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/ 18.06.2013
Michael Großheim

Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement

Tübingen: Mohr Siebeck 2002 (Philosophische Untersuchungen 9); IX, 534 S.; Ln., 79,- €; ISBN 3-16-147902-5
Habilitationsschrift Rostock; Gutachter: H. J. Wendel, H. Hastedt. - "Sich selbst wie einen Anderen zu sehen" (2) - die gestörte Wahrnehmung der eigenen Person kann sich ganz spezifisch auf das politische Denken und Handeln des Betreffenden auswirken. Großheim zeigt auf der Grundlage der von Hermann Schmitz entwickelten Theorie der "entfremdeten Subjektivität" die Entstehung des Politischen Existentialismus. Den Ausgangspunkt dieser entfremdeten Subjektivität findet Großheim bei Fichte, dieser habe die Problematik entdeckt. Mittels Erfahrungsberichten und fiktionalen Texten von Schriftstellern und Philosophen zeichnet der Autor die Ideengeschichte der entfremdeten Subjektivität und ihre Faszination für zahlreiche Intellektuelle sowie ihre Konsequenzen für das Politische nach. Er analysiert dabei unter anderem die Schriften von Kierkegaard, Stirner, Jünger, Heidegger, Musil, Brecht und natürlich Sartre, aber auch von Thomas Mann. Ein spezifisches Muster, wonach die entfremdete Subjektivität ausgelebt wird und in den Politischen Existenzialismus umschlägt, gibt es nicht. Zu unterscheiden sind Menschen wie d'Annunzio, die die Politik als inhaltsleere Bühne betrachteten (Großheim zählt auch die 68er-Revolte dazu), von Menschen wie Brecht, die nach einer Phase der entfremdeten Subjektivität in ein "Gehäuse" (7) springen. Das verlorene Paradies des eigenen Ichs (der eigenen Identität und den eigenen Gefühlen wird keine Bedeutung mehr beigemessen) wird ersetzt durch ein neues, "der Realität gegenüber strapazierfähigeres" (250). Eine von sich selbst entfremdete Persönlichkeit, die diese Leere nicht erträgt, ist demnach anfällig für ein anderes Extrem, für totalitäre Ideologien: Die gestörte Selbstwahrnehmung mündet in den Politischen Existenzialismus. Es existiert dann immer noch kein "Ich", aber ein "Wir". "Das ist das Geheimnis, warum Brecht wie so viele, die einst für schrankenlose Freiheit geschwärmt haben, schließlich in die Marschkolonnen des Totalitarismus fand" (250). Diese Antwort auf die Frage, warum Intellektuelle zu den geistigen Wegbereitern und Protagonisten von totalitären Ideologien geworden sind, muss nach Großheims Ansicht vor allem eine Konsequenz haben: "Die Entzauberung der unheimlichen Welt absoluter Selbstlosigkeit." (474)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 5.425.33 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Michael Großheim: Politischer Existentialismus. Tübingen: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/18134-politischer-existentialismus_20945, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 20945 Rezension drucken
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