Daniel Leese; Shi Ming: Chinesisches Denken der Gegenwart - Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft
Mit diesem Band eröffnen Daniel Leese und Ming Shi Einsichten in das Selbstverständnis Chinas: 21 erstmals ins Deutsche übersetzte Texte und damit verbundene Experten-Kommentierungen behandeln u. a. historische Themen, den Konfuzianismus, das Staatsverständnis, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowie die Ziele der Staatsführung. Das Buch bietet, so unsere Rezensentin, einzelne, aber „jeweils tiefblickende“ Zugänge zum kulturellen Denken und zu Debatten, in denen sich eine „weltgewandte Tiefe der Auseinandersetzung chinesischer Intellektueller mit einer global-ausgerichteten Lebenswelt“ offenbaren.
Eine Rezension von Josie-Marie Perkuhn
Mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Volksrepublik China ist die Anforderung gewachsen, sich mit dem Partner, Wettbewerber und Rivalen in unserer alltäglichen Lebenswelt auseinanderzusetzen. Während Präsenz und Einfluss Chinas auf unser Handeln zunehmen, ist uns oftmals nur wenig über das zeitgenössische Selbstverständnis intellektueller Chinesen zu ihrer Gesellschaft und Politik bekannt. Mit dem Sammelband zum chinesischen Denken der Gegenwart präsentieren Daniel Leese und Shi Ming 21 Schlüsseltexte von chinesischen Intellektuellen, die sie vier zentralen Themenschwerpunkten aktueller Debatten zuordnen und in die sie jeweils kommentierend einführen. Die vier Themenbereiche sind: „Chinesisches Selbstverständnis“, Staatsdenken und Herrschaftslegitimation“, „Bauernfrage und ländliche Modernisierung“ sowie „Zukunftsperspektiven“.
Eingeleitet wird der Band von Leese mit einem Abriss zu den aktuellen Kontroversen unter Rückgriff auf die Entwicklung intellektueller Strömungen seit der Reformära über die Frontenbildung mit dem Wiedererstarken der ‚Neuen Linke‘ in Folge der 1990er-Jahre und die zeitgenössischen Neukonfuzianer*innen. Über die vielen Rollen der chinesischen Intellektuellen reflektiert Shi Ming abschließend und folgert: „Der Alleinvertretungsanspruch der Partei […] ist unter Xi Jinping gänzlich unverhandelbar geworden“ (609). Das hat Auswirkung auf die Art, wie kritische Argumente – meist unter Rückgriff auf die Vergangenheit – vorgetragen werden. Anmerkend heißt es zur auffälligen historischen Tiefe der Beiträge, dass „kritische Ansichten heute kaum mehr in der Direktheit formuliert werden können“ (39). Eingeflossen sind auch Beiträge, die bereits vor Xi Jinpings Amtsantritt entstanden sind und erlauben, sich ein eigenes Urteil im Vergleich zu den aktuelleren Beiträgen zu bilden. Obgleich thematisch zentrale Themen angeschnitten werden, bleiben es punktuelle Einblicke dazu, wie auch heute noch intellektuell in China diskutiert wird. Mit der ‚eklektischen‘ Textauswahl sollen prägnante Analysen dargestellt werden, die jeweils für sich einen „substanziellen Beitrag zum Verständnis zentraler Probleme der chinesischen Politik und Gesellschaft in allgemein verständlicher Form“ liefern (39). Die nachfolgenden Auszüge zum Inhalt können lediglich einzelne Punkte der umfassenden Bandbreite wiedergeben.
Zu den Zukunftsperspektiven (Teil IV)
Mit Blick auf den globalen Megatrend der Digitalisierung tritt die Frage in den Vordergrund, wohin Chinas Zukunft steuert? Der Jurist Yu Qingsong widmete sich 2020 der Thematik der algorithmischen Verwaltung als Chinas Antwort gegen den (westlichen) Überwachungskapitalismus und nähert sich über eine Abhandlung zu Entwicklungsphasen dem Umgang mit Kreditdaten. Seine Kritik am westlichen Modell lautet: Die „dem industriellen Marktkapitalismus ursprünglich innewohnende organisatorische Reziprozität mit der Gesellschaft und den Menschen“ würde aufgelöst, weil sie sich von den Massen abgesetzt habe und somit die Nutznießer des Überwachungskapitalismus nun in den Unternehmen konzentriert seien. Dadurch werde das Regelsystem bei der Entscheidungsfindung untergraben und die Massen seien nicht mehr beteiligt, damit haben diese keine Macht mehr und so werde der Überwachungskapitalismus zum „Zersetzer der Demokratie“ (536). Dadurch würde eine ‚Black-Box-Gesellschaft‘ erschaffen. Das chinesische System strebe vielmehr ein fortgeschrittenes Stadium gegenüber dem westlichen Modell an, welches zur algorithmischen Verwaltung führe. Yu beruft sich auf das Konzept der ‚Gouvernementalität‘ Foucaults und sieht in der Entwicklung des chinesischen Modells „ein postmodernes Governance-Instrument“ (539). Abweichend von der traditionellen Vorstellung der Governance, durch Gedankenaustausch von Akteuren Konsens zu erreichen, wird die gesellschaftliche Aushandlung und demokratische Entscheidungsfindung durch die wissensbasierte Erläuterung bzw. die abstrakte Aneinanderreihung von technischen Funktionen abgelöst, aufgrund der dahinterstehenden algorithmischen Kontrolle. „Sie ersetzt dialogische Erläuterungen von Befehlen durch automatische Verknüpfung sowie Konsens durch Anpassung“ (540). Nach Yu stellt daher die algorithmische Verwaltung „eine Krise für das bestehende (westliche), auf einem funktionierenden Rechtssystem beruhende politische Repräsentationssystem dar“ (540). In der Anwendung, wie beim Sozialkreditsystem, sieht er Überlegenheit und einen Vorbildcharakter, da durch „Interventionen der Staatsgewalt“ die intransparente Kontrolle privater Akteure öffentlich gemacht würde (541).
Zentral sei die Entwicklung einer digitalen Persönlichkeit, die sich von einer realen Staatsbürgerschaft unterscheide und zur „neuen Form von Macht für die Datenverantwortlichen und zu einem Instrument [wird], das darauf ausgerichtet ist, die Rechte und Pflichten der Datensubjekte (Bürger) zu kontrollieren“ (544). In der Folge erzeuge sie nun eine Disziplinarmacht als „ein gänzlich neues Rechtsphänomen“ (550). Yu charakterisiert die algorithmische Verwaltung ferner als ein „vergesellschaftetes, gerechtes und rationales Interessenausgleichsystem“ (550) und ein „wissenschaftliches Mittel zur Angleichung von Gesellschaftsmitgliedern“ (551), wobei das Sozialkreditsystem durch Quantifizierung Verhalten normiere (554). Bei Erfolg würde die algorithmische Verwaltung die „Theorien der Regierungsführung revolutionieren“ und habe das Potenzial zum Organisationsrahmen für Entwicklungsländer zu werden (552).
Ebenfalls aus dem Jahr 2020 stammend, erörtert der Beitrag des ehemaligen Direktors der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, Fang Ning, die „zwei Seiten der Leistungsfähigkeit zentralisierter Machtstrukturen“ (556-566). Die Professorin für Marxismus-Forschung, Song Shaopeng, ruft in ihrem Beitrag zur Beschäftigung mit der Gender-Thematik auf und votiert für eine erneute marxistisch-feministische Kritik (468-496). Im Abschnitt zu den Zukunftsperspektiven sind weitere Texte aufgenommen, die zum Beispiel systemische Reformen behandeln (Hu Shuli et al., 2010) oder das Argument ausführen, dass die Regierungsform des königlichen Weges der demokratischen Regierungsform überlegen sei (Jiang Qing, 2015) bzw. das Aufbegehren eines wütenden Volkes, das sich nicht länger einschüchtern lasse im Beitrag von Xu Zhangrun (2020).
Über das chinesische Selbstverständnis (Teil I)
Die facettenreiche Thematik zum chinesischen Selbstverständnis umfasst den historischen Werdegang zum heutigen Staatsvolk, die Einheit aus diversen Nationalitäten, ihre heutige Bewertung oder auch die Stellung des Patriotismus. Letzterer wird von Zhang Qianfan als „Liebe gegenüber den Menschen des Staates“ eindeutig definiert, was nicht notwendigerweise „die ‚Liebe‘ zu der Regierung“ bedeute (155).
Ge Zhaoguang fragt sich als Historiker, wann China die Frage debattiere, was China sei (50-74). Er ermittelt unter historischem Rückgriff drei Phasen, die sich durch die Auseinandersetzung mit angrenzenden Nachbarn bzw. der Welt auszeichnen: In der Nördlichen Song-Zeit sei es um die strikte Abgrenzung zwischen ‚China‘ und ‚Barbaren‘ (54) gegangen. Die Debatte sei dann im Zuge der späten Qing-Zeit nach dem Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/95) und dem aufkommenden Nationalismus wiedergekehrt. Sie habe den Transformationsprozess zum modernen Staat begleitet. Die bis heute anhaltende dritte Phase sieht der Autor in Verbindung mit der globalen Identitätsdebatte, angeregt durch Samuel Huntingtons Buch Who Are We von 2005 (60). Sie bringe neue Herausforderungen für die Definition von Staat und Nation sowie Territorium und Staatsvolk. Er schreibt: „Das historische Gebiet war einem permanenten Wandel unterworfen. Wir können daher nicht einfach das Territorium und die ethnischen Gruppen des modernen China in die Geschichte zurückprojizieren und davon ausgehen, dass sie bereits das historische China konstituierten“ (73). Auch die gegenwärtig ethnisch stärkste Gruppe der Han sei aus zahlreichen Vermischungsprozessen hervorgegangen (69). „Die Ethnizität, Politik und Kultur in diesem ‚China‘ bildete sich in einem sich mehrfach wiederholenden Prozess aus Sedimentierung und Verfestigung heraus“ (73). Schließlich weise „das gegenwärtige China sowohl Eigenschaften eines modernen Staates als auch die eines vormodernen Reiches auf“ (73). Obgleich nicht explizit formuliert, liefert der Autor mit seiner Herleitung ein Narrativ, das auf Pluralität ausgelegt ist.
Die Herausforderung nach der Bestimmung von Nationalitäten und Staatsvolk thematisiert auch der Geschichtsprofessor Xu Jilin. Er fragt sich: „Wie die Nationalitäten Chinas zu einem Staatsvolk werden konnten“ (75-102). In einer detailreichen Abhandlung setzt er sich mit der „Trinität von Nationalität, Staat, und Staatsbürgerschaft“ (82) auseinander. Die Abhandlung ist gespickt mit Bezügen zur chinesischen Vergangenheit, zu Begriffskonzepten aus der russischen Debatte zur Nationalität (88) oder auch mit Anspielungen zu Demokratien. Konkret werden die korsische oder die Schottland-Frage, die Minderheitsethnien in den USA oder die muslimische Migration nach Europa und Nordamerika angeführt. Selbst in entwickelten konstitutionellen Demokratien, postuliert er, habe man bis heute keine zufriedenstellende Lösung für die Probleme mit Nationalitäten und ethnischen Gruppen gefunden (89). Xu Jilin betont auch, es handle sich bei der Kultur der Han-Nationalität um keine Reinform und die chinesische Nation sei eine „Einheit in Vielfalt“ (101). Die Einheit zeige sich in der „homogenen Identität als Staatsbürger unter einem einheitlichen politischen und rechtlichen System“ (102). Auf der politischen Ebene sollte sie die Verfassung ins Zentrum stellen und es müsse ein Verfassungspatriotismus geschaffen werden, der von einem Bürgerbewusstsein getragen wird. Denn ähnlich der Abhandlung Ge Zhaoguangs seien die Identität als Staatsvolk und die Identität als Nationalität voneinander zu trennen: „Einheit charakterisiert die Identität als Staatsbürger, die kulturelle Identität der Nationalitäten hingegen zeichnet sich durch Vielfalt aus“ (102).
Aus einer wirtschaftlichen Perspektive argumentieren Hu Angang und Hu Lianhe im Beitrag von 2011, dass die Verschmelzung zur organischen Einheit ein Anliegen der zweiten Generation der Nationalitätenpolitik sei. Während zwischen 1991 bis 2003 der Disparitätskoeffizient stieg, zeigte sich „die Vergrößerung der relativen Kluft zwischen nationalen Minderheitenregionen und Küstenregionen“. Im folgenden Zeitraum verringerte sich diese Kluft, was ihrer Meinung nach gezeigt habe, „dass nationale Minderheiten als wichtige Mitglieder der großen Familie der chinesischen Nation unmittelbar von den ‚Vorteilen des sozialistischen gemeinsamen Wohlstandes‘ profitierten, [und] dass das Zentralkomitee der Partei ein Wissenschaftliches Entwicklungskonzept verfolgt, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht, […]“ (113). Der insgesamt 15-zeilige Satz zählt zur umfassenden Entwicklungsplanung der Regionen auch die strategische Erschließung des westlichen Gebiets zur Nutzung ihres komparativen Vorteils oder den Aufbau einer Pufferzone für den Umweltschutz in den nationalen Minderheitenregionen (114). Mit der hoffnungsvollen Brille des wirtschaftlichen Aufschwungs steht dieser verjährte Text exemplarisch für die Vorteile einer Zeit, die von der Auffassung geprägt war, durch Austausch und Bildungschancen den Integrationsprozess zu verbessern.
Zum Staatsdenken und Herrschaftslegitimation (Teil II)
Auch in den sechs Texten zur Herrschaftslegitimation stecken Vielfalt und eine facettenreiche Debatte. Gan Yang widmet sich im Artikel von 2007 dem Aufkommen einer neuen chinesischen Zivilisation in Auseinandersetzung mit seinen Erfahrung in den USA und diskutiert das „Problem der chinesischen Kultur“. Obgleich er der Meinung sei, es gäbe nur wenige Chines*innen, die den Westen wirklich verstünden, aber sehr viele, die irgendetwas daher schwafelten (188), wolle er nicht falsch verstanden werden, denn, die eingehende Befassung mit China setze die Erforschung des Westens in einer globalisierten Welt unter seiner Dominanz voraus: „Erst wenn wir den Westen eingehend studiert haben, können wir die Kompetenz erlangen, eigene Differenzierungen vorzunehmen“ (187).
Chen Ming betrachtet das Überwinden von Links und Rechts und ihrer politischen Faktionen aus konfuzianischer Sicht: So drehe sich die jüngere Geschichte Chinas vor allem um die nationale Rettung, das Streben nach Reichtum und Stärke sowie um die Erhaltung der Nation, der „Rasse“ und des spirituellen Glaubens (200). Im Ziel des Wiedererstarkens der chinesischen Nation sieht er die Bedeutung des chinesischen Traums, verbunden mit der Überwindung der zwei politischen Lager (203 f.). Während Mao „die Wertvorstellungen der orthodoxen Geschichtsschreibung komplett auf den Kopf“ stellte und der vollständige Bruch zu einem Wertenihilismus führte (209 f.), zolle der chinesische Traum Xis der geschichtlichen Kontinuität Respekt und erweitere das historische Fundament (210). Seine Kritik an der Rechten ist pointiert, Transformationen von Reichen mündeten in eine Aufspaltung, in dem sie das Individuum als Basiseinheit nähmen und für den Vorrang des Prozesses plädierten. Dabei neigten sie dazu, den Nationalstaat mit dem modernen Staat gleichzusetzen und „wenn diese Theorie auf dem Papier ganz gut aussieht, ist sie in Wirklichkeit ziemlich absurd“ (212). Die Linke glaube im Gegenzug an die Unteilbarkeit des Staates. Den Gedankenstrang zur Vorstellung, dass die Arbeiterklasse kein Vaterland habe, führt der Autor nicht weiter aus, sondern votiert als Konfuzianer für die Große Einheit (da yitong). Die Geburtsstunde der aktuellen Probleme sei die mandschurische Qing-Zeit und gehöre zur Staats- und Nationenbildung. Ideologische Konzepte „wie die rechte Theorie der Individualität oder die linke Klassentheorie“ (213) sollten bei der Staats- und Nationenbildung nicht im Wege stehen; denn würde man gerade die Klassenfragen zu ernst nehmen, habe „man ein echtes Problem am Hals, das einen zur Kulturrevolution zurückführen kann“ (ebd.). Die Übernahme der leninistischen Theorie mit „der fortwährenden Revolution unter der Diktatur des Proletariats […] ging völlig nach hinten los und brachte die Volkswirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs“ (216 f.).
Wang Hui thematisiert die Linienkämpfe im Zusammenhang mit der ‚Selbstrevolutionierung“ der Partei und konstatiert: „die Herausbildung neuer politischer Pfade wurde exakt durch diese Linienkämpfe erreicht. […] Politische Unterdrückung bedeutet das Ende des theoretischen Kampfes, das Ende der Liniendebatten und das Ende konkurrierender Praktiken innerhalb der Partei. Heutzutage signalisiert auch die Unterdrückung intellektueller Debatten durch politische und mediale Macht das Ende der Politik“ (259 f.). Er denkt den Parteienstaat neu und eruiert Bedingungen für eine ‘Post-Parteien-Politik‘, denn die Repolitisierung könne sich nicht auf altmodische Parteienpolitik stützen. Jedoch negiere die ‘Post-Parteien-Politik‘ die Rolle politischer Organisationen nicht, sondern betone vielmehr deren „offenen, auf die Ausgestaltung wartenden Charakter und die Besonderheiten unbürokratischer Politik“ (271).
Dem Neukonfuzianer Chen Ming zufolge wurde die Parteistaatstheorie durch den chinesischen Traum von Xi Jinping verbessert: In der neuen „Staatsparteitheorie Version 2.0 sind das Volk, die Nation und der Staat die grundlegenden Konzepte“ (218). Der konfuzianische Weg von Mitte und Maß stehe für einen ausgewogenen Weg und so sei das regelhafte Verknüpfen des Wiedererstarkens der Nation und des Volkes sowohl historische Mission als auch Gelegenheit für theoretische Innovation (219 f.).
Auch Liu Qing, ansässig in Shanghai, thematisiert den Konfuzianismus und definiert seine unterschiedlichen Facetten, wie den Wert der konfuzianischen Zivilisation mit der Bedeutung für die kulturelle Identität Chinas und den politischen Konfuzianismus. So sei letzterer attraktiv, weil er „sich nicht auf seine Kompatibilität mit der konstitutionellen Demokratie, sondern auf sein Potenzial, diese zu verbessern“ beziehe (240). Ein vorausgegangener Bruch mit der Tradition sei nicht nur oberflächlicher Natur (243), denn das China des Konfuzianismus sei bereits Vergangenheit. Zwar möge die aktuelle Politik kompatible Ansätze aus den Klassikern entlehnen, so werde „sie diese durch moderne Sprache und Prinzipien ausdrücken“ (244). Gerade die Debatte um die Stellung des Konfuzianismus für die heutige Politik zeigt den Nuancenreichtum im gegenwartsbezogenen Denken chinesischer Intellektueller.
Über die Bauernfrage und ländliche Modernisierung (Teil III)
Als größte Gruppe der arbeitenden Bevölkerung, so He Xuefeng, nimmt das Schicksal der Bäuer*innen und die ländlichen Bodenreformen einen beständigen Stellenwert der Gegenwartsdebatte ein. Doch wer sind eigentlich diese Menschen genau, fragt der Autor und weist auf den Unterschied zwischen ‚Kernbauern‘ mit einem Anteil von 90 Prozent, die selbst landwirtschaftlich tätig sind, und nominelle Bäuer*innen, die ihre Gewinne durch Pacht oder andere Tätigkeiten in den angrenzenden Städten erwirtschaften hin. Die zweite Gruppe sei es auch, die sich medial in den Vordergrund stellten und sich für ungefähr die Hälfte aller Petitionen (410) verantwortlich zeichneten. Er diskutiert weiter die Schieflage, dass Klein- und Kernbäuer*innen im Zuge der modernen Landwirtschaft aussortiert werden sollen, da sie als rückständige Produktivkräfte gelten, aber Familienbetriebe, Großbetriebe, Agrarunternehmen und Berufslandwirt*innen staatliche Förderungen erhalten (415). Der in Hongkong beschäftigte Qin Hui seziert in seinem Beitrag die sechs Debatten über bäuerliche Bodenrechte. Eine positive Veränderung sei die Grunderwerbsreform, da sie der offenkundigen Korruption in der Landverteilung opponiere und nun Erlöse den Staatskassen zugeführt würden (394 f.). Im gleichen Artikel spricht er auch das Gedankenkonzept ‚Kollektiveigentum‘ (376 f.) an und beleuchtet das Argument, nach dem Landlosigkeit zu Rebellion führe (383 ff.).
Der Sammelband liefert einen zwar punktuellen, aber jeweils tiefblickenden Zugang zum kulturellen Denken und damit zur Debatte zeitgenössischer Intellektueller in China. Für westlich geschulte Leser*innen mögen die ausschweifenden historischen Rückgriffe und die in vielen Beiträgen wiederkehrenden Einflechtungen zum Vergleich mit westlichen Demokratien oder Theorien abschweifend wirken. Sie zeigen aber auch die weltgewandte Tiefe der Auseinandersetzung chinesischer Intellektueller mit einer global-ausgerichteten Lebenswelt. Entsprechend der gängigen Praxis seien die enthaltenen ‚Denkanstöße‘ in den chinesischen Geistes- und Sozialwissenschaften häufig noch viel länger, was die Textauswahl dahingehend beeinflusst habe, dass einige unter Druck massiver Kürzungen herausgenommen werden mussten (40). Abschließend gibt eine Übersicht zu den Kurzbiografien, die Angabe der Originaltexte und ein umfangreicher Index von 17 Seiten einen hilfreichen Überblick zur thematischen Schwere und Vielfalt der ausgewählten Beiträge.
Demokratie und Frieden
Externe Veröffentlichungen
Daniel Leese / 09.06.2021
Deutschlandfunk Kultur