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/ 26.03.2015
Boike Rehbein / Jessé Souza

Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften

Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2014; 228 S.; brosch., 24,95 €; ISBN 978-3-7799-2947-5
Boike Rehbein und Jessé Souza stellen eine Theorie sozialer Ungleichheit vor, die für verschiedene Gegenwartsgesellschaften Geltung beansprucht. So wird die theoretische Argumentation durch empirische Verweise aus früheren Feldforschungen in Brasilien, Indien, Deutschland und Laos illustriert. Dabei gehen sie von der Annahme aus, dass Gesellschaften nicht bloß als funktionale oder ökonomische Systeme verstanden werden dürfen, sondern als „sinnhafte Praxis“ (8). Ihre zentrale These lautet, dass kapitalistische Gesellschaften „über eine symbolische Welt“ verfügen, „die auf wissenschaftlicher Grundlage eine Konkurrenz zwischen gleichen Bürgern um Kapital institutionalisiert, ohne die älteren Klassen und damit die symbolische Hierarchie zwischen ihnen abzuschaffen“ (8). Die Wurzel sozialer Macht wird demnach vor allem durch eine symbolische Vermittlung von Macht begründet und beständig reproduziert. Denn das eigentliche Versprechen der europäischen Aufklärung und aller westlichen Demokratien, die sich auf sie berufen, ist die Gleichheit aller Menschen, die durch eine verfassungsrechtliche Konstitutionalisierung individueller Grund‑ und Freiheitsrechte formal abgesichert werden sollte. Die in der Realität nach wie vor existierenden sozialen Ungleichheiten, die im Zuge der fortschreitenden Marktliberalisierung eher noch gewachsen sind, werden gemäß des dominierenden Weltbildes vom „symbolischen Liberalismus“ als individuelles Versagen gedeutet: „Das Versagen wird gesellschaftlich und subjektiv als Scheitern wahrgenommen und geht mit einem Verlust an gesellschaftlichem Ansehen oder gar der menschlichen Würde einher“. Folgerichtig bezeichnen die Autoren die modernen Gesellschaften als „Meritokratien“, die einem individuellen „Ansehensverlust“ sowie einer entsprechenden „Entwürdigung“ (9) Vorschub leisten, wenn der Einzelne den ökonomischen Anforderungen nicht (mehr) genügt. Rehbeins und Souzas Ansatz ist vor allem auch deshalb inspirierend, weil er auf die ungute Rolle der Wissenschaften in diesem symbolischen Reproduktionsprozess spezifischer Weltbilder verweist: „Die affirmative Wissenschaft geht von der Vorstellung aus, dass die Fundamente der Wissenschaft ein für alle Mal festgelegt werden können und die weitere Forschung nur in Anwendungen und Ableitungen besteht“. Das Gleiche gilt auch für „die kapitalistische und demokratische Gesellschaft, deren Fundamente in unantastbaren Verfassungen niedergelegt sind“ (217). Insofern lässt sich die Analyse auch als kritischer Weckruf an die Adresse der „eurozentristischen Sozialwissenschaften“ lesen, die eigenen ontologischen Annahmen kritisch zu hinterfragen, um sich nicht – wie die Politik – mit einer vermeintlich alternativlosen „Sozialtechnologie“ (218) zu begnügen.
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Rubrizierung: 2.22.232.225.425.43 Empfohlene Zitierweise: Henrik Scheller, Rezension zu: Boike Rehbein / Jessé Souza: Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften Weinheim/Basel: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/38208-ungleichheit-in-kapitalistischen-gesellschaften_46083, veröffentlicht am 26.03.2015. Buch-Nr.: 46083 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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