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/ 04.06.2013
Jürgen Hartmann

Wozu politische Theorie? Eine kritische Einführung für Studierende und Lehrende der Politikwissenschaft

Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; 272 S.; brosch., 32,- DM; ISBN 3-531-13069-2
Ein erheblicher Teil sozialwissenschaftlicher Publikationen geht aus der Routine des akademischen Betriebs hervor - seien das institutionelle Anlässe wie Prüfungen oder Lehrveranstaltungen, seien das Forschungsprojekte, deren Sinnhaftigkeit durch Veröffentlichung der Befunde legitimiert werden muß. Diese Textsorte unterwirft sich i. d. R. der fachlichen Disziplin in methodologischer wie in konzeptueller Hinsicht: es werden jeweils spezifische Relevanzgesichtspunkte, Interpretationsschemata und Zuordnungen zu Schwerpunkten des Faches genutzt, um die eigene Schrift auf die (unterstellten) Erwartungen der "(politik-)wissenschaftlichen Gemeinschaft" einzustellen. Zuweilen jedoch kommt es zu "Querschlägen" in Gestalt von Texten, die - aus begründetem Ärger über die Betriebsroutine - den faktischen Konsens des Faches in Frage stellen; Hartmanns Buch zählt zu dieser Sorte. Seine provokative Frage kann man zum einen als Frage nach der Theoriefähigkeit - genauer: der Theoriebedürftigkeit - der Politikwissenschaft lesen, zum anderen läßt sie sich als Problematisierung des Status "politischer Theorie" als einem etablierten Schwerpunkt des Faches verstehen. Hartmann versucht gar nicht erst, zwischen beiden Fragen einen systematischen Zusammenhang dergestalt herzustellen, daß die Identität des Faches über einen einheitlichen Gegenstandsbereich und dementsprechend einer darauf bezogenen Theorie auszuweisen wäre - angesichts der ausdifferenzierten Forschungspraxis ist das ja auch für die Nachbardisziplin Soziologie ein aussichtsloses Unterfangen. Hartmann ist vielmehr von der Theoriefähigkeit der Politikwissenschaft als empirischer Einzeldisziplin überzeugt: "Bereichstheorien von der Demokratietheorie bis hin zu Theorien der Internationalen Beziehungen machen den Theoriepool der Politikwissenschaft aus, der damit so vielgestaltig erscheint wie das ganze Fach." (235) Diese an sozialwissenschaftlichen Standards orientierte "Mainstream-Politologie" würde nur wenig verlieren, müßte sie auf das verzichten, was heutzutage an politikwissenschaftlichen Instituten als "politische Theorie" betrieben wird (146, 236). Das liege zur Hauptsache an der impliziten oder expliziten "philosophischen Fremdbestimmtheit" dieses Schwerpunktes, die Hartmann in erster Linie an Theorien politischer Gerechtigkeit (Rawls und die Folgen - 110 ff.) und an modernen Gesellschaftstheorien (Habermas, Luhmann - 147 ff.) diagnostiziert. Sein Urteil über den Status der sog. "Ideengeschichte" - kursorisch an Klassikern von Aristoteles bis Tocqueville vorgestellt (37 ff.) - fällt moderater aus: zwar habe sie nur noch wenig Kontakt mit den neueren Entwicklungen des Faches (80), könne aber doch durch Diskussion von Modellen politischer Ordnung anregend wirken (146). Seine grundsätzliche Kritik - politische Theorie müsse über einen Bezug zur "nachweisbare[n] politische[n] Wirklichkeit" (31) verfügen oder sie habe unter dem Dach der Politikwissenschaft nichts zu suchen - ist nicht als Prämisse, wohl aber in ihrer Anwendung auf die Beispiele durchaus (und dann natürlich theoretisch) angreifbar. Deshalb könnte das Buch - wie ich denke: entgegen der Intention Hartmanns - die vielfach zu beobachtende Theorieaversion von Anfangssemestern verstärken; für Lehrende und andere Liebhaber politischer Theorie (welcher Spielart auch immer) stellt es jedoch eine nachhaltige Aufforderung zur fachbezogenen Übersetzung theoretischer Reflexionen dar, deren "Wirklichkeitsbezug" nicht immer auf den ersten Blick erkennbar sein mag. Inhaltsübersicht: 1. Was ist politische Theorie? Pegeleinstellung; 2. Ideengeschichte als Traditionsgewerbe der politischen Theorie: 2.1 Historische Theorien zwischen Philosophie und Geschichtsbetrachtung; 2.2 Der Klassikerkanon: einige Beispiele; 2.3 Abschied von den Klassikern: Einsteuerung in die szientistischen Theorien; 2.4 Bilanz. 3. Die empirische Wende der frühen amerikanischen Politikwissenschaft; 4. Politische Philosophie vor antiker Kulisse: 4.1 Der aristotelische Royalismus Straussens und Voegelins; 4.2 Ideengeschichte als Wegemarkierung: Good guys, bad guys; 4.3 Hannah Arendts Wiederbelebung des Republikdenkens. 5. Das lange Trittbrett der modernen politischen Philosophie: 5.1 John Rawls als Deus ex machina der politischen Philosophie; 5.2 Robert Nozick als Staatsverächter; 5.3 Gebildete Antworten. Liberalismus mit aristotelischen Beigaben; 5.4 Michael Walzer als Spielverderber: Hinsehen statt Förmchenbacken; 5.5 Standfestigkeit des Trittbretts auf Forstwegen: Bilanz. 6. Politiktheoretische Beutesuche im Hochgebirge der Abstraktion: 6.1 Habermas; 6.2 Luhmann. 7. Der Behavioralismus - eine Attacke auf die konventionelle Politikwissenschaft: 7.1 Behavioralistisches Wissenschaftsverständnis; 7.2 Übungsplätze; 7.3 Demokratie als Aufhänger behavioralistischer "Großtheorien". 8. Unverdünnte und verschnittene Rationalität im Zentrum der post-behavioralistischen Politiktheorie: 8.1 Meuterei: Der Verlust des behavioralistischen Konsenses; 8.2 Nutzenrationale Ansätze: Theorieimporte; 8.3 Die Kontextverhüllung rationalen Handelns. 9. Politische Theorie: ein Konkursfall?
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 5.1 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Jürgen Hartmann: Wozu politische Theorie? Opladen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5120-wozu-politische-theorie_6729, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 6729 Rezension drucken
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