Andreas Wagener, Carsten Stark: Die Digitalisierung des Politischen. Theoretische und praktische Herausforderungen für die Demokratie
Die vierzehn Beiträge dieses Sammelbands behandeln in vier Kapiteln die Effekte der allgegenwärtigen Digitalisierung auf gesellschaftliche Prozesse, etwa auf die öffentliche Meinungsbildung und fragen unter anderem nach bestehenden Antagonismen im Bereich des Politischen, wie sie beispielsweise bei der digitalen Optimierung von Verwaltungshandeln bestehen können. In der Gesamtschau stelle der Band leider „ein lockeres Bündel unterschiedlichster, nur teilweise zusammengehaltener Ansätze“ dar, findet unser Rezensent, auch wenn einige Aufsätze durchaus „lesenswert“ seien.
Bei der Qualität von Sammelbänden kommt es oftmals darauf an, ob die Herausgeberinnen und Herausgeber eine redaktionelle Linie verfolgen – oder nicht. Manchmal ist der Sammelband ein lockeres Bündel unterschiedlichster, nur teilweise zusammengehaltener Ansätze; manchmal ist es eine entlang eines roten Fadens gekonnt in die Breite und Tiefe gehende Analyse. Der Sammelband „Digitalisierung des Politischen“ fällt leider eher in die erste Kategorie, was aber nicht automatisch heißt, dass nicht einzelne Aufsätze sehr lesenswert sind.
Der politikwissenschaftlich vermutlich interessanteste Aufsatz trägt die Überschrift „Legitimationsprobleme analoger Staatlichkeit“ (3-22). Argumentiert wird seitens seines Autors, Carsten Stark, dass nicht die Demokratie selbst durch Digitalisierung bedroht sei, sondern ihre analoge Legitimation (5). Für Stark ist die „analoge Demokratie“ vor allem durch eine starke Differenz zwischen politischen Profis und politischen Laien geprägt. Mit einer klaren Rollenzuschreibung: Die Laien hätten im Rahmen der „Aufklärungsdemokratie“ (7) zuzuhören; oder soziologisch von Stark formuliert: „Die Legitimationslogik analoger Demokratie ist auf die Exklusion des Laien aus dem politischen Raum angewiesen, auf die Vermeidung von Unvernunft und Emotionalität“ (8). Auftritt des Gamechangers Internet, das nun eine aktivere Teilnahme aller ermöglicht. Nicht unbedingt organisatorisch oder direktdemokratisch, wie etwa von der kurzzeitig in den Parlamenten vertretenen Piratenpartei proklamiert, sondern was die Verfügbarkeit von Wissen betrifft. Während man sich früher bei Skepsis gegenüber tatsächlich oder nur scheinbar rationalen Begründungen politischer Entscheidungen durch Zettelkästen der Bibliotheken hätte wühlen müssen, stünden Laien heute der Komplexität der Welt und der Expertise von Expertinnen und Experten keineswegs mehr hilflos gegenüber (15). Wissen – auch falsches – befindet sich immer nur einen Mausklick entfernt, ebenso die Möglichkeit, sich auf der Grundlage eigens recherchierten Wissens lautstark zu äußern. Aber was wird aus dem Schlachtruf „hört auf die Wissenschaft“? Stark sagt dazu: „Ich befürchte diese Argumentation ist nichts weiter als ein Relikt eines ‚ancien regime‘ welches sich nicht ins Zeitalter der Digitalisierung retten lässt“ (21). Eine starke These, die der Autor zudem mit der Einschätzung verbindet, diese Entwicklung werde die (demokratischeren) Parlamente stärken und die (hierarchisch-expertenorientierte) Ministerialbürokratie schwächen (18 f.).
Auch Pauline Boos, Celine Geckil und Judith Muster nähern sich dem Thema der (schleppenden) Digitalisierung des Staates über Legitimationsfragen. Neben der Output-Legitimierung, also den konkreten Ergebnissen des politischen und administrativen Prozesses, erkennen die Autorinnen in der Input-Legitimierung ein wichtiges Element der Selbstbestätigung staatlichen Handelns. Und hier argumentieren sie mit einer prozeduralen Legitimierung. Viele deutsche Rechtsnomen seien entweder unbestimmt oder ließen zum Teil erheblichen Ermessensspielraum. Die Folge: „Legitimation wird über die Darstellungsebene hergestellt: Durch ihre Verfahren portraitiert sich die Verwaltung gegenüber all ihren Umwelten als rational und leistungsfähig und lässt dabei genügend Flexibilität, um Komplexität zu verarbeiten“ (129). Dabei beziehen sie sich auf Luhmanns Systemtheorie. Interessant wird es nun, wenn man solche – flexiblen, unbestimmten – Prozesse digitalisieren will. Denn Digitalität benötigt eine klare Entscheidungsregel. Würden die Entscheidungsregeln aber klar ausdefiniert, verschwände der Spielraum und damit ein Legitimationselement für das Verwaltungshandeln. Damit entfiele für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung die Chance, sich selbst in Verfahren einzubringen und darzustellen (129 f., 132 f.). Schon aus diesem Grund habe die Verwaltung selbst wenig Interesse an einer Digitalisierung. Eine interessante These, die aber nicht erklären kann, wieso Digitalisierung dann in anderen Ländern funktioniert, denn dort dürfte dasselbe Legitimationsinteresse der Verwaltung bestehen. Skeptisch darf man auch bei der ergänzenden Annahme von Boos, Geckil und Muster sein, die Politikwissenschaft würde fälschlich von einer Ausrichtung der Verwaltung auf die Bürgerschaft ausgehen; vielmehr sei die Verwaltung primär auf die Arena der Politik ausgerichtet (127). Dem ist für die Bundes- und Landesebene nicht zu widersprechen, für die kommunale Ebene jedoch deutlich. Und da die Hauptlast der Verwaltung durch das deutsche Modell der Organleihe (das heißt, dass Bund und Länder kaum eigene Verwaltungskapazität haben und den Löwenanteil ihrer administrativen Aufgaben an die Kommunen weiter delegieren) bei den Kommunen liegt, gilt der aufgestellte Satz, so wie von den Autorinnen formuliert, auch nicht mehr.
Dennoch: Es werden durchaus interessante und diskussionswerte Thesen vorgestellt. Für den eigentlichen Bereich der Politik beleuchten zwei Aufsätze zum Schluss des Buchs die Rolle neuer politischer Akteure, wie etwa Hacker-Gruppierungen oder Influencerinnen und Influencer. Da es sich um vergleichsweise junge Phänomene handelt, fallen diese beiden Artikel stärker deskriptiv und weniger analytisch aus. Janine Schmoldt versucht zunächst die Gruppe der Hackerinnen und Hacker als Phänomen zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu umreißen (283-306). Während heute eher die Fälle der russischen Hackerkollektive oder die von Anonymous bekannt sind, greift sie einen weitgehend vergessenen Fall auf, den der Green Army Chinas. Angesichts der Unruhen gegenüber chinesischstämmigen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes während der Transition in Indonesien, hielt sich die chinesische Regierung mit Maßnahmen gegenüber dem südostasiatischen Staat bedeckt, schickte aber Signale in die Community, die von den Hackern und Hackerinnen als Zeichen der Ermutigung empfunden wurden. Entsprechend hätten diese indonesische Website und Einrichtung online attackiert (290 f.). Kurze Zeit später entfaltete sich das volle Potenzial des Phänomens während des Kosovo-Krieges, unter Beteiligung US-amerikanischer, europäischer, chinesischer und russischer Hacker und Hackerinnen (292 f.); „erstmals wurde das Internet mit in einen bewaffneten Konflikt einbezogen“ (293) – aber eben nicht von staatlichen Akteuren und auch nicht von der Zivilgesellschaft allein, da Staaten, wie etwa Russland, durchaus Hardware und Expertise zur Verfügung stellten. Solche Hacker-Kollektive spielen daher eine Doppelrolle, so die Schlussfolgerung der Autorin.
Viktoria Rösch beschreibt abschließend die Funktion von Influencerinnen und Influencern in der Politik (307-326). Ihr geht es um eine Definition des Phänomens durch eine phänomenologische Betrachtung. Quintessenz ist die im Fazit angebotene Definition politischer Influencerinnen und Influencern: „Als zentral setze ich die Arbeit am medialen Selbst, die in Auseinandersetzung mit den potenziellen Adressat:innen zu denken ist. Die Selbstthematisierung ist dabei konstitutiver Bestandteil einer politischen Bekenntnispraxis, die in den Sozialen Medien immer wieder reaktualisiert wird. Ich argumentiere, dass die Beziehungsarbeit zwischen Influencer:innen und Publikum als Emotionsarbeit zu verstehen ist“ (324). Einverstanden – aber ob man dafür einen 19-seitigen Aufsatz braucht, sei dahingestellt.
Neben den – hier detaillierter – vorgestellten Aufsätzen gibt es weitere Beiträge, manche interessant, andere eher mit erwartbaren Positionen. Dass es etwa die in den westlichen Sozialwissenschaften aktuell mit Feuereifer diskutierten „strukturellen Diskriminierungen“ durch Algorithmen geben kann, ist hinlänglich bekannt, der zugehörige Aufsatz bietet leider wenig Neues. Ebenso wurde bereits mehrfach hinter die Ideologie des „Solutionismus“ geblickt, jener Silicon-Valley-Ideologie, die für alle gesellschaftliche Probleme immer eine digitale Lösung vorschlägt. Spannender sind da wieder die Einschätzungen von zwei Sicherheitsforschern zur Bedeutung von KI in der Sicherheitspolitik zu lesen.
Geordnet sind die insgesamt vierzehn Aufsätze des Buches in vier Kapitel: Legitimation digitaler Politik und Partizipation, Digitaler Staat und Verwaltung, Digitale Öffentlichkeiten und Meinungsbildung und Neue Akteure. Nicht alle Aufsätze muss man gelesen haben, manche sind allerdings sehr interessant.
Demokratie und Frieden