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/ 30.05.2013
Jürgen Link

Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (Mit einem Blick auf Thilo Sarrazin)

Konstanz: Konstanz University Press 2013; 243 S.; brosch., 19,90 €; ISBN 978-3-86253-036-6
Kaum ein Begriff sei für die modernen westlichen Gesellschaften von so entscheidender Bedeutung wie der der Normalität, meint Jürgen Link. Dabei steckt hinter diesem Konzept – wie seine Ausführungen belegen – weit mehr als nur eine Durchschnittsvariable, denn selbst in den postmodernen Zeiten des sogenannten new normal, in denen sich die Normalverteilungskurve abflacht und zu den Rändern ausdehnt, bleibt sie ultimativer Referenzpunkt. So stützt die Normalität beispielsweise eine spezifisch westlich‑moderne Wirtschaftsdynamik in der „Funktion […] als dynamische[…] Spielart von Stabilität“ (32). Diesen Bezug zu einer Normalität herzustellen, setzt die fortschreitende Übersetzung der Welt in Daten voraus – in Statistiken, Indizes wie BIP und nicht zuletzt in die individuelle Datenproduktion via Facebook und andere Social Media. Link beschreibt diese Entwicklung als so etwas wie einen Willen zur Normalität, der sich als Normalismus einschreibt und dem er nachzuspüren sucht: Die Übersetzung komplexer Realität in ein breites Spektrum an statistischen Kurven und Modellen „dient [der] dringend notwendigen Orientierung in der verdateten Gesellschaft und dann der Regulierung“ (83) – also der Kontrolle, die für die Individuen mit der „embryoähnlichen Sicherheit des Durchschnitts im Glockenbauch der Normalverteilung“ (105) vertuscht wird. Dem folgt auch, dass eine Krise als ein Element der Normalität zu werten sei, solange sie die Kurvenbewegung von Denormalisierung zur Normalisierung beibehalten könne. Im Fall der „Krise von 2007 ff.“ (199) sei eben dies nicht der Fall, was sich an den scheiternden Bemühungen der Normalisierung – rhetorisch oder faktisch – ablesen lasse. Nicht zuletzt ermögliche diese nicht normale Krise den Blick auf das defizitäre Wesen des (flexiblen) Normalismus und seine Tendenz zu immer regressiveren Spielarten. So weist beispielsweise sein das Buch begleitender Blick auf Sarrazin dessen Position als einen biologistischen Protonormalismus aus, der Popularität aus der Angst vor Verlust von Normalität gewinne. In der Entzauberung des Begriffs der Normalität als eine funktionslogische Komponente des kapitalistischen Systems liegt die größte Stärke der Analyse Links, die einen besser verstehen lässt, welche Kräfte im Wechselspiel der Krise als Denormalisierung und Normalisierungsanstrengungen wirken.
Alexander Struwe (AST)
B. A., Politikwissenschaftler, Student, Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Rubrizierung: 5.422.2 Empfohlene Zitierweise: Alexander Struwe, Rezension zu: Jürgen Link: Normale Krisen? Konstanz: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/226-normale-krisen_43689, veröffentlicht am 08.05.2013. Buch-Nr.: 43689 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
CC-BY-NC-SA