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Rezension / 03.07.2025

Roland Lochte: Gegen die Zeit. Demokratische Staaten in asymmetrischen Kriegen. Das Beispiel Afghanistan

Weilerswist, Velbrück Wissenschaft 2025

Roland Lochte untersucht, wie der Faktor Zeit zur entscheidenden Schwäche westlicher Demokratien in langwierigen Konflikten wie dem Afghanistan-Einsatz wird. Seine Analyse zeigt, dass öffentliche Meinung, politische Zyklen und schwindende Kriegsbereitschaft langfristige Strategien nahezu unmöglich machen. Unser Rezensent lobt das Buch als realistische und wichtige Mahnung, Auslandseinsätze künftig konsequent „vom Ende her“ zu denken.

Eine Rezension von Michael Rohschürmann

„Algier 1962 – Saigon 1975 – Kabul 2021. »Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt«, soll der US-Schriftsteller Mark Twain (1835–1910) einst gesagt haben“ (374). Mit diesen Worten beginnt das Fazit von Roland Lochtes ausgezeichneter Arbeit zu den eher düsteren Erfolgsaussichten demokratischer Staaten in asymmetrischen Konflikten.

Das Beispiel Afghanistan

Dass Lochtes Untersuchung Anfang 2025, kurz nachdem die Enquete-Kommission ihren Abschlussbericht zum Afghanistaneinsatz vorlegte, erschien, gibt ihr glücklicherweise mehr Brisanz und hoffentlich auch die Aufmerksamkeit, die diese Arbeit verdienen würde. In Afghanistan waren ca. 100.000 Soldaten der Bundeswehr in den fast 20 Jahren des Experimentes „Islamische Republik Afghanistan“ im Einsatz – 59 von ihnen kamen nicht zurück, und viele, die zurückkamen, sind durch ihre Erfahrungen für immer geprägt worden. Da bereits kurz nach der Einnahme von Kabul der damalige Außenminister Heiko Maas betonte, dass Deutschland auch in Zukunft seiner Verantwortung in internationalen Einsätzen gerecht werde, sind Lochtes Kernfragen von höchster Relevanz für politische Entscheidungsträger*innen, aber auch für die Bürger*innen Deutschlands: „Erstens: Haben militärisch mächtige Staaten mit demokratischer Verfassung im 21. Jahrhundert aussichtsreiche Chancen, mit dem Mittel des asymmetrischen Krieges ihre sicherheitspolitischen Zwecke und Ziele zu erreichen? Zweitens: Können militärisch mächtige Staaten mit demokratischer Verfassung effektive Strategien einsetzen, um die Wahrscheinlichkeit signifikant zu erhöhen, dass sie mit dem Mittel des asymmetrischen Krieges ihre sicherheitspolitischen Zwecke und Ziele erreichen?“ (12). Sehr zu begrüßen ist Lochtes Ansatz, die Frage nach den Auslandseinsätzen „vom Ende her“ (11) zu denken. „Hier wird nicht die Frage nach »was wollen wir«, sondern nach »was können wir« gestellt. Denn erfolgreiches »Wollen« setzt »Können« voraus“ (Ebd.).

Es geht also um nichts weniger als um die Frage, ob der Afghanistaneinsatz von Anfang an keine Chance auf ein erfolgreiches Ende hatte und ob das tatsächliche Ergebnis, der Sieg der Taliban, durch eine andere Strategie hätte vermieden werden können. Dies ist die eigentlich zentrale Frage, wenn es darum geht, aus dem Afghanistaneinsatz zu lernen – und vielleicht muss man auch daraus lernen, solche Einsätze in Zukunft zu unterlassen.

Zeit als entscheidende Variable

Doch der Reihe nach, Roland Lochtes vorliegende Arbeit ist ein schonungslos realistisches Werk, das politikwissenschaftliche Grundlagen mit zeitgeschichtlichen Beobachtungen und historischer Evidenz verbindet. Dabei bezieht er sich ebenso auf die Arbeiten Kants, von Clausewitz‘ wie auf die einschlägige Forschung von Ivan Arreguín-Toft, Andrew Mack und Gil Merom, die Zeit als entscheidende Variable in asymmetrischen Kriegen identifizieren. Während Arreguín-Toft empirisch nachweist, dass starke Staaten mit der richtigen Strategie 77 Prozent ihrer asymmetrischen Kriege gewinnen können (29), betont Lochte, dass die Realität demokratischer Staaten – mit ihrer Sensibilität für Verluste und die öffentliche Meinung – eine nachhaltige strategische Kohärenz verhindert. Arreguín-Tofts Analyse beziehe sich auch nur auf asymmetrische Konflikte alten Stils und nicht auf moderne (populäre) Aufstandsbewegungen, die sich moderne Massenkommunikation zunutze machen könnten. Für die Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges gelte: „Denn während vorher der Zugang zu Ressourcen für die nichtstaatlichen Akteure relativ eingeschränkt war, haben sie nun mit einer weltumspannenden und in einem solchen Ausmaß noch nie dagewesenen Schattenwirtschaft freien Zugang zu den globalen Märkten. Der Menschen-, Waffen-, Drogen- und Ressourcenhandel wird für sie zu einem lukrativen Geschäft. Wie im Dreißigjährigen Krieg ernährt der Krieg den Krieg und wird zur Lebensform“ (386). Kants These vom „Egoismus der Staatsbürger“ (380) bleibt laut Lochte gültig, wenn man die Zeit als entscheidende Verstärkungsvariable berücksichtigt.

Davon ausgehend entwickelt er auf über 400 Seiten eine ernüchternde Antwort, die zudem der politisch korrekten und geglätteten Empfehlung der Enquete-Kommission entgegensteht, internationalen Einsätzen auch weiterhin einen hohen Stellenwert beizumessen. Lochte zufolge sind asymmetrische Kriege, die Demokratien in der Ferne führen wollen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

Das Dilemma demokratischer Staaten bei Nation Building-Einsätzen

Zentral in seiner Argumentation ist der Faktor Zeit. „Je länger ein Krieg dauert und je mehr sich dadurch die Anzahl der gefallenen und verwundeten Soldaten und der um sie trauernden Angehörigen sowie die finanziellen Kosten akkumulieren, und je länger Erfolge ausbleiben, umso stärker werden die Staatsbürger gegen den Krieg opponieren“ (383). Dieses „Asymmetrie-Dilemma“ wird von Lochte als strukturelle Schwäche der Demokratien betrachtet und hier erkennt man eindeutig eine starke Gewichtung des Faktors der Kriegswilligkeit der Bürger*innen in demokratischen Staaten. Dem ist auch grundsätzlich zuzustimmen, auch wenn das Beispiel Afghanistan hier auch einen anderen Wirkmechanismus aufzeigt, nämlich den der sunken cost fallacy. Je mehr Geld und Blut für die Sache des demokratischen Nation Building-Projektes in Afghanistan ausgegeben wurde, desto schwerer war es für Politiker*innen zuzugeben, dass es gescheitert war. Rory Stewart verweist in seiner hervorragenden Dokumentation „The Great Game“ auf dieses Dilemma, das sowohl Gorbatschow als auch Obama in Afghanistan vereinte: Kein vernünftige*r Politiker*in könne sich vor die Öffentlichkeit stellen und sagen, dass alles umsonst gewesen sei. So war es auch in Deutschland, wie der Bericht der Enquete-Kommission darlegte: Über Jahre hinweg beschönigten die Regierenden die tatsächliche Lage in Afghanistan bis kurz vor dem Zusammenbruch. Vor Ort standen zu wenig Einsatzkräfte zur Verfügung, die Ausstattung war unzureichend und den Gegebenheiten nicht angemessen. Zudem war die ressortübergreifende Zusammenarbeit chaotisch – wenn überhaupt vorhanden. Vernetzte Sicherheit war deshalb ein guter Begriff, da ein Netz eben vor allem aus Luft besteht.

Es brauchte einen unvernünftigen Politiker wie Donald Trump, der das afghanische Projekt wie eine Geschäftsübernahme betrachtete: Es schrieb rote Zahlen und hatte keine Perspektive, aus diesen herauszukommen, also beendete er es durch das Doha-Abkommen mit den Taliban. Trotz aller technischen und finanziellen Überlegenheit, so Lochte, hätten die Fundamentalisten den Krieg nur in die Länge ziehen und abwarten müssen, bis die Unterstützung des Westens schwindet. Wäre dies nicht 2020 geschehen, wäre der Konflikt eben noch 10 oder 20 Jahre weitergegangen. Den Taliban war dies, wie jeder wusste, der ihre online zugänglichen Aussagen las oder mit ihren Vertretern vor Ort sprechen konnte (wie der Autor dieser Rezension), mehr als klar.

Zurück zu Lochtes Argumentation, der im Folgenden absolut zuzustimmen ist: Während der schwächere Akteur in einem asymmetrischen Konflikt – meist eine nichtstaatliche Partei – aus existenziellen Gründen (man sollte hier auch ideologische Gründe mit anführen, auf die Lochte nicht explizit eingeht) unendlich lange durchhalten kann, fehlt dem militärisch überlegenen demokratischen Staat dieser Antrieb. Die Zeit arbeitet gegen ihn. Lochte zitiert hier sehr passend Henry Kissinger: „The guerrilla wins if he does not lose. The conventional army loses if it does not win“ (383). Je demokratischer ein intervenierender Staat ist, desto größer ist Lochte zufolge der Einfluss der öffentlichen Meinung auf die Kriegsführung: „Die Regierungen können nicht einfach eine »ideale« Strategie wählen, die optimal zu den Erfordernissen auf dem Schlachtfeld passt“ (24). Die Diskrepanz zwischen militärischen Erfordernissen und gesellschaftlichen Bedingungen mache eine langfristig angelegte, konsequente Strategie nahezu unmöglich. Besonders drastisch zeigt sich dies in Afghanistan, wo die Unterstützung der Bevölkerung in den USA und Deutschland schon früh erodierte.

Ob es 2005, 2015 oder 2020 möglich gewesen wäre, die Bürger*innen der intervenierenden westlichen Staaten durch eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede im Stile Churchills auf einen Krieg einzuschwören, der erheblich mehr Mittel und Leben gekostet hätte, um erfolgreich zu sein, muss offenbleiben. Folgt man Lochtes Argumentation, müsste die logische Antwort – so man der Enquete-Kommission hinsichtlich der Bedeutung möglicher zukünftiger Einsätze zustimmen will – lauten: Wenn, dann aber auch richtig. Vielleicht wird sich dann zeigen, ob die Bürger*innen zu größeren Opfern auch in Afghanistan bereit gewesen wären. Fraglich ist aber, ob Politiker*innen in der Zukunft bereit sind, solche Einsätze vom Ende her zu denken und eine realistische Strategie und daraus abgeleitete Kosten – in Vermögen und dem Leben der eingesetzten Soldat*innen – zu entwerfen und diese dann auch noch ehrlich der Bevölkerung gegenüber zu kommunizieren und die schwere Aufgabe zu unternehmen, dennoch um Zustimmung für einen solchen Einsatz zu werben. Es ist eben erheblich leichter, in Wahlperioden und Kontingenten zu denken.

Schlechte bis keine Chancen für Demokratien in asymmetrischen Kriegen

Lochtes Arbeit ist Mahnung an die politische und militärische Elite, aber auch an die Bürger*innen. Seine Analyse legt nahe, dass Demokratien schlechte bis keine Chancen haben, asymmetrische Konflikte in fremden Ländern (die Option eines asymmetrischen Konfliktes im eigenen Land im Rahmen einer Aufstandsbewegung wurde nicht untersucht) zu gewinnen. Es bleibt zu hoffen das die vorliegende Arbeit vor der nächsten Entscheidung zu einem internationalen Einsatz in einem solchen Szenario den Weg in viele Büros der politischen Berater*innen der Entscheidungsträger*innen findet.

Können Demokratien asymmetrische Kriege überhaupt gewinnen – oder spielt die Zeit am Ende immer gegen sie? Roland Lochte untersucht, wie der Faktor Zeit zur entscheidenden Schwäche westlicher Demokratien in langwierigen Konflikten wie dem Afghanistan-Einsatz wird. Seine Analyse zeigt, dass öffentliche Meinung, politische Zyklen und schwindende Kriegsbereitschaft langfristige Strategien nahezu unmöglich machen. Unser Rezensent Michael Rohschürmann lobt das Buch als realistische und wichtige Mahnung, Auslandseinsätze künftig konsequent „vom Ende her“ zu denken.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ25.29
CC-BY-NC-SA