/ 17.12.2015
Maurice-Ruben Hayoun
Leo Baeck. Repräsentant des liberalen Judentums. Aus dem Französischen von Alexandra Maria Lindner
Darmstadt: WBG Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015 (Biografie); 400 S.; 49,95 €; ISBN 978-3-534-25758-4Ein einfühlsames Porträt und zugleich eine Geschichte vom Aufbruch des deutschen Judentums in die Moderne – später gewaltsam durch das NS‑Regime und die Shoah unterbrochen – bietet dieses Buch. Maurice‑Ruben Hayoun, Professor und Publizist, hat zuvor bereits umfangreich zu den Vordenkern des modernen Judentums und zur jüdischen Philosophie veröffentlicht, wovon auch diese Biografie profitiert: Leo Baeck, der lange als der bedeutendste Rabbiner in Deutschland angesehen wurde, wird in einer „intellektuellen Landschaft“ (29) gezeigt, die vor seiner Geburt gewachsen war und sich stetig entwickelte – und an der er selbst erst als Schüler, dann als Lehrer teilhatte. So entsteht ein historisches Panorama, das mit dem Wirken von Moses Mendelssohn beginnt und veranschaulicht, wie das Judentum im 19. Jahrhundert „eine echte Revolution“ erlebte, „die gleichzeitig im Bildungs‑ und im religiösen Bereich stattfand“ (72). Hayoun berichtet von den jüdischen Reflexionen über die Frage, inwieweit das Judentum auf die angestrebte und angebotene Emanzipation mit einer eigenen Modernisierung zu reagieren hatte. In diesem Kontext ruft er die großen Historikerdebatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Erinnerung – und damit den Antisemitismus, der neue Schatten zu werfen begann. Auch Baeck, der 1912 als Rabbiner nach Berlin ging, wurde damit konfrontiert – während er selbst das Studium der Thora mit der modernen Kultur verbinden wollte. Einer seiner Aphorismen zeigt seinen Anspruch: „Duldung ist ein Almosen“ (225). Baeck aber musste nach 1933 dann doch mühsam begreifen, wie Hayoun zeigt, dass gegen die Diktatur der Nationalsozialisten nichts auszurichten war; er selbst wurde nach Theresienstadt deportiert, seine vier Schwestern kamen dort um. Ihm blieb aber der „Geist als Gegenmittel zur Barbarei“ (300) und er plädierte in einer Vorlesung, die er in Theresienstadt hielt, ungebrochen für Recht und Gerechtigkeit. Diese Haltung verhalf ihm später, nachdem er nach seiner Befreiung zu seiner Tochter nach England ziehen konnte und sich auch um das kulturelle Erbe der europäischen Juden zu kümmern begann, zu einem neuen Blick auf (West‑)Deutschland und die damals heftig diskutierte Frage, ob man dort als Jude überhaupt noch leben kann. Baeck öffnete sich in dieser Hinsicht und trug bis zu seinem Tod 1956 mit grundsätzlichen Überlegungen zum interreligiösen und interkulturellen Dialog weiter bei. Hayoun zeigt mit dieser Biografie die Verwobenheit der jüdischen mit der deutschen und europäischen Geschichte – aber auch, wie bei dem „Aufkommen einer neuen Welt mit neuen Regeln“ Europa „den alten Dämonen des Antisemitismus“ (367) verfiel.
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Rubrizierung: 2.3 | 2.312 | 2.23 | 2.35 | 2.313 | 2.311 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Maurice-Ruben Hayoun: Leo Baeck. Darmstadt: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/39202-leo-baeck_47514, veröffentlicht am 17.12.2015. Buch-Nr.: 47514 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenCC-BY-NC-SA