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Rezension / 08.05.2017

Harald Schoen / Bernhard Weßels (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013

Wiesbaden, Springer VS 2016

Mit den „Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013“ sind die traditionell Blauen Bände nun zum zehnten Mal erschienen, erneut herausgegeben von den Politikwissenschaftlern Harald Schoen und Bernhard Weßels. In mehr als zwanzig Beiträgen werden das Wahlverhalten, die Koalitionspräferenzen der Parteien sowie Gründe für die Nichtwahl und Fragen des strategischen Wählens analysiert. Für Eckhard Jesse stellt der Band wieder eine wahre Fundgrube an instruktiven Erkenntnissen und Thesen dar, die weit über die Bundestagswahl 2013 hinausreichen.

Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann machten 1983 mit den „Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1980“, so der Untertitel, den Anfang. Nun sind die traditionell Blauen Bände mit den „Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013“ zum zehnten Mal erschienen, erneut herausgegeben von den Politikwissenschaftlern Harald Schoen (Mannheim) und Bernhard Weßels (Berlin). Wie leider fast immer: erst kurz vor der nächsten Bundestagswahl. Muss das wirklich immer so spät sein? Unabhängig davon: Diese Kontinuität, einen voluminösen Band für die Scientific Community mit sehr vielen renommierten Forscher*innen (zum Beispiel Marc Debus, Florian Grotz, Markus Klein und Susumu Shikano) Wahl für Wahl zu publizieren, verdient hohe Anerkennung.

Der Band umfasst – aus der Feder von 39 Autorinnen und Autoren – acht Beiträge im ersten Teil („Analyse der Bundestagswahl 2013“), neun im zweiten („Analysen aus Anlass der Bundestagswahl“) und fünf im dritten („Internationale Trends und internationaler Vergleich“), wobei die Teile 1 und 2 dabei nicht trennscharf voneinander abgegrenzt sind. Die zentrale Abhandlung der Herausgeber präsentiert, wie fast jedes Mal, eine Analyse der letzten Bundestagswahl. Bei der Beantwortung der Frage, ob die Bundestagswahl 2013 eine Zäsur im Wahlverhalten und im Parteiensystem bedeutet, sind Schoen und Weßels vorsichtig. Sie ziehen sich mit der Aussage aus der Affäre, es gebe eine „Kontinuität des Wandels“ – mit Blick auf die „zunehmende Flexibilisierung des Wahlverhaltens und Ausweitung des politischen Angebots“ (17).

Über die Nichtwähler*innen herrscht weithin Konsens. Armin Schäfer, Hanna Schwander und Philip Manow weisen auf die „ausgeprägte soziale Determiniertheit der Wahlbeteiligung“ (38) hin. Auch Martin Elff und Sigrid Roßteutscher belegen detailliert die „Nichtwahl-Neigung unter Arbeitern seit den 1990er Jahren“ (65). Bei allen Landtagswahlen 2016 ist jedoch die Beteiligungsquote deutlich gestiegen. Nach Kai Arzheimer, der ein „Interaktionsmodell“, ein „Kompositionsmodell“ und ein „Residualmodell“ für seine Untersuchung vergleicht, geht die um fast fünf Prozentpunkte niedrigere Wahlbeteiligung im Osten des Landes auf die geringere Zufriedenheit mit der praktizierten Demokratie, das schwächere Interesse für Politik, das geringe Ausmaß an Parteiidentifikation sowie den leicht niedrigen Anteil an formal Hochgebildeten zurück. Es wird eine der aufschlussreichsten Fragen sein, ob bei der Bundestagswahl 2017 die Wahlbeteiligung deutlich steigt und – wenn ja – wem dies zugute kommt.

Evelyn Bytzek analysiert die Rolle von Koalitionspräferenzen bei der Bundestagswahl 2013. In der Vergangenheit wirkte sich die vor der Bundestagswahl verlautbarte Präferenz für Schwarz-Gelb günstig für die FDP aus. Dies war die bevorzugte Koalitionsvariante bei den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl. Nach der Wahl (durch das Ausscheiden der FDP aus dem Parlament) trat Schwarz-Rot an die Stelle von Schwarz-Gelb. Die Unbeliebtheit der „Jamaika“-Koalition (Union, Grüne, FDP) oder der „Senegal“-Koalition (SPD, Grüne, FDP) könnte nach Meinung der Autorin auf die Vielzahl der Koalitionspartner zurückzuführen sein. Wahrscheinlich spielt auch eine beträchtliche Rolle, dass die Parteien unterschiedlichen Lagern angehören. Die Autorin hält das Zustandekommen des Wechsels von Koalitionspräferenzen für ein Desideratum der Forschung.

Joachim Behnke untersucht Anreize für strategisches Wählen unter dem neuen Wahlgesetz mit Blick auf Erst- und Zweitstimme. Wie der Autor zeigen kann, kommt ein Teil der FDP-Wähler*innen aus dem Lager der Union. Womöglich habe dadurch die Union die absolute Mehrheit der Mandate nicht erreicht. Viele „Strategie-Wähler“ glaubten irrtümlicherweise, dadurch ein „doppeltes Stimmgewicht“ zu haben. Behnke plädiert deswegen dafür, das Wahlsystem transparenter zu gestalten. Ohne dass er es eigens ausspricht: Gemeint könnte damit die Rückkehr zum Einstimmensystem von 1949 sein. Der Rezensent pflichtet dem Autor bei. Das jetzige Wahlsystem, auch durch die Kompensation von Überhangmandaten, ist schwer verständlich.

Dieser Band stellt wieder eine wahre Fundgrube an instruktiven Erkenntnissen und Thesen dar, weit über die Bundestagswahl 2013 hinaus. Die hiesige Forschung muss sich im internationalen Vergleich nicht verstecken. Das belegt auch ein derartiger Band, wiewohl manch ein Beitrag an „Methodenhuberei“ grenzt. Zum ersten Mal präsentieren Autoren zu ihren Beiträgen „Replikationsmaterialien“ auf der Internetpräsenz des Verlages. Das ist im Interesse größerer Transparenz verdienstvoll. Sympathisch mutet das Diktum am Ende vieler Beiträge an, noch wisse die Forschung wenig über diesen und jenen Sachverhalt, sodass weitere Forschung nötig sei. Offene Fragen kommen dabei zur Sprache. „Der“ Wählerwille ist unberechenbar, und daher wird die Wahlforschung niemals mit letzter Sicherheit alle Fragen zu klären vermögen. Das ist gut so, denn das geheime Wahlrecht soll nicht angetastet werden.

Wer etwas an „Wahlen und Wähler“ bemängeln will, kann Anstoß daran nehmen, dass die Analyse des Wahlverhaltens klar dominiert und die Analyse des Parteiensystems sowie der Koalitionspolitik etwas zu kurz kommt. So wirkt das jeweilige Parteiengefüge und Koalitionsszenario auf das Wahlverhalten zurück. Ein offenes Plädoyer für Rot-Rot-Grün im Vorfeld der Wahl kann dazu führen, dass ein Teil der SPD- und der Grünen-Anhänger dann anders votiert, weil ein solches Bündnis als unerwünscht gilt. Bei den Wahlen seit 1998 erhielten

SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS beziehungsweise Die Linke mehr Mandate als Union und FDP (mit Ausnahme von 2009). Vielleicht kam ein solches Ergebnis auch durch die strikte Ablehnung der SPD zustande, mit den Postkommunisten eine Koalition einzugehen.

 

CC-BY-NC-SA
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