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Rezension / 27.07.2022

Tanjev Schultz: Medien und Journalismus. Einfluss und Macht der Vierten Gewalt

Stuttgart, Kohlhammer 2021

Tanjev Schultz eruiert den Verdienst unzensierter Medien innerhalb der deutschen Demokratie und beschreibt damit verbundene Anforderungen an Journalist*innen. Hierzu nutzt er Beispiele, um auf Fallen medialer Macht sowie deren ethische Anforderungen hinzuweisen. Aufgrund aktueller Entwicklungstendenzen medialer Arbeit brauche es weiter freie Medien, welche Berichte und Meinungen für die Öffentlichkeit bereitstellten. Er mahnt daher, die wirtschaftliche Zähmung der „Vierten Gewalt“ zu vermeiden. Ein Buch für Student*innen, aber auch für Neugierige, findet Günter Lipfert. 

Schon die Überschrift macht den klaren Fokus von Tanjev Schulz‘ Buch „Medien und Journalismus“ auf Einfluss und Macht der Vierten Gewalt deutlich. Folgende Fragen beschäftigen den Autor darin: Was zeichnet unser Mediensystem aus? Wie arbeiten Redaktionen? Welchen Regeln folgen sie oder müssten sie folgen? Mit der Beantwortung dieser Fragen will Schultz das Wissen und die Reflexion über den Journalismus fördern und dahingehend seine Rolle und die der Medien in der Demokratie erläutern. Dazu hat der Autor gemäß seiner Angabe nur bestimmte Aspekte ausgewählt, die aus seiner Sicht für das Verständnis der „Vierten Gewalt“ besonders hilfreich sind.

In Kapitel eins begründet er, warum Medien manchmal im Verborgenen agieren müssen und dennoch auf Öffentlichkeit angewiesen sind. Schultz gelangt zu einem, auch normativ gemeinten, Verständnis von Journalismus, welches dessen kritisch-öffentliche Funktion innerhalb der Demokratie als Lebensform zum Zentrum hat. Einem Massenpublikum würden Informationen und Meinungen zur Verfügung gestellt. Diese ermöglichen Schultz zufolge mithilfe periodischer Medien eine öffentliche Kommunikation über gesellschaftlich relevante Fragen. Journalismus agiere somit unabhängig, jedoch nicht politisch neutral oder gar enthaltsam, und diene der Demokratie.

In Kapitel zwei wird an geschichtlich bedeutsamen Ereignissen die Bedeutung unzensierter Medien für die Bundesrepublik erläutert – und die damit verbundenen Herausforderungen, vor die Journalisten gestellt sind. Auch wenn das Grundgesetz garantiert, dass eine Zensur nicht stattzufinden hat, stellt Schultz in der Realität sehr wohl Einschränkungen fest. Politische Entscheidungs- oder Würdenträger*innen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens trachteten zuweilen nach Einfluss auf die Berichterstattung. Auch die Privatsphäre oder Gesetze zum Schutz der Jugend können den Bemühungen Medienschaffender einen Riegel vorschieben – abzuwägen sei hierbei das öffentliche Interesse. Einfluss auf das, was Journalist*innen zum Gegenstand ihrer Berichterstattung machen, übten trotz freien Zugangs zum Beruf deren sozialer Hintergrund, ökonomische Sachzwänge, die redaktionelle Linie eines Mediums, der Zugang zu Material, welches aus ökonomisch-organisatorischen Gründen oft von übergreifenden Nachrichtenagenturen wie der DPA beschafft werden muss, oder die Regulierungen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus. Besonders herausfordernd wirke die Digitalisierung, welche zwar zuvor ungeahnte Möglichkeiten schafft, die eigene Meinung zu verbreiten, damit aber den Wettstreit um Aufmerksamkeit verschärfe.

In Kapitel drei beschreibt der Autor grundlegende Charakteristika der täglichen Arbeit in Redaktionen, wie die Aufteilung in Ressorts und die Anforderungen diverser Darstellungsformen, sowie alltägliche Zwänge, etwa der hohe Tempodruck des Tagesgeschäfts, denen man nur allzu oft zu begegnen habe. Trotzdem sind, so Schultz Sorgfalt und Fairness zentrale, von vielen Journalisten als verbindlich empfundene, Arbeitsregeln, die ebenfalls in diesem Kapitel näher erläutert werden.

In Kapitel vier reflektiert Schultz populäre Kritikpunkte bezüglich der Arbeit der Medienschaffenden, in der erkennbaren Absicht, der in den vergangenen Jahren beobachteten Zunahme von, als hart und pauschal empfundenen, Urteilen gegenüber Medien und deren Vertreter*innen entgegenzuwirken. Die Medien seien nicht frei von, sowohl unabsichtlichen als auch strukturell oder ideologisch bedingten, Fehlern. Auch sei die Medienrealität geprägt von der Medienlogik, der Arbeitsweise, den Regeln und Produktionsbedingungen des Journalismus und der Redaktionen. Dies erläutert er am Fall der erfundenen Geschichten aus Syrien und dem Irak des Spiegel-Journalisten Claas Relotius – ein Skandal, der Schultz nicht überrasche. Diese Fälle des medialen Versagens hätten viele Ursachen: Termindruck, Ko-Orientierung, Eigeninteressen der Informanten, die Tendenz zur Vermischung von Information und Meinung, die Tendenz zur Ausblendung aufgrund von Framing, die starke Orientierung an Nachrichtenwerten und zuweilen fehlende Selbstreflexion. Dem könnten die Wertgebundenheit journalistischen Arbeitens oder eine plurale Medienlandschaft entgegenwirken. Die Möglichkeit und das Erstrebenswert-Sein einer strikt neutralen und absolut ausgewogenen Berichterstattung verneint Schultz.
In Kapitel fünf kommt der Autor anhand von Beispielen, wie dem Verhalten vonseiten mancher Reporter während der Geiselnahme von Gladbeck im Jahre 1988, auf Missbrauchsmöglichkeiten medialer Macht und auf die sich daraus aus seiner Sicht ergebenden ethischen Anforderungen zu sprechen. Nicht immer verhielten sich Medienschaffende und ihre Organe verantwortungsbewusst im Sinne des Opferschutzes oder des Schutzes der Privatsphäre. Vorwürfe von Fehlverhalten könnten, wie im Falle des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, unverhältnismäßig skandalisiert werden – und somit Karrieren beenden. Der Pressecodex, eine sich aus dieser Problematik ergebende Konsequenz, welcher entsprechend entgegenwirken soll, stelle kein Gesetz dar und die Urteile des Presserats seien keine Gerichtsentscheidungen. Aber am Fall Solingen, explizit der Zitation und vollen Kenntlichmachung eines zwölfjährigen Überlebenden eines Mordversuchs, vermag Schultz das moralische Gewicht von beidem aufzuzeigen. Ähnlich gewichtig könnten Redaktions-Leitfäden sein.

In Kapitel sechs verbindet der Autor die ungebrochene Bedeutung der Arbeit der Medien mit optionalen Entwicklungstendenzen. Es brauche auch in Zukunft glaubwürdige und unabhängige Medien, die Informationen und Meinungen für die öffentliche Kommunikation bereitstellen. Für die hierzu notwendigen tiefgründigen Recherchen müsse die Bevölkerung bereit sein zu zahlen, denn so könne die wirtschaftliche Zähmung der „Vierten Gewalt“ vermieden werden. Entsprechend einer Strömung innerhalb der Medienbranche, die einen konstruktiven oder lösungsorientierten Journalismus anstrebt, sollten sich die Medien von ihrem Fokus auf negative Ereignisse lösen. Das Kapitel sechs wird in zehn Thesen zusammengeführt. Guter Journalismus kläre auf über die Wirklichkeit. Das Nutzerinteresse ersetze keine journalistischen Kriterien. Journalismus sei kein bloßes Produkt, sondern ein Wert an sich. Journalismus leiste einen Dienst, sei aber keine Dienstleistung. Der Journalismus gebe sich selbst auf, wenn Nutzer*innen zu König*innen gemacht würden. Emotionalisierung, Personalisierung und Zuspitzung seien drei Irrwege im Digitalen. Likes und Klickzahlen seien die neuen Fetische, aber keine hinreichenden Kriterien für qualitativen Journalismus. Auf Social Media werde schlechter Journalismus nicht besser, da hier schnelle Soft News, banale Aufreger oder billige Promi-Storys belohnen würden. Recherchen erforderten Luft für tiefgründige Recherchen, statt kurzatmigen Abbildens der Aktualität. Außerdem brauche es mehr Mut zur Zumutung im Sinne von größerer Vielfalt der Blickwinkel innerhalb der Berichterstattung.

Am Ende eines jeden Kapitels werden zunächst Schlüsselbegriffe des vorangegangenen Kapitels gelistet, gefolgt von Fragen zum Weiterdenken und Literaturtipps, die zum Weiterlesen anregen sollen, sowie der Zitation von im Kapitel verwendeter Literatur.

Diese Publikation ist deshalb eindeutig als ein Lehrbuch zu charakterisieren, das sich insbesondere an Studienanfänger*innen und Neugierige richtet. In der oben skizzierten Grundstruktur manifestiert sich die didaktische Funktion als Arbeitsbuch. Die Sachdarstellung bedient sich einfacher, auf Anschaulichkeit bedachter, Sprache und ist schwerpunktmäßig fallorientiert ausgerichtet. Beispielsweise wird zur Erläuterung der kritisch-öffentlichen Funktion im ersten Kapitel, neben anderen Fällen, auch das Exempel von Julian Assange herangezogen. Wie in obiger Inhaltsdarstellung deutlich wurde, werden grundlegende Fragen, und keine Spezialprobleme, behandelt. Hierauf zielt auch die Auflistung und Definition grundlegendster Begriffe wie Journalismus oder Gatekeeping deutlich zu erkennen ist.

Manches in diesem Buch mag auch informierten Leser*innen neu erscheinen. Es bietet jedenfalls, so kann resümiert werden, einen ersten, aktualitätsbezogenen Einstieg in die darin behandelte Thematik. Wer sie vertiefen will, kann auf die im Band angegebene Literatur zurückgreifen. Darüber hinaus, liefert Matthias Zehnders Buch „Die Aufmerksamkeitsfalle“ interessante Hinweise zum Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeitslogik der Medien und einer Politik, die sich zunehmend auf symbolische Leistungen verengt und dadurch anfällig wird für populistische Strömungen.

Schultz ist als Journalist und Lehrender im Bereich Journalistik selbst sowohl in der Rolle eines Angehörigen des Mediensystems als auch in der eines Analysten zu verorten. Er arbeitete viele Jahre als Politik-Redakteur für die Süddeutsche Zeitung und lehrt als Professor für Journalismus am Journalistischen Seminar am Institut für Publizistik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz .

Wer seine differenzerten Überlegungen zum Journalismus innerhalb des Buches zur Kenntnis genommen hat, kann überdies seine Selbstverortung als „Kritischer Freund“ gut nachvollziehen. Es gelingt ihm, die Divergenz zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen den Erwartungen an die Medien und der Realität, begreifbar zu machen.

 

CC-BY-NC-SA
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