Stalinismus – Systemumbruch – Geschichtspolitik. Eine Auswahl an Kurzrezensionen
In Russland ist eine politisch zielgerichtete Deutung der eigenen respektive der sowjetischen Geschichte zu beobachten, wie sich in einigen der hier vorgestellten Bücher zeigt. Ohne Stalin zu rehabilitieren, werden Errungenschaften seiner Zeit wieder positiv hervorgehoben und dabei auch die Qualitäten einer starken Führungspersönlichkeit betont. Die stalinistischen Verbrechen werden tendenziell ausgeblendet.
In Russland ist eine selektive und dabei vor allem politisch zielgerichtete Deutung der eigenen respektive der sowjetischen Geschichte zu beobachten, wie sich in einigen der hier vorgestellten Bücher zeigt. Ohne Stalin zu rehabilitieren, schreibt beispielsweise Anna Becker, werden Errungenschaften seiner Zeit (Industrialisierung, Sieg über Hitler‑Deutschland und Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht) wieder positiv hervorgehoben und dabei – mit Blick auf die Gegenwart, also auf Präsident Vladimir Putin – auch die Qualitäten einer starken Führungspersönlichkeit betont. Die stalinistischen Verbrechen werden tendenziell ausgeblendet und deren Aufarbeitung gar gestört oder unterbunden, wie die Menschenrechtsorganisation Memorial bei ihrer Arbeit immer wieder erfahren muss – seit 2012 müssen sich deren Mitarbeiter*innen sogar als „ausländische Agenten“ registrieren lassen. Zugleich werden politische Morde nicht aufgeklärt, wie die russische Historikerin Irina Scherbakowa im Oktober 2016 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk kritisierte. Und werden doch die Mörder verurteilt, wie jüngst diejenigen des oppositionellen Politikers Boris Nemzow, bleiben die Hintergründe unklar.
Mit der hier zusammengestellten Literatur wird ein Bogen gespannt von den Anfängen der Sowjetunion über den Stalinismus bis hin zur Rezeption dieser Geschichte in der Gegenwart. Erste zeitgenössische Betrachtungen aus der Frühphase der Sowjetunion mögen die Zukunft noch offen erscheinen lassen, wie Arthur Koestlers „Von weißen Nächten und roten Tagen“. Die Analysen der Ära Stalin spiegeln dann die dunklen Seiten der kommunistischen Diktatur, die unter dessen Führung einen langen gewalttätigen Zenit erlebt. Während Simon Sebag Montefiore berichtet, wie es „Am Hof des roten Zaren“ zugeht, zeigt beispielsweise Jörg Baberowski in mehreren Studien die inneren Logiken und konkreten Formen von Stalins Herrschaft der Gewalt. Ihre Zuspitzung hat diese Gewalt mit dem Gulag erfahren, von Alexander Solschenizyn einst in Archipel Gulag eindrücklich beschrieben. Hier sei auf den bewegenden autobiografischen Bericht von Julius Margolin über seine „Reise in das Land der Lager“ hingewiesen, außerdem auf die hervorragende Studie „Der Gulag“ von Anne Applebaum sowie die Recherche über die „Die Insel der Kannibalen“ von Nicolas Werth. Dem Alltag in der stalinistischen Diktatur geht hingegen Orlando Figes in „Die Flüsterer“ nach.
Einen Überblick über diese Epoche bieten Autoren wie Archie Brown („Aufstieg und Fall des Kommunismus“), Orlando Figes („Hundert Jahre Revolution“) oder Alexander N. Jakowlew in „Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland“. Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos verabschiedet sich dann mit „Lebt wohl, Genossen!“ vom sowjetischen Imperium. In Russland aber ist es ein langsamer Abschied von der Vergangenheit, wie Elke Fein zeigt. Den – fast möchte man sagen: spontanen – Systemumbruch zeigen zum Beispiel Felix Jaitner in „Einführung des Kapitalismus in Russland“ und Jegor Gajdar in „Der Untergang eines Imperiums“. Während aber die Sowjetunion zerfällt, die Planwirtschaft abgeschafft wird und sich Russland eine neue Verfassung gibt, entwickelt die stalinistische Vergangenheit ein Nachleben und dient schließlich dem gegenwärtigen Präsidenten mehr und mehr als Legitimationsgrundlage bei der Verschiebung der politischen Koordinaten hin zu einem System mit autoritären Charakteristika.
Der Gulag. Aus dem Englischen von Frank Wolf
Berlin: Siedler Verlag 2003; 734 S.; Ln., 32,- €; ISBN 3-88680-642-1Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus
Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2003; 882 S.; geb., 59,90 €; ISBN 3-421-05622-6Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
München: C. H. Beck 2012; 606 S.; geb., 29,95 €; ISBN 978-3-406-63254-9Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus
Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2014; 223 S.; kart., 19,90 €; ISBN 978-3-593-50164-2Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin
Berlin-Brandenburg: be.bra wissenschaft verlag GmbH 2016 (Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert 2); 152 S.; pb., 19,95 €; ISBN 978-3-95410-036-1Aufstieg und Fall des Kommunismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Norbert Juraschitz, Hainer Kober und Thomas Pfeiffer
Berlin: Propyläen Verlag 2009; 938 S.; geb., 29,90 €; ISBN 978-3-549-07293-6Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
München: C. H. Beck 2011; 288 S.; 19,95 €; ISBN 978-3-406-61340-1Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hrsg. von Christian Beetz und Oliver Mille
München: C. H. Beck 2011 (Beck'sche Reihe 1996); 174 S.; brosch., 14,95 €; ISBN 978-3-406-62178-9Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit. Der KPdSU-Prozeß vor dem russischen Verfassungsgericht (1992) als geschichtspolitische Weichenstellung. Ein diskursanalytischer Beitrag zur politischen Soziologie der Transformation
Würzburg: Ergon 2007 (Spektrum Politikwissenschaft 38); XX, 695 S.; kart., 78,- €; ISBN 978-3-89913-561-9Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Berlin: Hanser 2014; 383 S.; 26,- €; ISBN 978-3-446-24775-8Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Berlin: Berlin Verlag 2008; 1.036 S.; 2. Aufl.; geb., 34,- €; ISBN 978-3-8270-0745-2Entscheidung in Rußland. Die Privatisierung der Macht und der Kampf um eine zivile Gesellschaft. Aus dem Russischen von Vera Ammer
München/Wien: Carl Hanser Verlag 1995; 203 S.; ISBN 3-446-18279-9Der Untergang eines Imperiums. Übersetzung: Vera Ammer
Wiesbaden: Springer Gabler 2016; 369 S.; hardc., 29,99 €; ISBN 978-3-658-10572-3Gebrochene Kontinuitäten. Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert
Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2014 (Visuelle Geschichtskultur 13); 352 S.; 59,90 €; ISBN 978-3-412-22256-7Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Band 1: Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung. Band 2: Transnationale Opferanwaltschaft. Das Auszahlungsprogramm und die internationalen Organisationen. Band 3: Nationale Selbstbilder, Opferdiskurse und Verwaltungshandeln. Das Auszahlungsprogramm in Ostmitteleuropa. Band 4: Helden, Opfer, Ostarbeiter: Das Auszahlungsprogramm in der ehemaligen Sowjetunion
Göttingen: Wallstein Verlag 2012; 1.143 S.; geb., 59,90 €; ISBN 978-3-8353-1085-820 Years after the Collapse of Communism. Expectations, achievements and disillusions of 1989
Bern u. a.: Peter Lang 2011 (Interdisciplinary Studies on Central and Eastern Europe 9); 679 S.; 54,50 €; ISBN 978-3-0343-0538-9Jossif Stalin oder: Revolution als Verbrechen
Berlin: Dietz Verlag 2011; 142 S.; 8,90 €; ISBN 978-3-320-02266-2Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates
München: C. H. Beck 1998; 1.206 S.; ISBN 3-406-43588-2Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Aus dem Russischen von Bernd Rullkötter
Berlin: Berlin Verlag 2004; 363 S.; geb., 24,90 €; ISBN 3-8270-0547-7Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin
Hamburg: VSA 2014; 174 S.; 16,80 €; ISBN 978-3-89965-622-0Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland
Göttingen: V&R unipress 2009 (Formen der Erinnerung 40); 290 S.; 39,90 €; ISBN 978-3-89971-691-7Der Kreml und die "Wende" 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Dokumente. Redaktion und Übersetzungen: Elena Fritzer, Silke Stern, Dieter Bacher, Harald Knoll, Reinhard Möstl, Irina Kazarina, Veronika Bacher, Angelika Kermautz, Vladimir Magidov, Julija Schellander, Stefanie Stückler, Arno Wonisch
Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2014 (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung 15); 708 S.; 39,90 €; ISBN 978-3-7065-5413-8Die Rekonstruktion der vorsowjetischen Geschichte. Identitätsdiskurse im neuen Russland
Hamburg: Lit 2006 (Osteuropa: Geschichte, Wirtschaft, Politik 38); 677 S.; brosch., 44,90 €; ISBN 978-3-8258-8201-3Von weißen Nächten und roten Tagen. Zwölf Reportagen aus der Sowjetunion
Wien: Promedia 2013 (Edition Reportagen); 175 S.; brosch., 17,90 €; ISBN 978-3-85371-356-3Anatomie der russischen Elite. Die Militarisierung Russlands unter Putin. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004; 281 S.; geb., 19,90 €; ISBN 3-462-03415-4Gulag. Texte und Dokumente 1929-1956. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und der Gesellschaft "Memorial" Moskau
Göttingen: Wallstein Verlag 2014 (Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956); 218 S.; brosch., 14,90 €; ISBN 978-3-8353-1437-5Anmerkungen zu Stalin
Berlin: Rowohlt 2009; 189 S.; 16,90 €; ISBN 978-3-87134-635-4Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion
Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2014; 501 S.; 39,90 €; ISBN 978-3-412-22230-7Der russische "Sonderweg"? Aufsätze zur neuesten Geschichte Russlands im europäischen Kontext
Stuttgart: ibidem-Verlag 2005 (Soviet and Post-Soviet Politics and Society 16); 433 S.; pb., 34,90 €; ISBN 978-3-89821-496-4Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2016. Hrsg. im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Berlin: Metropol 2016; IX, 278 S.; 29,- €; ISBN 978-3-86331-280-0Reise in das Land der Lager. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013; 638 S.; geb., 39,- €; ISBN 978-3-518-42406-3Stalin und der Genozid. Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010; 157 S.; 16,90 €; ISBN 978-3-518-42201-4Quellen zur Geschichte Russlands
Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2014 (Reclams Universal-Bibliothek 19269); 566 S.; 14,80 €; ISBN 978-3-15-019269-6Betrogenes Rußland. Jelzins gescheiterte Demokratie
München: C. Bertelsmann 1996; 352 S.; ISBN 3-570-12260-3Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland
Göttingen: Wallstein Verlag 2010 (Vorträge und Kolloquien 7); 152 S.; brosch., 15,- €; ISBN 978-3-8353-0601-1Stalin. Am Hof des roten Zaren. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl
Frankfurt a. M.: S. Fischer 2005; 874 S.; geb., 24,90 €; ISBN 3-10-050607-3Der kollektive Gott. Zur Ideengeschichte des "Neuen Menschen" in Russland
Göttingen: Wallstein Verlag 2013; 399 S.; geb., 39,90 €; ISBN 978-3-8353-1238-8Ein Europa? Die europäische Integration in der russischen Historiographie nach 1985
Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2013; 263 S.; geb., 39,90 €; ISBN 978-3-412-21058-8Der Große Hunger. Hungersnöte unter Stalin und Mao
Berlin: Rotbuch Verlag 2012; 256 S.; geb., 19,95 €; ISBN 978-3-86789-169-1Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann und Norbert Juraschitz
Berlin: Siedler Verlag 2006; 222 S.; Ln., 19,95 €; ISBN 978-3-88680-853-3