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Rezension / 12.06.2017

Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Über das Fortleben nationalsozialistischer Leitmotive

Hamburg, Hamburger Edition 2017

Es geht in dieser historisch-politischen Intervention des Zeithistorikers Michael Wildt um eine problembewusste und perspektivenreiche Präzisierung des Begriffs „Volk“ – insbesondere in Verbindung mit dem nationalsozialistisch infizierten Kampfbegriff „Volksgemeinschaft“ – und die Frage, wie beide in den programmatischen Positionen der AfD leitmotivisch zu politischer Geltung gebracht werden. Auslöser für die Analyse ist die rasante, für demokratisch gesinnte Politiker und Bürger unbehagliche und für viele andere attraktiv erscheinende Ausbreitung populistischer Parteien oder Bewegungen in Europa.

Es geht in dieser „historisch-politische[n] Intervention“ (12) des renommierten Zeithistorikers und NS-Forschers Michael Wildt um eine problembewusste und perspektivenreiche Präzisierung des Begriffs „Volk“ – insbesondere in Verbindung mit dem nationalsozialistisch infizierten Kampfbegriff „Volksgemeinschaft“ – und die Frage, wie beide in den programmatischen Positionen der AfD leitmotivisch zu politischer Geltung gebracht werden. Der Autor sieht sich durch die rasante, für demokratisch gesinnte Politiker und Bürger unbehagliche und für viele andere attraktiv erscheinende Ausbreitung populistischer Parteien oder Bewegungen in Europa veranlasst, sich kritisch mit dem „Konstrukt“ (Luhmann) ‚Volk‘ auseinanderzusetzen.

Den Einstieg in das Thema bietet Wildt die von den Pegida-Demonstranten in Dresden Woche für Woche gebetsmühlenartig skandierte Parole „Wir sind das Volk“. Doch, so fragt er zu Recht: „Wer ist das Volk?“ (7) Noch viel interessanter ist freilich die Frage, wer zum ‚Volk‘ eigentlich gehört. Damit ist das Leitmotiv des Wildt'schen Problemaufrisses angesprochen: das Instrumentalisierungspotenzial des Begriffs ‚Volk‘, das sich konkretisiert in einer Uneinheitlichkeit des empirisch fassbaren Verwendungszusammenhangs, die zusammenhängt mit einer Deutungsverschiebung der Begrifflichkeit in die Nähe einer Zeit, in der unermessliches Leid irreversiblen Schaden in Deutschland und in Europa angerichtet hat. Vor allem im 20. Jahrhundert wird das Volk biopolitisch, eben rassistisch definiert, kulminierend in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“, die „Exklusion und Ermordung von ‚Gemeinschaftsfremden‘, ‚Fremdvölkischen‘ zur Konsequenz hatte“ (10 f.).

In einer geistesgeschichtlichen Tour d'Horizon kristallisiert Wildt evident heraus, dass die Bestimmung von ‚Volk‘ schon immer einen segregationistischen Charakter aufgewiesen hat. Der demos der griechischen poleis umfasste lediglich die Vollbürger; Sklaven und Frauen waren von der Teilhabe an den politischen Geschäften ausgeschlossen. In der Moderne wurde zum Beispiel im US-amerikanischen Verfassungssystem Sklaven, Frauen und den indigenen Bewohnern von vornherein der Zugang zur politischen Teilhabe verwehrt. Und der Revolutionär Robespierre hat in den Vertretern des morschen und verderbten ancien régime „für die Republik nichts als Fremdlinge oder vielmehr Feinde“ (35) gesehen und so den terreur als Mittel zur Entledigung einer tyrannischen Herrschaft gerechtfertigt. Die Definition dessen, was das ‚Volk‘ eigentlich ist und wer darunter fällt und wie es zu realisieren ist, blieb permanenten Wandlungen unterzogen. ‚Volk‘ war nie einheitlich. Erst die Einführung der Homogenisierungskonstante als alleinigen Bestimmungsgrund von ‚Volk‘ im Rahmen der Nationswerdung im 19. Jahrhundert mit ihren inhärenten und intendierten Ideologisierungs- und Exklusivitätspotenzialen hat die klassische Theorie von der Zentralität des Volkes als alleinigem Inhaber der Souveränität eines politischen Gemeinwesens ausgehebelt. Hier tritt nun die „Biopolitik“ (Foucault) auf den Plan, die ihr mörderisches Unwesen getrieben hat, weil hier rassistische Überzeugungen nicht nur den Exklusionsfuror auf die Spitze getrieben haben, sondern auch die Einzigartigkeit und Überlegenheit der eigenen ‚Rasse‘ mittels etato-extremistischer Maßnahmen in die Praxis umsetzten, wie der Autor erläutert.

Nirgends ist dies deutlicher in Gang gesetzt worden als im Nationalsozialismus, in dem der Begriff der „Volksgemeinschaft“, der ja in der Weimarer Republik bereits in fast allen politischen Lagern hoffähig war (58-65), in rassistischem Sinne umgeprägt worden ist mit der furchtbaren Konsequenz der Ermordung von Juden, Sinti und Roma, körperlich und geistig Behinderten und anderen, das heißt von allen „Gemeinschaftsfremde[n]“, die nicht „deutschen Bluts“ waren, somit auch nicht „Volksgenossen“ (66) beziehungsweise Staatsbürger sein konnten und durften. Im völkischen Bezugsrahmen gibt es keine Freiheits- und Gleichheitsrechte der Individuen; sondern die organisch-biologistische Vorstellung vom „Volkskörper“, formelhaft perhorresziert in dem Imperativ „Du bist nichts, das Volk ist alles“, entsprach dem unbedingten Willen des Systems, der mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollte. Damit nimmt Wildt in der seit einiger Zeit schon laufenden Diskussion über den Stellenwert der „Volksgemeinschaft“ – ein ideologisches Konstrukt mit relativer empirischer Belegbarkeit – klar eine „akteurszentrierte[.] praxeologische[.] Perspektive ein“, um diese „als ständig neu herzustellende Praxis der ‚Vergemeinschaftung‘ im nationalsozialistischen Sinne aufzufassen“ (80 f.). Eine Radikalisierung des Volksgemeinschaftskonzepts erfolgte im Kriege, was der Autor mit den Ausdrücken „Opfer- und Raubgemeinschaft“ (nach Sven Keller, 86) charakterisiert.

Für die AfD ist diese Reverenz an das ‚Volk‘ und die ‚Volksgemeinschaft‘ eine amorphe Protesthaltung gegenüber einer dem ‚Volk‘ entfremdeten und korrupten Politikerkaste und anderer Eliten aus Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur, die – insbesondere die Medien – den Kontakt zu den Bürgern, ihren Vorstellungen und Bedürfnissen verloren hätten. Wildt stellt fest, dass diese populistische Partei das Prinzip der Volkssouveränität wieder in den Vordergrund gerückt hat, Aversionen bestehen gegenüber einer Repräsentativverfassung, dem Parlamentarismus und den Parteien. In Anlehnung an Carl Schmitt basiert der Staat demnach nicht auf Kontrakt, sondern auf Homogenität. Migration und Gewährung von Asyl für Flüchtlinge aus anderen Kulturkreisen verbietet sich daher von selbst. In Analogie zum Nationalsozialismus bleibt das Abstammungskriterium das einzige, wonach bestimmt werden kann, wer zum Volk gehört. Die Zugehörigkeit zum Volk wird in der AfD nicht mehr verfassungsrechtlich, sondern ethnisch und kulturell determiniert – Leitkultur ist die Tradition des christlichen Abendlandes. Wildt beobachtet, wie völkische Ideologeme wieder salonfähig gemacht werden sollen, indem diese vom nationalsozialistischen Verwendungszusammenhang gelöst werden. Damit stehe einer Art ‚keimfreier‘ Restituierung dieser Begrifflichkeit für die politische Instrumentalisierung nichts mehr im Wege – eine Taktik, die die Realität bewusst verfälsche. Dabei beruhe in Wahrheit die Verwendung von ‚Volk‘ bei der AfD auf Exklusion. Wildt beschließt dieses Kapitel mit der Bemerkung, dass die AfD, die sich ihrem Selbstanspruch gemäß als „Partei des gesunden Menschenverstandes“ präsentiere, nicht weit davon entfernt sei, „eine ‚Partei des gesunden Volksempfindens‘ zu werden“ (120).

Als Kontrapunkt setzt Wildt in seinem „Ausblick“ gegen die exkludierende „Wir-sind-das-Volk“-Parole die einer aufgeklärten Demokratie gemäße „Alle-sind-das-Volk“-Formel (so Angela Merkel am 3. Oktober 2016, 121, 139). Wildt fordert eine „offensive Auseinandersetzung mit Forderungen, dass bestimmte Gruppen nicht zum deutschen [...] etc. Volk gehören sollen“ (125). Wer vom souveränen Volk, von der „konstituierenden Gewalt des Volkes“ spreche, sollte nicht nur die „triumphalen“, sondern zwingend auch die „furchterregenden“ (134) Formen bedenken. Als Konsequenz sieht Wildt in Mischformen demokratischer Verfahren sowie in der Beherztheit zu einem „demokratischen Experimentalismus“ (nach Brunkhorst) eine Lösungsmöglichkeit der Entzerrung der Spannungen zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Er bietet die Autorität Hannah Arendt auf, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, nämlich, „‚dass es so etwas gibt wie das Recht, Rechte zu haben‘“ (140, auch schon in der Einleitung, 13).

 

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