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Analyse / 19.02.2025

Eine progressive Koalition der Dienstleistungsklasse? Die politischen Unterschiede zwischen der neuen Arbeiterklasse und den soziokulturellen Fachkräften

Was verbindet streikende Amazon-Arbeiter*innen politisch mit Werbefachleute und Journalist*innen? Joe Piette via Wikimedia Commons

Progressive Parteien stehen vor der Herausforderung, Beschäftige aus dem Dienstleistungs- und Produktionssektor sowie soziokulturelle Fachkräfte gleichermaßen zu mobilisieren, obwohl die drei Gruppen im politischen Spektrum unterschiedliche Positionen vertreten. Häufig wird argumentiert, dass eine stärkere Fokussierung auf Dienstleistungsarbeiter*innen als die „neue“ Arbeiter*innenklasse diese Herausforderung überwinden könnte. Macarena Ares zeigt jedoch, dass der Aufbau einer klassenübergreifenden Koalition auf Schwierigkeiten stößt, weil auch Dienstleistungsarbeiter*innen und soziokulturelle Fachkräfte in kulturellen Fragen gespalten sind.

Politische Präferenzen und Wahlverhalten werden in hohem Maße von der sozialen Klasse beeinflusst, d.h. von der Position, die eine Person in der Beschäftigungsstruktur einnimmt. Zwei wesentliche Veränderungen unterscheiden den Klassenkonflikt in den heutigen postindustriellen Gesellschaften von den industriellen Volkswirtschaften: Erstens der starke Rückgang der Arbeiter*innenklasse, der sich aus der geringeren Zahl von Beschäftigten im produzierenden Gewerbe sowie dem Wachstum des Dienstleistungssektors und der allgemeinen Ausweitung der Hochschulbildung erklärt, und zweitens die Tatsache, dass sich linke Parteien zunehmend auf die Wähler*innen aus der Mittelschicht stützen, um den Rückgang ihrer Kernwählerschaft aus der Arbeiter*innenklasse abzumildern.

Allerdings kommt die gemeinsame Mobilisierung dieser unterschiedlichen Klassen für die politische Linke nicht ohne Herausforderungen: Soziokulturelle Fachkräfte vertreten eher liberale Positionen in kulturellen Fragen, während Produktionsarbeiter*innen tendenziell eher autoritärere und nationalistischere Positionen einnehmen.[1] Dies kann für die Linke problematisch werden, wenn letztere Themen stark politisiert werden. Selbst wenn einige linke Teile der Arbeiter*innenklasse fortschrittliche kulturelle Einstellungen aufweisen, stellt die fehlende Überschneidung der wirtschaftlichen und kulturellen Präferenzen zwischen soziokulturellen Fachkräften, Dienstleistungsarbeiter*innen und Produktionsarbeiter*innen eine Herausforderung für progressive Parteien dar.

Der Mythos: eine natürliche, klassenübergreifende Koalition im Dienstleistungssektor?

In der Literatur wird teilweise argumentiert, dass es größere Gemeinsamkeiten zwischen der „neuen“ Arbeiterklasse, d.h. den gering qualifizierten Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor und den soziokulturellen Fachkräften gibt und dass diese Gemeinsamkeiten progressiven Parteien helfen könnten, die oben genannten Schwierigkeiten zu überwinden. Zwei Dinge zeichnen sowohl die gering qualifizierten Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor als auch die soziokulturellen Fachkräfte aus, nämlich ihre demografische Zusammensetzung und die Art ihrer Arbeit. Abbildung 1 zeigt, dass soziokulturelle Fachkräfte hinsichtlich ihres Geschlechts (häufiger weiblich) und ihrer Beschäftigungsverhältnisse (häufiger befristet und häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen) stärkere Gemeinsamkeiten mit Beschäftigten im Dienstleistungssektor aufweisen als mit anderen Mittelschichtberufen wie etwa Führungskräften.

Abbildung 1: Soziodemografisches Profil ausgewählter Klassen

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Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto - Hinweis: Deskriptive Statistiken auf der Grundlage von Daten der Europäischen Sozialerhebung, die zwischen 2020 und 2022 in 15 westeuropäischen Ländern erhoben wurden.

Soziodemografische Ähnlichkeit und politische Unterschiede: politische Präferenzen der Arbeiter*innen- und Mittelschicht

Die wichtigste Erkenntnis aus dem Vergleich der politischen Präferenzen zwischen den sozialen Klassen ist die folgende: Obwohl die Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor in kulturellen Fragen etwas liberaler als die Arbeiter*innen in der Produktion sind, sind sie weniger liberal als die soziokulturellen Fachleute. Dementsprechend gibt es in kulturellen Fragen deutliche Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Positionierung der beiden Arbeiter*innenklasse und den soziokulturellen Fachleuten. Wie Abbildung 2 zeigt, sind sich die drei Klassen lediglich bei der ökonomischen Frage der Präferenz für mehr Umverteilung relativ ähnlich und stehen in starkem Gegensatz zu den marktliberalen Präferenzen der Managerklasse (einer traditionellen Wählerschaft der Rechten). Bei kulturellen Fragen wie der Einstellung zur Immigration, Homosexualität und der EU sind die Präferenzen der Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor nah an denen der Arbeiter*innen in der Produktion und stehen in deutlichem Gegensatz zu den soziokulturellen Fachkräften, die deutlich liberalere Positionen einnehmen (die 0-Linie zeigt die durchschnittliche Präferenz der Stichprobe bei jedem dieser Themen an). Dies zeigt, dass die Herausforderung für linke Parteien, die Arbeiterklasse und die neue Mittelschicht gemeinsam zu mobilisieren, unabhängig von der Frage bestehen bleibt, ob es sich bei den Wähler*innen um Produktions- oder Dienstleistungsarbeiter*innen handelt.

Die Unterschiede in den Präferenzen zwischen soziokulturellen Fachkräften und Dienstleistungsarbeiter*innen werden besonders deutlich, wenn die entsprechenden Themen von den Parteien stark politisiert werden. Das heißt, wenn politische Parteien unterschiedliche Positionen zu kulturellen Fragen einnehmen und diese Themen in ihren Programmen eine größere Rolle spielen, werden die diesbezüglichen Unterschiede in den Präferenzen zwischen den sozialen Schichten noch verstärkt.

Abbildung 2: Durchschnittliche prognostizierte Präferenzen nach sozialer Schicht für vier Themen

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Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto - Datenquelle: Europäische Sozialerhebung (ESS) Runde 10 (2020-2022), beschränkt auf 15 westeuropäische Länder. Die Ergebnisvariablen sind standardisiert, die x-Achse gibt den Abstand in Standardabweichungen vom Mittelwert an, der durch den Wert 0 dargestellt wird. - Anmerkung: Die Schätzungen basieren auf einer OLS-Regression, bei der für Geschlecht, Alter, Gewerkschaftsmitgliedschaft, Vertragsart (unbefristet vs. befristet) und länderspezifische Effekte kontrolliert wird.

Von den Präferenzen zum Verhalten: Für welche Parteien stimmen die Beschäftigten im Dienstleistungssektor?

Wie Abbildung 3 zeigt, haben alle drei Klassen, auf die wir uns konzentrieren, eine höhere Neigung, linke Parteien zu wählen. Dies umfasst sowohl radikal-linke Parteien (vor allem soziokulturelle Fachkräfte) als auch sozialdemokratische Parteien (vor allem Produktionsarbeiter*innen). Die kulturelle Spaltung der Präferenzen zwischen der „neuen“ Mittelschicht und den Arbeiter*innen zeigt sich dagegen in ihrer unterschiedlichen Unterstützung für die Grünen und die radikale Rechte. Während die soziokulturellen Fachkräfte mit höherer Wahrscheinlichkeit die Grünen wählen, ist dies bei den Arbeiter*innen nicht der Fall, die stattdessen eher für die radikale Rechte stimmen. Soziokulturelle Fachkräfte und Arbeiter*innen unterscheiden sich auch deutlich in ihrer Wahlbeteiligung: Arbeiter*innen haben eine um mehr als 15 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, bei der letzten nationalen Wahl nicht teilgenommen zu haben.

Zwei Ergebnisse stechen aus diesen Analysen hervor. Erstens bilden alle drei Klassen eine relevante linke Wählerschaft, wenn auch mit unterschiedlichen Profilen innerhalb dieses Blocks. Soziokulturelle Fachkräfte neigen eher dazu, neue linke Partien wie die Grünen zu unterstützen, während Produktionsarbeiter*innen eher den traditionellen linken Parteien zugeneigt sind. Zweitens unterscheiden sich diese drei Gruppen vor allem in ihrem Grad der politischen Beteiligung. Die geringere Wahlbeteiligung unter den Arbeiter*innen deutet darauf hin, dass es noch Luft nach oben gibt, um diese Menschen zu mobilisieren, was für die Herstellbarkeit einer klassenübergreifenden linken Koalition spricht.

Abbildung 3: Unterschiede im Wahlverhalten nach Klasse der Befragten (in Bezug auf die Führungsklasse)

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Abbildung: Alix d'Agostino, DeFacto - Anmerkung: Durchschnittliche marginale Auswirkungen der sozialen Schicht der Befragten auf die Unterstützung der verschiedenen Parteienfamilien. Jeder Koeffizient zeigt die Unterschiede in der Unterstützung für jede spezifische Klasse im Vergleich zur Führungsklasse an. Die Analysen basieren auf ESS-Daten für 2002-2010. Abbildung angepasst an Abbildung 4.2. in Ares & van Ditmars (in Vorbereitung).

Fazit: Eine lose Koalition zwischen Arbeitnehmern und soziokulturellen Fachleuten?

Die hier dargestellten Ergebnisse geben Aufschluss über das Potenzial von Parteien, soziokulturelle Fachkräfte, Dienstleistungsarbeiter*innen und Produktionsarbeiter*innen gleichermaßen anzusprechen. Auch wenn eine klassenübergreifende Koalition – entgegen mancher Vermutungen - nicht einfach so gegeben ist, haben progressive Parteien doch die Möglichkeiten, Brücken in diese Richtung zu bauen, insbesondere mit Blick auf die ähnlichen soziodemographischen Profile von soziokulturellen Fachkräften und Dienstleistungsarbeiter*innen. Diese Ähnlichkeiten bezüglich des Geschlechtes, des Alters und des atypischen Beschäftigungsverhältnisses, könnten einen Ausgangspunkt für die Entwicklung und Mobilisierung einer neuen progressiven politischen Identität bilden. Darüber hinaus scheinen die Arbeiter*innen im Dienstleistungssektor in einigen der untersuchten Fragen etwas liberaler zu sein als die Arbeiter*innen in der Produktion.

Die Ergebnisse zeigen auch, dass sich eine Koalition in diesen drei Klassen am ehesten um eine starke Umverteilungsagenda herum artikulieren lässt. Denn die Arbeiter*innen in Produktions- und Dienstleistungssektor sowie die soziokulturellen Fachkräfte teilen die Präferenz nach ökonomischer Umverteilung und einem starken Wohlfahrtsstaat. Dies erklärt auch, warum ein Rechtsruck in Wirtschaftsfragen die Attraktivität linker Parteien bei Teilen ihrer Kernwählerschaft verringert.

Schließlich ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass alle Arbeiter*innen eine geringere Wahlbeteiligung aufweisen, was auf ein derzeit ungenutztes Wähler*innenpotenzial hinweist. Ihre Mobilisierung könnte die Ergebnisse des progressiven Blocks nicht nur kurzfristig verbessern, sondern könnte auch eine dauerhafte linke Bindung für diejenigen schaffen, die im Kontext ihrer Familien in der Dienstleistungsklasse sozialisiert wurden, wie Studien zur intergenerationalen Weitergabe politischer Einstellungen gezeigt haben.


Anmerkungen:

[1] Oesch, Daniel, & Rennwald, Line (2018): Electoral competition in Europe’s new tripolar political space: Class voting for the left, centre-right and radical right, in: European Journal of Political Research, 57(0), 783–807. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12259.

Dieser Beitrag basiert auf:

  • Ares, Macarena (2022): Issue politicization and social class: How the electoral supply activates class divides in political preferences, in: European Journal of Political Research, 61(2), 503–523. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12469.
  • Ares, Macarena, & van Ditmars, M. M. (2022): Intergenerational Social Mobility, Political Socialization and Support for the Left under Post-industrial Realignment, in: British Journal of Political Science, 1–19. https://doi.org/10.1017/S0007123422000230.
  • Ares, Macarena, & van Ditmars, M. M. (wird in Kürze veröffentlicht). Who continues to vote for the left? Social class of origin, intergenerational mobility and party choice in Western Europe, in: S. Häusermann & H. Kitschelt, Beyond Social Democracy: Transformation of the Left in Emerging Knowledge Societies, online unter https://osf.io/preprints/osf/76hn8.
  • Ares, Macarena (2017): A new working class? A cross-national and a longitudinal approach to class voting in post-industrial societies [European University Institute]. http://hdl.handle.net/1814/49184.
  • Ares, Macarena (2020): Changing classes, changing preferences: How social class mobility affects economic preferences, in: West European Politics, 43(6), 1211–1237. https://doi.org/10.1080/01402382.2019.1644575.
  • Oesch, Daniel, & Rennwald, Line (2018): Electoral competition in Europe’s new tripolar political space: Class voting for the left, centre-right and radical right, in: European Journal of Political Research, 57(0), 783–807. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12259.

Dieser Beitrag ist Teil einer Serie von Policy Briefs des Progressive Politics Research Networks

In Kooperation mit DeFacto



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