch den „transnationalen Hightech‑Kapitalismus“, nicht zuletzt in Form der derzeitigen „planetarischen Umweltkrise“ (6) die Welt an einen Abgrund geführt hätten. Die versammelten Notizen, Definitionen, Aphorismen und Anmerkungen zu Personen, Schriften und Veranstaltungen sind chronologisch geordnet und beginnen mit dem 5. Juni 1990. Der Sozialismus, so erinnert sich Haug an eine Aussage des Spiegel‑Autors Rolf Schneider, sei nur durch Terror und Autokratie aufrecht zu erhalten – Reformen jedoch brächten seinen Untergang, was, wie Schneider meint, Gorbatschow offensichtlich nicht gewusst habe. Haug interveniert in dieser und auch in vielen anderen Aussagen kaum. Er selbst, so schreibt er, habe nie geglaubt, dass es „in Bezug auf die SU etwas so Eindeutig‑Alternativloses zu wissen“ (13) gebe. Die weitere Einordnung des Gesagten überlässt er seinem Leser beziehungsweise seiner Leserin – etwa, dass mit Eduard Bernstein und dem späten Karl Kautsky durchaus prominente Theoretiker der Sozialdemokratie auf die Vereinbarkeit von Reform und Sozialismus hingewiesen haben. Später ist die Lage in der Sowjetunion kaum besser geworden. In einem Eintrag zum 27. August 1993 heißt es lapidar: „Russland, so heißt es jetzt ebendort, verwandelt sich immer mehr in ‚Absurdistan’.“ (416) Oder, am 12. April 1999, im Zusammenhang mit dem „Krieg gegen Jugoslawien“ (729): „Das neoliberale Freihandelsregime ist eines der globalen Marktöffnung. Homogene Bewegungsmöglichkeiten fürs global operierende Kapital.“ (730) In diesem Zusammenhang werden, wenige Sätze entfernt, dann Bill Clinton oder Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine genannt – eine Passage, bei der man sich doch wünscht, Haug hätte eben nicht auf ein Personenregister verzichtet, allzumal der Zugewinn einer systematischen Auswertung den etwaigen Nachteil „personalisierender Neugier“ (9) sicher aufgewogen hätte. Alles in allem liefert der Band eine ebenso spannende wie materialreiche Fundgrube für Ansätze kritischen Denkens nach 1990.
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Rubrizierung: 1.1 | 2.2 | 2.3 | 4.1 | 4.43 | 5.45 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Wolfgang Fritz Haug: Jahrhundertwende. Hamburg: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/40036-jahrhundertwende_48248, veröffentlicht am 01.09.2016. Buch-Nr.: 48248 Rezension druckenCC-BY-NC-SA