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Rezension / 14.01.2022

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist

München, Siedler Verlag 2021

In „Die Verlockung des Autoritären“ zeichne Anne Applebaum im journalistischen Stil nach, wie sich Angehörige konservativer Bildungseliten früherer Mitte-rechts-Parteien ins Autoritäre gewandelt haben, so Rezensentin Tamara Ehs. Da die Autorin persönlichen Zugang zu diesen Kreisen habe, erlebten die Leser*innen über private Erzählungen die Polarisierung und Radikalisierung der konservativen Eliten mit und erhielten Einblick in deren persönliche Verbindungen. Entstanden sei ein persönliches Zeitdokument, aber kein politikwissenschaftliches Buch, so Ehs.

Um der „Verlockung des Autoritären“ auf die Spur zu kommen, fügte Anne Applebaum ihre Kolumnen für die Washington Post aus zwei Jahrzehnten mit ihren alten Tagebüchern zusammen. Die Leser*innen erleben über höchst private Erzählungen (wie in die Brüche gegangene Freundschaften) die Polarisierung und Radikalisierung der konservativen Elite mit, der die Autorin selbst angehört. Die gebürtige US-Amerikanerin lebt seit 1988 in Polen, schreibt für amerikanische und britische Zeitungen und Zeitschriften und hat nicht nur als angesehene Journalistin, sondern auch als Ehefrau des ehemaligen polnischen Außenministers Radek Sikorski Zugang zum inneren Kreis konservativer Parteien in Europa und den USA. Sie zeichnet den „radikalen Gesinnungswandel“ nach, der einstige Mitte-rechts-Parteien „unverhohlen autoritär“ (12) werden ließ, und beschreibt, wie sich dies auf ihren Freundeskreis und ihre Arbeitskolleg*innen auswirkte. Applebaum behält ihren journalistischen Stil bei und zitiert für ihre Analysen kaum Wissenschaftler*innen, sodass „Die Verlockung des Autoritären“ kein politikwissenschaftliches Buch, sondern vielmehr ein persönliches Zeitdokument ist. Es ist vor allem dann eine interessante Lektüre, wenn die Autorin auf die Angehörigen der konservativen Bildungselite – also ihre (ehemaligen) Freund*innen – als „geistige Wegbereiter des Autoritarismus“ (25) fokussiert. Sie zieht den 1927 veröffentlichten Essay „Der Verrat der Intellektuellen“ des französischen Philosophen Julien Benda heran, um über die Rolle der Intellektuellen und ihre Beziehung zu gesellschaftlichen Machtpositionen nachzudenken. Wie bereits am Vorabend des Faschismus der 1930er-Jahre seien es auch heute wieder Denker*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, die autoritäre Politiker*innen unterstützen.

Im Unterschied zur alten arbeite die neue Rechte aber mit den Mitteln einer „weichen Diktatur“ (32), mit „modernen Marketingtechniken, Zielgruppenanalysen und Social-Media-Kampagnen“ (44). Applebaum beschreibt jene Intellektuellen und Angehörigen der autoritären Eliten in Polen, Ungarn, dem Vereinigten Königreich, Spanien und den USA. Ihre Gemeinsamkeiten erkennt sie neben „dem Revival der Nostalgie, der Enttäuschung über die Leistungsgesellschaft und der Attraktivität von Verschwörungstheorien […] auch in der auf Streit und Rechthaben ausgelegten Natur des heutigen politischen Diskurses“ (113). Die moralische, nationalistische Aufladung des Gesprächs, die keinen Raum für Grautöne lässt, verunmöglicht es Applebaum, mit einst guten Freund*innen in Kontakt zu bleiben. Jedem einzelnen Kapitel merkt man die Verwunderung der Autorin an, wie es nur sein könne, dass ihre gebildeten Freund*innen diesen unversöhnlichen Weg einschlugen: „Haben einige unserer Freunde im stillen Kämmerchen schon immer eine autoritäre Gesinnung gepflegt?“ (21), fragt sie zu Beginn und findet doch ein Buch lang keine Antwort. Dass es ja gerade nicht (nur) die mittellosen „Abgehängten“ und „Globalisierungsverlierer“ sind, die nun eine autoritäre Geisteshaltung pflegen, bringt Applebaum sichtlich aus der Fassung.

Als Leser*in muss man sich im Laufe der Lektüre unweigerlich fragen, warum die Autorin nicht mehr Sozialwissenschaftler*innen konsultiert, sondern sich Kapitel für Kapitel wieder in privaten Anekdoten verliert, die als allgemein gültige politische Analyse verkauft werden. Da keine hinreichende politikwissenschaftliche Einordnung stattfindet, ist manche Schlussfolgerung fast schon peinlich platt, wie zum Beispiel der Erklärungsversuch einer möglichen „autoritären Veranlagung“, nämlich die „Schlichtheit“ (110) der Menschen: „Viele Menschen fühlen sich zu autoritärem Denken hingezogen, weil sie keine Lust haben sich auf Komplexität einzulassen. Sie mögen keine Diskussionen, sie wünschen sich Einigkeit“ (110). Geht es im Buch doch eigentlich um die Angehörigen der konservativen Bildungselite als geistige Wegbereiter*innen des Autoritarismus, die noch vor wenigen Jahren Applebaums engste Freund*innen waren, wird ihnen nun bloße „Schlichtheit“ attestiert. Und wenn ehemalige Freund*innen Applebaums Interviewanfragen abschlagen oder unbeantwortet lassen, zieht die Autorin Hörensagen als Quelle heran, um eine Geschichte voranzutreiben, die zwischen Elegie auf einstige Freundschaften und Abrechnung mit Menschen, deren Schlichtheit enttäuschte, oszilliert. Nach der Lektüre weiß man als Leser*in über die persönlichen Beziehungen einer transatlantischen konservativen Elite Bescheid, hat Kenntnis darüber, wer wessen Taufpatin ist und wer mit wem Austern schlürft, und freut sich mit der Autorin über neue Freundschaften, darunter „einige, die ich vor zwanzig Jahren nicht einmal im Traum eingeladen hätte, weil sie zu denen gehörten, die man damals als ‚Linke‘ bezeichnete“ (180).

Die aus politikwissenschaftlicher Sicht wichtigsten Passagen des Buches finden sich im Kapitel „Lügenkaskaden“ und erörtern die Kommunikationsrevolution als Herausforderung für die Demokratie. Applebaum erinnert daran, wie die BBC und ihr folgend andere staatliche Rundfunkanstalten gegründet worden waren, um „die Bevölkerung in einem einzigen nationalen Gespräch zusammenzubringen und auf diese Weise die demokratische Diskussion zu ermöglichen“ (115). Heute fehle diese gemeinsam geteilte Öffentlichkeit und wir lebten in einer „Informationssphäre ohne politische, kulturelle oder moralische Autorität“ (116), so die Autorin. Ihre Analyse ist vor allem dann gründlich und erhellend, wenn sie als Journalistin über die Veränderungen ihres Tätigkeitsfeldes und deren Folgen für die Demokratie schreibt, etwa über das „auf Werbefinanzierung basierende Geschäftsmodell“ (116) und die „Fragmentierung der Öffentlichkeit bis zur Erosion einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage“ (119). Bei der Lektüre jener Seiten kommt eine Ahnung auf, wie höchst interessant ein Buch Applebaums sein könnte, das jene Umwälzung und Radikalisierung der konservativen Medien in den Fokus nähme. Die Autorin hatte und hat Einblick in derart viele Redaktionen konservativer Zeitungen und Zeitschriften, dass eine umfassende wissenschaftliche Analyse jenes Segments der von ihr in anekdotischen Ansätzen beschriebenen konservativen Intellektuellen ein Meilenstein im Verständnis des radikalisierten Konservatismus sein könnte. Als populärwissenschaftliches Buch ist die „Die Verlockung des Autoritären“ nicht ohne Wert, weil man ein wenig Einblick in die persönlichen Verbindungen der autoritären Eliten erhält. Als politikwissenschaftliches Buch, als das es für das Portal für Politikwissenschaft zu rezensieren war, birgt es allerdings kaum neue Einsichten.

 

CC-BY-NC-SA
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