Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand
Dass sich der renommierte Osteuropa-Forscher Timothy Snyder genötigt sieht, dieses Buch zu schreiben, ist ein sehr schlechtes Zeichen: Es ist nicht auszuschließen, dass die USA 2017 die vorerst letzten freien Wahlen erlebt haben. Ist diese Befürchtung Snyders zu dramatisch? 1932 in Deutschland, 1946 in der Tschechoslowakei und 1990 in Russland hätten die Bürger in der Mehrheit ebenfalls nicht geglaubt, so sein Hinweis, dass sie für lange Zeit keine Möglichkeit mehr haben würden, frei zu wählen. Kurz und knapp erläutert er, woran zu erkennen ist, ob die USA Gefahr laufen, eine ähnliche Erfahrung zu machen, und was dagegen unternommen werden kann.
Dass sich der renommierte Osteuropa-Forscher Timothy Snyder genötigt sieht, dieses Buch zu schreiben, ist ein sehr schlechtes Zeichen: Es ist nicht auszuschließen, dass die USA 2017 die vorerst letzten freien Wahlen erlebt haben. Ist diese Befürchtung Snyders zu dramatisch? 1932 in Deutschland, 1946 in der Tschechoslowakei und 1990 in Russland hätten die Bürger in großer Mehrheit ebenfalls nicht geglaubt, so sein Hinweis, dass sie für lange Zeit keine Möglichkeit mehr haben würden, frei zu wählen. Woran aber ist zu erkennen, ob die USA Gefahr laufen, eine ähnliche Erfahrung zu machen? Und was kann dagegen unternommen werden?
Snyder enthält sich (fast) der Diskussion darüber, was in den USA alles so komplett schief gelaufen ist, dass ein die Demokratie verachtender Unternehmer und TV-Star zum Präsidenten gewählt wird. Zugleich wird Donald Trump in diesem Buch namentlich praktisch nicht erwähnt, denn die Lektionen, die Snyder aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts filtert, sind von grundsätzlicher Bedeutung für das Überleben einer Demokratie. Diese ist – wie aktuell in den USA – gefährdet, wenn ein Tyrann, der nach demokratischen Regeln an die Macht gekommen ist, aus eben diesen auszubrechen droht. Geschichte wiederhole sich zwar nicht, „aber wir können aus ihr lernen“ (9) – zumal Parallelen in den Vorzeichen zu erkennen seien: Auch Faschismus und Kommunismus im Europa der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts seien Reaktionen auf die Globalisierung gewesen. Die Wahl Trumps und der aktuell in Europa grassierende Rechtspopulismus werden damit als Abwehrreaktion auf eine sich weiterentwickelnde liberale Moderne charakterisiert.
Der Stoff, den es nach Snyder zu lernen gilt, sind die Strategien, die in faschistischen Systemen wiederkehrend sind, um die Macht zu bündeln und die Opposition auszuschalten. Nur wenn diese Strategien als solche erkannt und bekämpft werden, so der erkennbare Ansatz in diesem Buch, ist das politische Unglück aufzuhalten. Die erste Lektion – „Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam“ – stellt den Bürger in den Mittelpunkt, der sich nicht willfährig zum Untertanen zurückentwickeln dürfe. Als Extrembeispiel verweist Snyder auf die Deutschen und Österreicher, die sogar eigeninitativ erst die Ausgrenzung der Juden und dann den Holocaust vorantrieben. Die Hoffnung, dass es sich dabei um eine besondere nationale Charaktereigenschaft gehandelt haben könnte, habe spätestens 1961 der Psychologe Stanley Milgram mit seinem Experimenten in Gebäuden der Universität Yale widerlegt: Er „erkannte, dass Menschen in einem neuen Umfeld bemerkenswert empfänglich für neue Regeln sind. Mit überraschender Bereitwilligkeit verletzten und töten sie andere im Dienste irgendeiner neuen Sache, wenn eine neue Autorität sie dazu anhält. ‚Ich erlebte so viel Grausamkeit‘, erinnerte sich Milgram, ‚dass ich keine wirkliche Notwendigkeit mehr sah, das Experiment auch in Deutschland durchzuführen‘“. (19) Diese erste Lektion wird durch die Aufforderung „Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt“ (vierte Lektion) unmittelbar ergänzt. Im Sinne von Václav Havel, der 1978 „Von der Macht der Ohnmächtigen“ schrieb, ruft Snyder dazu auf, nicht aus Anpassungsbereitschaft oder nur Bequemlichkeit die Propaganda nachzuplappern, sondern sich ihren Symbolen und ihrem Vokabular zu verweigern. Snyder erinnert noch einmal daran, dass Trumps Slogan „America First“ unter jenen rechten Amerikanern wie Charles Lindbergh das Schlagwort war, um sich „gegen einen Krieg mit den Nazis“ (52) auszusprechen. In Lektion 9 heißt es weiter, „[s]ei freundlich zu unserer Sprache“, und in Lektion 17 ausdrücklich, „[a]chte auf gefährliche Wörter“ (99): dazu zählten Extremismus und Terrorismus, aber auch Notstand und Ausnahmezustand. Stichwortgeber für die Ausführungen hier ist der „wohl intelligenteste Nationalsozialist, der Staatsrechtler Carl Schmitt“ (100). Vorsicht sei geboten, wenn Terrorismus als Argument benutzt werde, um die Freiheit einzuschränken, oder wenn dem Extremismus diejenigen zugordnet würden, „die nicht mit dem Strom schwimmen“ (101).
Die NS-Herrschaft steht auch Pate für die zweite Lektion: „Verteidige Institutionen“ – in Deutschland habe es 1933 nicht einmal ein Jahr gedauert, um die neue Ordnung zu etablieren. Daher gelte es, sich mindestens für eine demokratische Institution – „ein Gericht, eine Zeitung, ein Gesetz, eine Gewerkschaft“ (21) – zu engagieren. Die vielen Zeitungsleser, die seit der Wahl der New York Times als Hort der Fakten und freien Meinungsäußerung ein historisches Hoch in den Abonnentenzahlen bescherten, haben diese Aufforderung bereits in die Tat umgesetzt. Ergänzend dazu lautet Lektion 8 „Setze ein Zeichen“: „Denk an Rosa Parks. In dem Augenblick, in dem du ein Zeichen setzt, ist der Bann des Status quo gebrochen, und andere werden folgen.“ (51)
Die dritte Lektion, „Hüte dich vor dem Einparteienstaat“, zielt unmittelbar auf den Wesenskern der Demokratie, ihren Pluralismus. Snyder warnt davor, dass ein Wahlsieger mit einer Mischung aus Spektakel und Unterdrückung in Salami-Taktik das System von innen heraus verändern kann. Dabei problematisiert er explizit auch die Art und Weise von Wahlkampf und Wahlen in den USA, bei denen nicht mehr jede Stimme gleich zähle. „Die seltsame amerikanische Vorstellung, Wahlkampfspenden seien Ausdruck freier Meinungsäußerung, bedeutet, dass die ganz Reichen mehr Mitsprache haben als andere Bürger und ihre Stimme damit im Grunde mehr Gewicht hat.“ (28) Neben einer Wiedereinführung der Begrenzung von Spenden plädiert er dafür, die Wahlkreisverschiebungen zu korrigieren, damit wieder jeder Bürger die gleiche Stimme hat. Außerdem sollten Wahlzettel aus Papier und die Wahlurnen nicht von außen manipulierbar sein – in den USA aber geht tatsächlich der Trend zur Stimmabgabe am Computer. Die Sorge, dass die Wahlen schleichend so manipuliert werden, dass sie nur noch scheinbar frei und keineswegs mehr gleich sind, ist unmittelbar herauszulesen.
Eine große Gefahr für die US-amerikanische Demokratie sieht Snyder gegeben, weil Trump auch als Präsident seine persönliche Sicherheitstruppe, die ihm bei seinen Wahlkampfauftritten zur Seite stand, behalten will. Lektion 6 lautet entsprechend: „Nimm dich in Acht vor Paramilitärs“. Als historische Analogie sind SA und SS zu nennen, die zu staatlich abgesegneten Institutionen aufstiegen. Snyder gibt aber auch zu bedenken, dass in den USA die Gewaltanwendung bereits jetzt in einem hohen Maße privatisiert ist, durch Söldner, die in Kriegen eingesetzt werden, sowie durch den Betrieb von privaten Gefängnissen. An diese Überlegungen schließt sich Lektion 7 an: „Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst“. Es ist der Aufruf an alle Polizisten und Soldaten, nur für den demokratischen Rechtsstaat zu handeln.
Ausgesprochen virulent für den Wahlkampf und bisher auch die Präsidentschaft von Trump ist dessen gestörtes Verhältnis zur Wahrheit und seine Vorliebe, alles Missliebige als Fake News zu bezeichnen. „Glaube an die Wahrheit“ (Lektion 10), schreibt Snyder und zitiert Victor Klemperer, der erläutert hat, dass diese auf vierfache Weise stirbt: Lügen werden als Fakten präsentiert; in einer schamanischen Beschwörung werden Lügen ebenso wie Schimpfnamen endlos wiederholt; es wird offen akzeptiert, dass sich die eigenen Versprechen widersprechen (Beispiel: Steuersenkungen bei gleichzeitigem Abbau der Staatsverschuldung); ein unangebrachter Glaube wird propagiert. „Dazu gehörten all die selbstvergötternden Behauptungen des Präsidenten, wenn er davon sprach, er allein könne etwas lösen oder ‚ich bin eure Stimme‘.“ (68) Die Antwort könne nur lauten: „Frage nach und überprüfe“ (Lektion 11), denn zu vergegenwärtigen sei: „Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus.“ (71) Zur weiteren Sensibilisierung für die Wahrnehmung, wann und wie eine Demokratie zur Diktatur werden und wie dem begegnet werden kann, empfiehlt Snyder einige Bücher zur Lektüre. Dazu zählen unter anderem Milan Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, in dem das eingeengte Dasein unter den Bedingungen der Diktatur ausgelotet wird, von Philipp Roth die jüngst vielzitierte Verschwörung gegen Amerika oder Harry Potter und die Heiligtümer des Todes von J. K. Rowling, in dem die Macht derjenigen gefeiert wird, die gegen den, der das Böse personifiziert, zusammenstehen. Zu den weiteren von Snyder genannten Titel zählen etwa LTI von Victor Klemperer, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von Hannah Arendt, Ein Jahrhundert wird abgewählt von Timothy Gaton Ash oder Ganz normale Männer von Christopher Browning. Christen könnten zudem einen Blick in die Bibel werfen, in der Bescheidenheit und Wahrheit angemahnt würden.
Auch die weiteren Lektionen zielen ausdrücklich auf die Handlungsmöglichkeiten des Bürgers ab – man sollte über sein Umfeld Bescheid wissen, persönliche Kontakte pflegen, sich für einen guten Zweck engagieren, Gleichgesinnte aus anderen Ländern kennenlernen und an Demonstrationen teilnehmen. Als ein Beispiel für deren Erfolgsaussichten wird die Solidarność genannt, die maßgeblich am Einsturz des Kommunismus beteiligt war. So mutig wie möglich zu sein (Lektion 20) und gleichzeitig einen Pass zu besitzen, stehen hier nicht im Widerspruch.
Wie ist der Westen an diesen Punkt geraten, an dem demokratiefeindliche Kräfte seine Freiheit wieder infrage stellen können? Mit dieser Frage beschäftigt sich Snyder im Epilog: Als die „scheinbar fernen Traumata des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus [...] in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden“ schienen, hätten wir uns erlaubt, „die Politik der Unausweichlichkeit zu akzeptieren, das Gefühl, Geschichte könne sich nur in eine Richtung bewegen: in Richtung liberaler Demokratie“ (118) Aber es habe kein Ende der Geschichte gegeben, mit der Politik der Unausweichlichkeit hätten wir uns nur in „ein intellektuelles Koma“ (119) versetzt mit der Folge, so Snyder unter Hinweis auf Zygmunt Bauman, dass sich die Art und Weise, wie wir über Politik redeten, verengt habe. Probleme durch den gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Wandel unter dem Eindruck der Globalisierung blieben demnach unbearbeitet. Diese Leerstelle sei gefüllt worden durch die „zweite antihistorische Art, die Vergangenheit zu betrachten“, durch die „Politik der Ewigkeit“ (121), die jetzt von Nationalpopulisten propagiert werde. Ein Beispiel seien die Brexit-Befürworter, die von einem britischen Nationalstaat träumten, der so nie existiert habe, oder der Front National, der Wähler dränge, „Europa im Namen eines imaginären französischen Nationalstaates der Vorkriegszeit abzulehnen“ (122). Die unmittelbare Zukunft sieht entsprechend düster aus, befürchtet Snyder: „Die Gefahr, vor der wir jetzt stehen, ist ein Übergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit, von einer naiven und mangelhaften Form von demokratischer Republik zu einer konfusen und zynischen Form der faschistischen Oligarchie.“ (124)
Um das zu verhindern, hat Snyder diese zwanzig Lektionen formuliert, denn, wie gesagt, „Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen“ (9).
Repräsentation und Parlamentarismus
Medienschau
Ian Buruma
Beleidigungen für Demokraten, Lob für Diktatoren
Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 13. Juli 2018
David Remnick
Donald Trump and the Stress Test of Liberal Democracy
The New Yorker, Kommentar, 19. März 2018
David A. Graham
Trump Thought the Rules Didn’t Apply – and Now He’s Paying the Price. The Trump administration decided early on that many guidelines were either antiquated or punitive, and is belatedly discovering that they were there for its own protection
The Atlantic, 28. Februar 2018
Aus der Annotierten Bibliografie
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