/ 11.06.2013
Detlef Horster
Postchristliche Moral. Eine sozialphilosophische Begründung
Hamburg: Junius 1999; 629 S.; geb., 98,- DM; ISBN 3-88506-285-2Das Konzept der "postchristlichen Moral" entstand nach Meinung des Autors schon bei Kant, der die Herauslösung der Individuen aus ihren traditionellen Bindungen in der umfassenden christlichen Gemeinschaft beschrieben hat (25). Horster bezeichnet moderne, postchristliche Moraltheorien als Vermittlungsvorschläge zwischen einer allgemein verbindlichen Moral und dem Selbstverwirklichungsanspruch der vergesellschafteten Individuen (37). Diese neueren Handlungsanleitungen sind nicht mehr von Gott gegeben und können, da sie auf die einzelnen Situationen der betroffenen Individuen Rücksicht nehmen, auch nicht mehr die identitätsstiftenden Kräfte freisetzen wie die Konzeptionen christlicher Moral. Diese Tendenzen wirken sich auch auf die Politik und deren Rolle innerhalb postchristlicher Gesellschaften aus. Mit den identitätsstiftenden traditionellen moralischen Strukturen gehen die klassischen "Stammwähler" verloren. In einer funktional differenzierten Gesellschaft können wir nicht von einer umfassenden Identität des Einzelnen mit der Gesellschaft ausgehen, denn ein solches unüberschaubares Gebilde verweigert dem Individuum die Möglichkeit zur Identifikation mit dem Ganzen (28 f.). In einem Kapitel über Politik und Moral wird die Frage untersucht, ob es jemals eine allgemeinverbindliche Moral gegeben hat, die ein politisches Handeln anleiten konnte. Dabei verweist der Autor zu Recht darauf, dass Gemeinschaftswerte nicht per se als positiv für den moralischen Zusammenhalt der Gesellschaft anzusehen sind, auch wenn mancherorts ihr Fehlen beklagt wird (363). Aber auch das Prinzip Wandel durch Handel und Einfluss durch Wirtschaftsbeziehungen stellt Horster in Frage: "So agiert nach Kant ein heuchlerischer politischer Moralist [...]. Für Politiker, die dies tun, sei Politik selbst die einzige Moral. 'Der politische Moralist, ein Meister der Realpolitik, behandelt sein eigenes Volk' als potentiellen Feind. Man diffamiert jemanden als Volksfeind, der nicht im Sinne des Gemeinwohls handelt" (365). Eine zentrale Frage für die heutige Politik ist nach Meinung des Autors, wie selbstreferentielle, autonome Systeme dazu gebracht werden können, einen Blick in die Umwelt zu werfen. Verschiedene Problembewältigungsstrategien seien in der Vergangenheit daran gescheitert, dass sie nicht nach einer die Teilsysteme verbindenden Lösung suchten. Weiter ließen sie unberücksichtigt, dass nicht mehr von einer Hierarchie der Politik, sondern von gleichgeordneten, autonome Funktionssystemen auszugehen sei, die nebeneinander her existieren. Der Politik fiele somit die Aufgabe zu, widerstreitende Interessen unter dem Leitwert des Gemeinwohls zu moderieren (373 f.). Die zunehmende Individualisierung und die Nichtidentität von Individuum und Gesellschaft zeigt sich nach Horster heute besonders in der starken Diversifikation von Recht und Moral (495). Im Zusammenhang mit Menschenrechten spricht sich der Autor gegen eine ausschließliche Betrachtung der moralischen oder rechtlichen Dimensionen aus. "Ich bin hingegen der Auffassung, dass eine breite moralische Basis, die in beschriebener Weise mit Hilfe ästhetischer Mittel gelegt werden könnte, die rechtliche Durchsetzung und Realisierung der Menschenrechte unterstützt und erleichtert. Umgekehrt würde eine UNO-Reform, die es ermöglicht, dass Menschen ihre Rechte selbst vertreten könnten und Menschenrechtsverletzungen gerichtlich behandelt und exekutiv verfolgt würden, die moralische Seite unterstützen und festigen." (518) In dieser Hinsicht sieht er auch die Notwendigkeit einer umfassenden Reform der UNO. "Ohne eine solche Reform kann es zur Intervention der NATO kommen, wie wir sie im Frühjahr 1999 anlässlich der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo erlebten. [...] Besser wäre in jedem Fall eine moralisch unterfütterte Rechtssicherheit, die ohne die oben erörterte UNO-Reform aber nicht zu haben ist." (519)
Horster hat nicht nur ein umfangreiches Buch geschrieben, sondern er wirft auch viele Fragen auf, die für den Politikwissenschaftler durchaus von Bedeutung sind. Wer eine dezidierte Analyse zu Themen z. B. weiblicher Moral oder zu Menschenrechten und Handlungsanleitungen auf internationaler Ebene erwartet, der wird die Ausführungen als zu kurz gegriffen erachten. Der Autor belehrt hingegen mit seiner Darstellung diejenigen eines Bessren, die der Auseinandersetzung mit der Frage nach einer postchristlichen Moral keine aktuelle und praktische Bedeutung zumessen.
Thomas Morick (TM)
Dipl.-Politologe.
Rubrizierung: 5.42 | 5.44
Empfohlene Zitierweise: Thomas Morick, Rezension zu: Detlef Horster: Postchristliche Moral. Hamburg: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/10531-postchristliche-moral_12450, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 12450
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Dipl.-Politologe.
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