/ 05.06.2013

Martin Heidegger
Nietzsche
Stuttgart: Klett-Cotta 1998; XX, 1048 S.; 6., akt. und erg. Aufl.; Ln., 148,- DM; ISBN 3-7885-0524-91936 begann Heidegger an der Universität Freiburg i. Br. eine Vorlesungsreihe zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Die ersten drei Teile wurden 1936/37, 1937 und 1939 gehalten (bedingt durch den Kriegsbeginn entfielen die letzten zwei Veranstaltungen des dritten Teils). Die Druckfassung dieser ersten Staffel wird im ersten Teilband vorgelegt. Der zweite Teilband gibt zunächst den Schluß des dritten Teils sowie den 1940 gehaltenen vierten und den für 1941/42 angekündigten fünften Teil der Reihe, der infolge des Kriegsverlaufs weder gehalten noch seinerzeit veröffentlicht wurde, wieder. Vier weitere Abhandlungen, die über den engeren Themenkomplex der Nietzsche-Vorlesungen hinausgehen auf eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Metaphysik, bilden die zweite Hälfte des zweiten Teilbandes. Von Heidegger auf den Zeitraum 1941 bis 1946 datiert, waren sie bis 1961 unveröffentlicht geblieben. In dieser chronologischen Gliederung wurden die beiden Teilbände 1961 erstmals veröffentlicht und in fünf Auflagen unverändert nachgedruckt. Die nun erschienene 6. Auflage unterscheidet sich von der Erstveröffentlichung durch die Ergänzung der von Heidegger in sein Handexemplar eingetragenen Anmerkungen und Querverweise, die als Fußnoten erscheinen. Sie betreffen nahezu ausschließlich die Abhandlungen der Jahre 1941 bis 1946 im zweiten Teilband.
Das außerordentlich umfangreiche Werk enthält eine differenzierte, thematisch-systematische Binnengliederung der Abhandlungen. Sie erlaubt einen Überblick über die jeweils behandelten Themen und Gegenstände. Dabei wird offensichtlich, daß Heidegger seine Auslegung der Schriften Nietzsches, wie er sie im Rahmen der Vorlesungsreihe vornimmt, in den Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der gesamten abendländischen Philosophie bis zurück zu den Vorsokratikern stellt. Hierzu geht er von der Annahme aus, die "eigentliche Philosophie" sei im Nachlaß Nietzsches "zurückgeblieben" (I: 7), soweit dieser die Ausarbeitung seines unvollendeten "Hauptwerks" Der Wille zur Macht betreffe. Der problematischen Voraussetzung dieser alle Abhandlungen im Rahmen der Vorlesungsreihe durchziehenden Hypothese ist sich Heidegger bewußt: Nietzsche selbst hatte das seit 1883 geplante Projekt bereits drei Jahre vor Ausbruch seiner Nervenkrankheit 1889 als solches aufgegeben und Teile davon in selbständige Veröffentlichungen ein- und umgearbeitet, die sein Spätwerk zwischen 1886 und 1890 ausmachen. Die Rückkehr des Interpreten zur vorgängigen Konzeption als einem Hauptwerk faßt diese (wirkungsgeschichtlich bedeutendsten) Veröffentlichungen daher als Dokumente des Scheiterns Nietzsches auf, die von ihm intendierte Lehre einer erneuerten Metaphysik zum Abschluß zu bringen. Die unter maßgeblicher Einflußnahme der Schwester Nietzsches nach dessen Tod betriebene Veröffentlichung der "Fragmente" zu Der Wille zur Macht unter diesem Titel, auf die Heidegger im wesentlichen seine Nietzsche-Interpretation fußt, hat sich inzwischen in textkritischer und editorischer Hinsicht als äußerst problematisch, wenn nicht irreführend erwiesen und ist mit der Edition der Kritischen Studienausgabe (Berlin 1967-1977) überholt. Indem Heidegger seine Rekonstruktion der Philosophie Nietzsches unter den Hauptbegriffen "Der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen" ausdrücklich auf dieses Phantom-"Hauptwerk" bezieht, nimmt er eine perspektivische Verkürzung seines Gegenstandes vor, die im Mißverhältnis zum enormen Ausmaß des philosophiegeschichtlichen Rahmens steht, auf den er sich in der vergleichenden Auseinandersetzung bezieht. Eine ausführliche Besprechung und Kritik der Erstveröffentlichung im Lichte des damaligen Forschungsstandes hat 1962 der Nietzsche-Spezialist Karl Löwith vorgelegt (in: Merkur XVI, 72-83).
Inhaltsübersicht: I. Band: 1. Der Wille zur Macht als Kunst; 2. Die ewige Wiederkehr des Gleichen; 3. Der Wille zur Macht als Erkenntnis. II. Band: 4. Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht; 5. Der europäische Nihilismus; 6. Nietzsches Metaphysik; 7. Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus; 8. Die Metaphysik als Geschichte des Seins; 9. Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik; 10. Die Erinnerung an die Metaphysik.
Michael Hein (HN)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Arbeitsstelle für graphische Literatur, Universität Hamburg, freier Lektor, Übersetzer, Publizist.
Rubrizierung: 5.33
Empfohlene Zitierweise: Michael Hein, Rezension zu: Martin Heidegger: Nietzsche Stuttgart: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/6527-nietzsche_8847, veröffentlicht am 25.06.2007.
Buch-Nr.: 8847
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Arbeitsstelle für graphische Literatur, Universität Hamburg, freier Lektor, Übersetzer, Publizist.
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