/ 20.06.2013
Christiane Brenner / Peter Heumos (Hrsg.)
Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948-1968
München: R. Oldenbourg Verlag 2005 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 27); 558 S.; geb., 59,80 €; ISBN 3-486-57696-8„Erstaunlich mutet die bislang ungekannte Häufigkeit, Intensität und Permanenz des offenen industrial unrest – Arbeitsniederlegungen, Boykott, Einschüchterung der Normsetzer, Zusammenrottung – ausgerechnet unter den Rahmenbedingungen des terroristischen Hochstalinismus an“ (29), schreibt Christoph Boyer, Dozent am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte. In 18 historisch-soziologischen und ethnografischen Betriebs-, Lokal- und Regionalstudien analysieren die Autoren anhand von Beispielen die Handlungsbeschränkungen der staatssozialistischen Diktaturen durch die Konfrontation mit der Gesellschaft, die Folgen der wirtschaftlichen Umwälzung sowie die Proteste vor allem der Arbeiter. Es zeigt sich eine „‚dialektische Einheit’ von Überorganisation und Chaos“ (21), die sich nur unter Erweiterung des Rahmens einer auf staatliche Strukturen fokussierten Totalitarismustheorie erklären lasse. Zwar habe das Bestreben der Staatsparteien, die Macht zu erwerben und zu erhalten, alle Lebenssphären überwuchert. Gerade aber in der detaillierten Betrachtung sei für den Industriebetrieb festzustellen, dass er „kein Ort totalitärer Kontrolle und rigider Anweisungsunterworfenheit war“ (10), so die Herausgeber, obgleich die Grenzen eng gesteckt blieben. Im Mittelpunkt des Bandes, der auf die Jahrestagung des Collegium Carolinum 2002 zurückgeht, steht das industrielle Milieu insbesondere in der Tschechoslowakei. Diese Analysen werden ergänzt durch Beiträge über die DDR, Polen und Ungarn. Die Kapitel gliedern sich in die Themen Herrschaftsstrukturen und Konflikte in den Industriebetrieben, betriebliche Kulturarbeit, Repression und soziale Klassen sowie städtische und industrielle „Aufbaumilieus“. Insgesamt sei der Arbeiter- und Bauernstaat eine Propagandaveranstaltung gewesen, so Boyer, „eine in legitimatorischer Absicht permanent inszenierte und vorgegaukelte künstliche Wirklichkeit“ (28).
Aus dem Inhalt:
Christoph Boyer:
Der Beitrag der Sozialgeschichte zur Erforschung kommunistischer Systeme (13-32)
I. Herrschaftsstrukturen und Konflikte in den Industriebetrieben
Friederike Sattler:
Zum Konfliktverhalten von Arbeitern in der Chemieindustrie der DDR (35-76)
Małgorzata Mazurek:
„Besser, billiger, schneller“. Die Politik der Mobilisierung der Arbeiter im Warschauer Glühlampenwerk „Rosa Luxemburg“ nach 1956 (77-104)
Mark Pittaway:
Workers, Management and the State in Socialist Hungary: Shaping and Re-shaping the Socialist Factory Regime in Újpest and Tatabánya, 1950-1956 (105-131)
Peter Heumos:
„Wenn sie sieben Turbinen schaffen, kommt die Musik.“ Sozialistische Arbeitsinitiativen und egalitaristische Defensive in tschechoslowakischen Industriebetrieben und Bergwerken 1945-1965 (133-177)
Martin Krämer:
„Wer nicht die Verantwortung übernehmen will für das, was hier passiert, soll gehen!“ Innere Mobilisierung und veräußerter Klassenkampf in tschechisch-polnischen Montanbetriebsräten 1948 (179-202)
II. Betriebliche Kulturarbeit
Helke Stadtland:
Kommunismus und Kultur. Überlegungen zur betrieblichen Kulturarbeit der staatssozialistischen Gewerkschaften Osteuropas und der DDR (205-242)
Jiři Knapík:
Arbeiter versus Künstler. Gewerkschaft und neue Elemente in der tschechoslowakischen Kulturpolitik im Jahr 1948 (243-262)
Jiři Pokorný:
Die Betriebsklubs in der Tschechoslowakei 1945-1968. Zur Organisation sozialistischer Erziehung, Kultur und Erholung der Arbeiterschaft (263-275)
Annette Schuhmann:
Kulturhäuser der Gewerkschaften in Industriebetrieben der DDR der fünfziger Jahre (277-303)
III. Repression und soziale Klassen
Dieter Segert:
Repression und soziale Klassen. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der politischen Macht im Staatssozialismus (307-317)
Karel Jech:
Die Repressionen gegen die Großbauernschaft während der Kollektivierung der tschechoslowakischen Landwirtschaft (319-336)
Marketa Spiritova:
Formen der Repression in der Tschechoslowakei nach 1968. Das Alltagsleben tschechischer Intellektueller zur Zeit der ‚Normalisierung’ (337-353)
Jiři Pernes:
Die Verfolgung der Teilnehmer an den Arbeiterdemonstrationen in Brünn im Jahre 1951 (355-364)
Mečislav Borák / Dušan Janák:
Die tschechoslowakische Retributionsgerichtsbarkeit und die deutsche Problematik 1945-1948. Die außerordentlichen Volksgerichte in Moravská Ostrava, Opava und Nový Jičín (365-422)
IV. Städtische und industrielle „Aufbaumilieus“
Michaela Marek:
Die Idealstadt im Realsozialismus. Versuch zu den Traditionen ihrer Notwendigkeit (425-480)
Petr Lozoviuk:
Das Alte und das Neue in einer sozialistischen „Musterstadt“. Die Bezirksstadt Žd’ár nad Sázavou (483-503)
Sándor Horváth:
Alltag in Sztálinváros. Die „Zivilisierten“ und die „Wilden“ in der ersten sozialistischen Stadt Ungarns (505-526)
Katherine Lebow:
Socialist Leisure in Time und Space. Hooliganism and „Bikiniarstwo“ in Nowa Huta, 1949-1956 (527-540)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.62 | 2.22 | 2.314 | 2.25 | 2.2
Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Christiane Brenner / Peter Heumos (Hrsg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. München: 2005, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/23805-sozialgeschichtliche-kommunismusforschung_27360, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 27360
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Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
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